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•
Franz Kafkas Tierfiguren
Es gibt einen Pluralismus toleranter Interpretationen
Heute gilt, dass ein literarischer Text
wie ▪ Franz
Kafkas ▪
"Kleine Fabel"
keine fest umrissene Bedeutung besitzt. Der in den "Daten" eines Textes
verborgene Textsinn lässt sich nämlich auch bei bestem Willen im Text
nicht finden, denn "welchen Sinn, welche Bedeutung man mit literarischen
Texten verbindet, ist ... eine Entscheidung, die der Interpret fällt." (Horst
Steinmetz 1995, S.475). Dementsprechend sind auch alle derartigen Interpretationsansätze
legitim, ohne jedoch auch
gleichermaßen überzeugend oder
schlüssig zu
sein. Ein • Kurzüberblick über die populärsten
Interpretationsansätze kann dies verdeutlichen.
Der
Pluralismus toleranter Interpretationen schließt auch ein, dass, vor
allem bei •
modernen Parabeln, sich nicht
alle Elemente des Bildbereichs einer widerspruchsfreien Übertragung und
einem globalen (Gesamt-)Sinn des
Sachbereichs fügen müssen, wenn der Text keinerlei
Sinnversprechen geben kann und will. Nicht immer lassen sich in
derartigen Texten die diese als Gattung konstituierenden •
impliziten Textsignale entnehmen und oft befindet sich auch der
Strukturzusammenhang von •
Bild- und Sachbereich in Auflösung.
Wenn bei der modernen Parabel die Bezugsrahmen von Bild- und
Sachbereich nicht mehr auf einem von Erzähler und Leser im Wesentlichen
geteilten, geschlossenen und konsistenten Menschen- und Weltbild beruhen und sich dieses Faktum auch in beiden Bereichen zeigt, muss auch die
▪
schulische Interpretation von Parabeln
sehr "offen" gestaltet werden.
Unter literaturdidaktischen Aspekten betrachtet kann dabei der
Zugang über das Gattungswissen auch bei
▪ Franz
Kafkas ▪
"Kleine Fabel" durchaus
fruchtbar sein, wenn die Irritationen, die die Titelgebung durch
Kafkas Freund und Herausgeber »Max Brod
(1884-1968) erzeugt, auch unter dem Blickwinkel von •
Max Brods Editionspolitik der Fragmente
Kafkas überwunden werden.
Zudem können zum Vergleich unterschiedliche Texte,
die zur weiteren
Textsortenverwandtschaft zählen,
herangezogen werden, um das eigenständige
Generieren von
(Familien-)Ähnlichkeiten
zu ermöglichen. Das gilt auch für den Vergleich mit Texten Kafkas,
die gemeinhin als • "gute"
Vertreter der Gattung gelten (vgl.
Zymner
2010, S.456)

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Engels (2010)
•
Ansatz einer historisch-hermeneutischen Literaturwissenschaft
(ebd.,
S.425) verzichtet auf der Grundlage seines
• Lektüremodells des absoluten Bildes darauf,
sich auf einen bestimmten Interpretationsansatz festzulegen, der
dann mit mehr oder weniger überzeugenden
Kotexten und Kontexten
unter Vernachlässigung anderer Aspekte durchgezogen wird.
Stattdessen greift er bestimmte Textelemente auf – er
bezeichnet sie als Codes –, die Kafkas Texte einzeltextübergreifend kennzeichnen und
auch in den verschiedenen gängigen Interpretationsansätzen eine
tragende Rolle spielen.
Engel unterscheidet sechs solcher Codes, die
in den einzelnen Texten in verschiedener Weise z. b. als dominierend
oder nicht, auftreten können:

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Statt einen dieser Codes, wie es die gängigen
Interpretationsansätze zu tun pflegen, zu einer Art "Supercode" zu
erklären, geht es in Engels Lektüremodell darum,
die auf der
Textoberfläche erkennbaren Hierarchien der in einem Text vorhandenen
Codes zu erfassen, Dominanzen zu beschreiben und davon ausgehend
Entscheidungen darüber zu treffen, "wie die textspezifischen Codes
und ihre textspezifische Relation im Einzelnen zu deuten ist."
(ebd.,
S.426)
Wenn
man sich mit der Interpretation von
Kafkas
Kleiner Fabel
befasst, versucht man bis heute, wie
Nayhauss
(2006, S.60) betont, einen "artistischen Drahtseilakt".
Dieses
Kunststück aufzuführen, den vorhandenen Interpretationen namhafter
Literaturwissenschaftler eine weitere Interpretation für den Schulgebrauch
hinzuzufügen, die den Anspruch einer "geschlossenen" Deutung erheben könnte,
soll hier nicht versucht werden.
Stattdessen sollen Aspekte der
Interpretation zur Sprache kommen, die in z. T. sehr unterschiedlichen
"Drahtseilakten" vorkommen und verschiedene Zugänge zu Kafkas Prosatext
deutlich machen.
Der literaturwissenschaftliche und auch literaturdidaktisch
am meisten
begangene Zugang zur Kleinen Fabel ging und geht über die von Max
Brod vorgegebene Gattungsbezeichnung, die sich im Titel des Textes wiederfindet.
Warum
»Max Brod
(1884-1968), der Freund und Herausgeber der Werke
Franz Kafkas (1883-1924),
dem Text, der wohl um 1920 entstanden ist, den
Titel Kleine Fabel
gegeben hat, ist im Konxtext seiner •
Editionspolitik der Fragmente Kafkas immer wieder Gegenstand von Untersuchungen und
Spekulationen gewesen.
Dabei hat der Herausgeber sich dabei durchaus in seinem
editorischen Ermessenspielraum bewegt (vgl.
Allemann 1975/1998, S.134), aber Kafka selbst hätte, so kann man
offenbar aus den von ihm selbst publizierten Texten schließen, "auf
Eselsbrücken dieser Art verzichtet". (ebd.)
Die Hinzufügung dieses Titels wirkt für die Rezeption des Textes suggestiv
und lenkt den Leser von Anfang an darauf, die Geschichte auf der Grundlage
seines
Textmusterwissens zur
Literaturgattung
▪
Fabel zu lesen. Dass Brod das Adjektiv "klein" in den Titel eingebaut
hat, soll allem Anschein nach nicht auf ihre besondere Kürze verweisen, weil
Kürze für die Fabel als
epische Kleinform
ja ohnehin kennzeichnend ist. Stattdessen soll das Attribut wohl
"a priori einen ironischen Akzent setzen." (ebd.)
So ist es aus der Perspektive eines im Umgang mit der Gattung Fabel
"kompetenten" Leser betrachtet, durchaus eine übereifrig und "voreilig
vorgenommene Ironisierung" (vgl.
ebd.), die
einer, zumindest zu Beginn des Leseprozesses, textmustergetreuen Rezeption
entgegensteht. Sie legt nämlich nahe, dieses Muster im vorliegenden Text
nicht absolut ernst zu nehmen. Aber damit zu behaupten, dass der Text Kafkas
mit diesem Titel "zerstört" (ebd.)
werde, geht doch sehr weit.
In jedem Fall scheint Brod mit seinem Titel
versucht zu haben, ein "Überraschungsmoment" (Schlingmann
1995a, S.131) zu setzen, damit die Katze erst am Ende in den Blick des
Lesers gerät. Stünden nämlich, so fährt er fort, wie bei Fabeln üblich, "Die
Katze und die Maus" im Titel, wäre damit "ein Teil der beklemmenden
Wirkung", die dadurch entsteht, dass die Katze erst am Schluss erwähnt wird,
abgeschwächt worden.
Dass Kafkas Text zwar zunächst wie eine Fabel rezipiert werden kann, aber
letzten Endes keine
▪
Fabel darstellt, hat Karl-Heinz
Fingerhut
(1969, S.171f.) betont. Sie sei vielmehr eine
Parabel, weil sie nicht wie
in einer Fabel üblich davon berichte, "wie es in der Welt zugeht, d. h. von
Zuständen im zwischenmenschlichen Bereich", sondern "ein in Handlung
umgesetztes Beispiel des menschlichen Lebenslaufs" darstelle, das die
"universelle Determiniertheit der Existenz" ausdrücke.
Interpretationen, die von der Titelgebung des Textes von Franz Kafka
ausgehen, sind indessen heutzutage nicht mehr unbedingt en vogue,
entsprechen nicht mehr den Prämissen, unter denen die moderne
Kafka-Forschung den Text zu fassen versucht. • Literaturdidaktisch
ist in jedem Fall ein kritischer Umgang mit Max Brods Titelgebung nötig,
um die "poetisch-produktive Ironisierung des Fabel-Prinzips durch Kafka" (Allemann 1975/1998,
S.147), auch über die Strukturen des Textes zur Wirkung kommen zu lassen.
Für die Neuausrichtung der
Interpretation sind dabei vor allem Erkenntnisse über die •
Bedeutung des
jüdischen Hintergrundes in Kafkas Werk verantwortlich. (vgl.
Nayhauss
2006, S.62) Erst dieser Ansatz habe von dem interpretatorischen Irrweg
"erlöst" (ebd.), den "Generationen von Interpreten" gegangen seien, weil sie
der irreführenden Titelgebung Kleine Fabel durch Max Brod
buchstäblich auf den Leim gegangen sind.
Jemandem, der traditionelle Fabeln kennt, ist die Ausgangssituation des
Textes vertraut. Wie sonst auch üblich werden die beiden Tierfiguren ohne
weitere Beschreibung eingeführt: • Maus und Katze, zwei Figuren, die von
vornherein auf bestimmte Charaktereigenschaften festgelegt sind und die, in
der Konfrontation miteinander, die Maus von Anfang an als Opfer der Katze
erscheinen lässt.
Was
sich zwischen den beiden abspielt, scheint bis auf die Tatsache, dass die
Katze am Ende die Maus frisst, wie ein Dialog ungleicher Kontrahenten, ganz
so, wie es ein mit Fabeln vertrauter Leser erwartet.
Sieht man indessen
etwas genauer hin, so zeigt sich schon von Beginn an, dass die Äußerung, die
die Maus macht, an keinen bestimmten Adressaten gerichtet ist. Die Klage,
die sie anhebt, ist "letztlich monologisch" (Nayhauss
1974, S.242f.), stellt eine Art "selbstgespräch mit dem fixierten sich
permanent fixierenden eigenen bewusstsein [sic!]" (ebd.)
dar. Auch das, was die Katze sagt, ist
"für sich aus persönlichem nutzen, egoistisch, ohne bezugnahme auf etwas
intersubjektiv verbindliches [sic!]" gesprochen und "allein den absichten
und zwecken des persönlichen bewusstseins verhaftet [sic!]".
Müller (1994/2003a, S.374) sieht dies hingegen anders und
betont, dass man sich die Katze "von Anfang an als Ansprechpartnerin der
Maus präsent vorstellen" müsse.
In zwei Sätzen, darunter einem längeren Satzgefüge, trägt die Maus in diesem
"Schein-Dialog" (Allemann
1975/1998, S.141) zu Beginn ihre Klage, die also "an eine unbestimmte
Instanz gerichtet (ist)" (Schlingmann
1968/1976, S.132) mit einem für tiefes Bedauern stehenden "Ach" vor.
Sie
äußert sich darin zunächst einmal ganz allgemein über den Zustand der Welt,
die sie als mit jedem Tag enger werdend beschreibt. Im Rückblick erinnert
sie sich im zweiten Satz, "der ein Musterbeispiel poetischer Abbreviatur
darstellt" (Allemann
1975/1998, S.131), daran, dass dies früher anders gewesen ist, als sie
noch "so breit" " war" (Z
1). Dabei weiß sie sich daran zu erinnern, dass ihr diese Weite der Welt
seinerzeit "Angst" (Z
2) bereitet hat. Ohne den Ausgangspunkt oder den Zeitpunkt zu nennen, zu
dem sie mit dem Laufen angefangen hat, erklärt sie: "ich lief weiter" (Z
3), wobei sie offen lässt, wohin sie letzten Endes gelaufen ist. Nur die
Tatsache, dass sie "endlich" (Z
2) und "in der Ferne" (Z
3) "Mauern sah" (Z
4), die ihren Ängsten offensichtlich ein Ende setzten und sie
"glücklich" (Z
2) machten, lässt vermuten, dass sie ihren Ängsten, gekoppelt an eine
diffuse und keinen wirklichen Platz in der Welt zuordnende räumliche
Erfahrung, entkommen will. Dabei tut sie dies, ohne eine Vorstellung darüber
zu äußern, was sie sucht und was sie andernorts erwartet. Indem sie sich in
einem zeitlichen Kontinuum, über dessen Anfang, Ende und Dauer keine Angaben
gemacht werden, bewegt, "immer weiter lief" (Z
1), wie sie selbst sagt, verändert sich die Wahrnehmung des surreal
wirkenden Raumes, in
dem dieses Laufen stattfindet. Nach der im übrigen konturlosen, aber gerade
deshalb angstbesetzten Weite, empfindet sie beim Auftauchen von Mauern,
rechts und links in der Ferne, Erleichterung. In dem Moment freilich, indem
ihr die Erleichterung, die sie beim erstmaligen Auftauchen der Mauern in der
Ferne verspürt hat, bewusst wird, sieht sie die "langen Mauern" (Z
2) aber schon "so schnell aufeinander zu(eilen)" (Z
3), dass sie sich "schon im letzten Zimmer" (Z
3) befindet.
Die adverbiale Bestimmung "so schnell", die in die einzige
Metapher der Kleinen Fabel eingefügt ist, betont dabei noch einmal
die subjektive Wahrnehmung von Zeit und Raum durch die Maus. Raum und Zeit
schnurren, wie
Schlingmann
1995a, S.133) formuliert, förmlich zusammen.
Die Mauern
selbst, so sieht es
Allemann 1975/1998, S.131), werden, "was immer sie »eigentlich« bedeuten
mögen, zu Chiffren des Welten-Laufs überhaupt, der zudem in unmittelbarster
Interdependenz mit dem (Lebens-)Lauf der Maus steht." (Hervorh. d.
Verf.) Diese Sehweise sei für
Kafka typisch. Sie nehme in der Bewegung die Objekte, an denen sie
ausgeführt werde, quasi mit sich mit, so dass "der Effekt einer
stillstehenden Bewegung bzw. eines bewegten Stillstands eintritt." (ebd.,
S.131, Anmerkung 11, S.148f.)
In Kafkas Kleiner Fabel wird dieses
Paradoxon zur ästhetischen Erfahrung des Lesers und ist Teil der insgesamt
verfremdet wirkenden Situation. Die Maus läuft um ihr Leben, das ist die seit
Sokel (1964,
S.22) am weitesten verbreite Deutungshypothese.
Allerdings
erhält sie, unterstreicht
Müller (1994/2003a, S.379), von der Katze die Antwort auf ihre
"implizit gestellte Frage ›Wie kann ich nur dem Tod entgehen?‹ [...] erst,
als es schon zu spät ist, als die Maus zwar noch ein wenig von der Falle
entfernt, aber schon in ihren Einflußbereich geraten ist. Genauer: Die Maus
fragt zu spät, sie hätte sich schon nach dem ›rechten‹ oder ›wahren‹ Weg
erkundigen müssen, als in der Ferne die Mauern vor ihr auftauchten. Aber
auch damals hätte sie sich wohl besser in ihrer Not nicht einer Katze
anvertraut. Am besten hätte sie zuerst einmal bei sich selbst die Antwort
auf die Frage nach dem rechten Weg gesucht. Kleine Fabel zeigt, wie
gefährlich es sein kann, sich einem Fremden anheimzugeben. Der mag einem
sogar eine vernünftige Lösung für das Problem anbieten, das man scheinbar
nicht alleine zu bewältigen vermag, einem aber, indem er vor Schlimmen
bewahrt, ebenso Schlimmes oder noch Schlimmeres antun "
Dabei spielt
auch in der Kleinen Fabel "die erzählerische Entfaltung der Räume
durch die an die Figuren gebundenen Perspektiven und die damit
zusammenhängende Desorientierung" (Andringa
2008, S.333, Hervorh. d. Verf.) die entscheidende Rolle.
Die dargestellte Welt entfernt
sich dabei von jeder konkreten Raumvorstellung und macht sie damit
"sowohl räumlich als auch zeitlich gleichsam unlokalisierbar" (ebd.).
So sind wohl auch die in der Kleinen Fabel erwähnten Raumelemente
(Welt, Weite, Ferne, lange Mauern, letztes Zimmer, dort im Winkel und die
Falle) keineswegs Objekte, die einen Raum situieren, denn, "was zunächst
bloß als ein perspektivischer Effekt nach dem optischen Gesetz der
Fluchtlinien vom momentanen Blickpunkt der Maus her interpretiert werden
könnte, das Zusammenlaufen der Mauern in einem Fluchtpunkt, erweist sich als
die reale Existenz-Perspektive der Maus und der Fluchtpunkt als die
Todesfalle, in die sie läuft." (Allemann
1975/1998, S.131)
Mit seiner "verfremdend-reduzierten Dichtungsweise" (ebd.;
S.146) wird von Kafka damit "auf kürzestem Weg eine
Grenzsituation erreicht"
(ebd., S.131)
Am
Ende ihres Laufs ist die Maus in dem "letzten Zimmer" (Z
4) angelangt, wo "in einem Winkel" "die Falle steht" (Z
4), in die die Maus unweigerlich laufen (wird). Die Maus kann dieser
Falle aus ihrer Sicht der Dinge nicht entgehen, und das ist, im Bild ihres (Lebens-)Laufs
gesehen, auch nicht zu ändern.
Dies wird durch die Aussage der Katze, die,
wie eingangs schon erwähnt, nur
scheinbar eine Antwort auf die Äußerung der Maus gibt, in zynischer Weise
ironisch kommentiert, "indem sie die Klage der Maus zweifach Lügen zu
strafen scheint - erst verbal und dann auch noch faktisch, durch das
pointierte Auffressen der Maus" (Allemann
1975/1998, S.137).
Es ist insbesondere die Äußerung der Katze "Du musst
nur die Laufrichtung ändern" (Z
5, Hervorh. d. Verf.), die "den Text im ganzen rückwirkend färbt und nochmals in ein
anderes Licht rückt." (Allemann
1975/1998, S.138)
Dass die Katze in diesem Zusammenhang so von einer
"Laufrichtung" spricht, wie man das im alltäglichen Sprachgebrauch auch tut,
und dies entsprechend wörtlich zu nehmen scheint, "während die Rede der Maus
das Wortkonzept vom »Lebenslauf« stillschweigend voraussetzt" (ebd.,
S.141), ist nach Ansicht Allemanns ein "Sprachwitz" (ebd.),
den sich die Katze deshalb leisten kann, weil sie sich der Maus völlig
überlegen fühlt.
Dabei fügt sich ihr Ratschlag, der letzten Endes auf einem
Missverständnis (vgl.
ebd., S.140)
beruht, fast nahtlos ein in das Ensemble problematischer,
weil
verfänglicher Ratschläge, die andere vermeintliche Helferfiguren den
jeweiligen Hauptfiguren in anderen Erzählungen Kafkas, man denke hier nur an
den Schutzmann in "Gibs
auf", erteilen. (vgl.
ebd.)
Offen
lässt die Kleine Fabel, den nach Richard
Thieberger
(1979, S.376) "kritischen Punkt der Geschichte und ihrer
Interpretation", der, wenn man die Fabelhandlung ernst nimmt, in der Frage
münde: "Hat sich die Maus nun umgedreht oder nicht?" (ebd., zit. n.
Schlingmann
1995a, S.133)
Auch wenn man mit Thieberger davon ausgeht, dass die Maus
sich tatsächlich umwendet, die Laufrichtung ändert und damit erst in die
Fänge der Katze läuft, wie es auch die nachfolgende Skizze einer Schülerin
zu ihrem • Vorverständnis des Textes
dokumentiert, bleiben Fragen offen. Denn wie
Schlingmann
(1995a, S.134) einwendet, widerspricht ja genau die Tatsache, dass die
Maus der Katze Vertrauen schenkt, "der Natur und den Regeln der Fabel und
ist auch in Kafkas
•
Fragment »Eine Katze hatte
eine Maus gefangen ...« nicht angelegt."
Dass in Kafkas Werk überhaupt •
Tierfiguren
und -gestalten auftauchen, man denke nur an
Gregor Samsa in seiner Erzählung »"Die
Verwandlung", der eines Morgens als Käfer erwacht, scheint auf den
ersten Blick nicht recht zu den doch sehr komplexen und hintergründigen
Erzählverfahren zu passen, die Kafka auszeichnen. (vgl.
Allemann 1975/1998,
S.127)
Franz Kafkas Tierfiguren
Mit den Tieren, die in der Literatur im übrigen "eine volkstümliche,
auch dem kindlichen Gemüt angepasste Darstellungsweise" signalisieren,
dringt offenbar nach Ansicht Allemanns "auch in die Prosa Kafkas ein Hauch
von kindlicher Spielfreude, von Märchen- und Wundergläubigkeit" ein (ebd..
Doch Kafka wäre nicht Kafka, ginge die Verwendung von Tierfiguren in der
seit der Antike von »Aesop
bekannten
Anthropomorhisierung auf. Die Erwartungen, die die Tierfiguren erzeugen,
werden indessen nicht erfüllt. Vergleichsweise schnell sieht sich ein
kompetenter Leser nämlich in eine spannungsvolle Situation zwischen diesen
Erwartungen und den hintergründigen Absichten des Autors gestellt, die ihn
zur Erkenntnis gelangen lassen, dass die Tiere Kafkas eben "nicht ohne
weiteres ausdeutbar" (ebd.,
S.128) sind.
So bleibt vielleicht nur eine Deutung ihrer Funktion im Ganzen,
wie sie Karlheinz
Fingerhut
(1969, S. 171f.) im Rahmen seiner Interpretation der Kleinen Fabel
als Parabel vornimmt. Danach bringen die Tierfiguren zum Ausdruck, "dass das
Menschliche nicht mehr völlig von der tierischen Determination zu trennen
ist."
Wer dem Text ohne das zu seiner Rekontextualisierung nötige Wissen begegnet,
spürt schnell heraus, dass Kafka den Leser in der Kleinen Fabel
"förmlich auf der Geschichte sitzen" lässt. (Allemann 1975/1998,
S.129)
Entsprechend hält Allemann auch überhaupt nichts von der
philologischen "Kleinkunst", der Geschichte am Ende eine "Moral" bzw.
nachgestellte Lehre (Epimythion)
überzustülpen, nach dem Muster: "Der Schwächere tut gut daran, nicht auf den
Rat des Stärkeren zu hören, zumal wenn dieser sein natürlicher Feind ist." (ebd.,
S.129) Sie verfehle die Intention des Textes deutlich. Geeigneter scheint
dagegen zu sein, die Kafkas "Schreibstrategie" (Vogt
2008, S.65) auszeichnende "Kombination von einfachem Wortlaut und
Gattungsschema, sprachlicher Vieldeutigkeit und Deutungsabstinenz des
Erzählers" (ebd.)
hinzunehmen und damit dem Text die Vieldeutigkeit zu lassen, die auch das
Gesamtwerk Kafkas weltberühmt gemacht hat. (vgl.
ebd.)
Kafkas "Schreibstrategie" folgt dem
Gattungs-Schema der Fabel, insbesondere
•
Gotthold Ephraim Lessings
(1719-1781) fabeltheoretischem Konzept so genau, dass man "zunächst kaum
eine Abweichung von der dort entwickelten Norm entdecken" kann (ebd.,
S.130) So würden Katze und Maus kommentarlos eingeführt, ihr Verhalten
entspräche den üblichen Charakterrollen und die Situation, in der ein
Schwächerer mit einem Stärkeren konfrontiert werde, ist einem literarisch
sozialisierten Leser vertraut. So bringt ihn das alles natürlich dahin,
seine Erwartungen am traditionellen
Textmuster- und
Textsorten- bzw.
Gattungswissen zur •
Fabel auszurichten.
Allerdings soll damit die Komplexität der Rezeption literarischer Texte
nicht auf dieses Textmusterwissen reduziert werden, denn, wie Jochen
Vogt (2008, S.63)
betont, "(sind)
Lesarten und Interpretationen (...) abhängig von dem
Wissensstand und Problembewusstsein, das wir bei der Lektüre mitbringen. Wir
interpretieren einen Text immer im Rahmen oder Horizont unserer eigenen
Erfahrung. Und der ist sowohl individuell wie kollektiv geprägt; er umfasst
unser historisches Wissen, aber auch unsere ästhetische oder literarische
Erfahrung."
Kafka kann das Fabelschema aber nicht in einem auf einem festen
Wertehorizont gründenden Ende aufgehen lassen, so wie es die die didaktische
Form seit »Aesop (6. Jh.v.
Chr.) über »La Fontaine
(1621-1695) bis »Lessing
(1729-1781) ausgezeichnet hat. Seine
bemerkenswerte Kunst besteht jedoch darin, dass er dennoch, so die Analyse
von Allemann
(1975/1998, S.145) an ihrer tradierten Struktur "bei vollem Bewusstsein
ihrer inneren Unmöglichkeit" festhält und das "nicht durch offene Parodie
oder im üblichen Sinn scherzhafte Behandlung des Genus, sondern durch eine
sublime Transposition mit Hilfe des Prinzips der Ironie."
(Hervorh. d. Verf.)
Die Prosafabel, so
wie sie in der Gattungsgeschichte tradiert worden ist, war für Kafka nur "in
einer fundamental ironischen Brechung" (ebd.,
S.144) machbar. Die "poetisch-produktive Ironisierung des Fabel-Prinzips
durch Kafka" (ebd.,
S.147) macht sich die von der Gattung geforderte "Ko-Produktion", die
"Interpretationsbereitschaft ihrer Leser" (Vogt
2008, S.63) zunutze, "die aus Erfahrung wissen, dass es nicht um Katz
und Maus geht [...], sondern dass die Tiere symbolische Stellvertreter"
sind. (ebd., S.64)
Wofür sie indessen stehen, ist nicht im Text zu finden, sondern entsteht
im
Bewusstsein des Leser, ist Ergebnis eines intrapsychischen Vorgangs, der
Lesen und Deutung umfasst. Daher sind die möglichen
Interpretationen der
Kleinen Fabel, die so viel offen lässt, prinzipiell unendlich, im
engeren Sinne jedoch begrenzt durch die "Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Interpretationsgemeinschaft" (ebd.,
S.63).
Deren Mitglieder übertragen z. B. "die unbequeme Lage der Maus in
Kafkas enger Welt [...] auf jede ausweglose Situation, jeden unlösbaren
Konflikt [...], in den jemand gerät - sei es ein Individuum oder eine
Gruppe, bis hin zur Menschheit (sagen wir beispielsweise: zwischen Ozonloch
und Atomgefahr). Die Katze wiederum kann mit jeder nur denkbaren verderbenbringenden Macht identifiziert werden - und weil diese Struktur
Kafkas Werke durchgehend bestimmt, gibt es zu ihnen auch so unendlich viele
und unterschiedliche Interpretationen ..." (ebd.,
S.64f.)
Ohne dem Text durch solche Analogien Sinn zu geben, betont
Peter-André
Alt (2005/2008, S.571) in seiner Kafka-Biografie, dass der Text "nicht
das »Beispiel der tragischen Ironie des Lebens« [H.
W. Sokel 1964/1976, S.23] liefere, sondern "die Bestätigung der
Differenz zwischen Realität und Fiktion", die ihren Lesern "den
Täuschungscharakter aller Auslegungen vor Augen stellt." (ebd.,
S.572)
Konsequenterweise wird damit von Alt auch die Sinnlosigkeit
unterstrichen, den Text in einem herkömmlich interpretatorischen
"hermeneutischen Annäherungsprozess" (ebd.) fassen zu wollen. Stattdessen
offenbare sich "die verdeckte Quintessenz" (ebd.)
der "abgründige(n) Geschichte" (ebd. S.571)
in einem "Akt der gleichsam mystischen Versenkung" (ebd.,
S.572)
Auch wenn man diesen "esoterisch" anmutenden Aneignungsprozess kritisch
sehen mag, schaut man über die Kleine Fabel hinweg auf das gesamte
Werk Kafkas, dann bleibt mit
Andringa (2008,
S.333) doch festzuhalten, dass die "bei Kafka strukturell angelegte
Geschichts- und Ortlosigkeit", die ja häufig genug häufig befremdend wirkt,
erst die "unendliche Vielfalt von Konkretisierungen" ermöglicht, die den
Umgang mit Kafkas Werk insgesamt auszeichnet. Dies gilt wohl uneingeschränkt
auch für Kafkas Kleine Fabel, die wie andere Werke des Autors eben
auch, "mit Vorstellungen und Ideen aus verschiedensten Zeiten, Welten und
Kulturen verbunden und analogisiert werden kann." (ebd.)
Und zum Wesen dieses Werkes gehöre die Erkenntnis, so Andringa weiter, dass
es wenig bringt, wenn es immer wieder aktualisiert oder (re)kontextualisiert
wird, "denn es bietet
ein der Geschichte und dem Raum enthobenes Gerüst, das
immer wieder anders ausgefüllt werden kann." (ebd.)
Ob die Interpreten wirklich - auch mit neueren Interpretationsansätzen - mit
der Kleinen Fabel "fertig" werden können (vgl.
Nayhauss
2006, S.62), lassen wir dementsprechend dahingestellt.
Der Tendenz, die
Kleine Fabel ohne den Anspruch auf ihre
(Re-)Kontextualisierung fassen zu
wollen, wird aber von
Nayhauss
(2006, S.62), der damit die Positionen, die er in seiner früheren
Analyse des Textes (Nayhauss
1974) eingenommen hat, deutlich revidiert, widersprochen.
Wer den
• jüdischen Hintergrund "im Denken, Fühlen und Darstellen" nicht kenne oder
nicht zur Kenntnis nehmen wolle, "der vermag zwar mit gutem Recht die
Leerstellen mit allen möglichen Fragmenten seiner Welterkenntnis
auszufüllen, ist jedoch nicht in der Lage, weder der ästhetischen noch der
poetischen durch das Judentum eingefärbten Semantik des Autors auf die Spur
zu kommen. Er bleibt, um es mit Kafka zu sagen, trotz seiner ungeheuren
Welt, die er im Kopfe hat, draußen vor der der Tür dieser Geistigkeit." (Nayhauss
2006, S.62)
Für die • Literaturdidaktik kann dies, so Nayhaus weiter,
nicht folgenlos bleiben, denn zu ihren Aufgaben zähle, Materialien
bereitzustellen, die "zum besseren Verständnis, zur Klärung der
Verstehensbedingungen" beitragen.
Dies gelte um so mehr, "wenn jegliches
Textverständnis durch totale Fremdheit blockiert ist". (ebd.,
S.58) Ohne die Rekontexualisierung könne jemand, der "den
theologisch-anthropologischen Hintergrund der ostjüdischen Erzählungen von
Gilgui (das göttliche Gericht am Menschen als Strafe der Seelenwanderung)"
nicht kenne und
"keine Ahnung" von kabbalistischen Sagen und Geschichten"
habe, die Kafka seinerseits gut kannte, "den Text letztlich nur (!)" aus
einem begrenzten Horizont und damit selektiv wahrnehmen und die Kleine
Fabel damit "als surrealistische oder phantastische Geschichte
rezipieren, vielleicht gar psychologisieren, da das der leichteste Weg ist."
(ebd.)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
07.04.2025
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