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Baustein: Einen Zugang zu Kafkas Parabeln
finden
• Stereotype Deutungsansätze vs.
Analyse von Codes
▪
Für die Strukturen von Uneigentlichkeit sensibilisieren
Niemand geht bei der Lektüre einer ▪
Parabel ▪
Franz Kafkas voraussetzungslos mit dem um, was er/sie liest. Dabei spielen
insbesondere Vorstellungen von Themen, Inhalten und Strukturen ▪
literarischer Gattungen
eine besonders wichtige Rolle, die wir im Laufe unserer ▪
Lesesozialisation erwerben.
Es handelt sich dabei um implizite Vorannahmen oder Vorurteile, mit denen jeder Leser /
jede Leserin an Texte herangeht, ohne dass ihm diese bei der Rezeption
zunächst einmal bewusst sind. (vgl. Köppe/Winko (2008,
S.2). Anders ausgedrückt: Wir nehmen Texte durch die Brille
der ▪ Gattungszuschreibung wahr und
versuchen sie auf deren Grundlage kognitiv zu verarbeiten. (vgl.
Zymner 2010a,
S.2) Wir gehen als mit unserer eigenen "subjektiven Theorie" (vgl.
Köppe/Winko (2008, S.2) über Gattungen vor, die man, weil sie
keine wissenschaftlichen Theorien sind, als •
Folk-Gattungstheorien bezeichnen kann.( vgl.
Zymner 2010a, S.3.)
Trifft man bei der Beschäftigung mit Kafkas
Texten erstmals auf
die Gattung Parabel bzw. auf den ▪
Typ
der modernen Parabel, sieht die subjektive Theorie anders aus, als wenn
mit strukturähnlichen Texten schon zu tun gehabt hat. Wer in seiner
privaten Lektüre oder in der Schule schon
eine Reihe von ▪
Fabeln,
▪
Gleichnissen, ▪
traditionellen Parabeln und ▪
Kurzgeschichten gelesen hat, hat also Erfahrungen mit solchen
Gattungen gemacht und im Unterricht sind wahrscheinlich auch
Gattungsmerkmale zur Sprache gekommen. Wahrscheinlich ist dabei
auch eine Vorstellung über die "Uneigentlichkeit"
entstanden, welche die genannten Textsorten außer den
Kurzgeschichten kennzeichnen.
So weiß man aus
eigener Erfahrung, dass es Wörter, Redewendungen,
ironische Bemerkungen
und "Geschichten" gibt, die etwas anderes bedeuten als das, was
zunächst nahe liegt. Gewöhnlich hat man uneigentliches Sprechen
schon in zahlreichen Kommunikationssituationen erlebt. Beim Lesen
literarischer Texte hat man gewöhnlich •
vielfältige Erfahrungen mit Texten
gemacht, in denen einzelne Wörter oder Wendungen
(z. B.
Metapher,
Metonymie,
Ironie) sowie
bestimmte Textteile auf
eine zu übertragende Bedeutung verweisen (punktuelle
Uneigentlichkeit).
Aber auch mit
globaler Uneigentlichkeit ganzer Texte haben Schülerinnen und
Schüler im Umgang mit •
Fabeln und •
Gleichnissen im Unterricht der Sekundarstufe I schon zu tun
gehabt.
Schülerinnen und
Schüler bringen also, wenn sie sich •
ab der späten Sekundarstufe I
bzw. in der Sekundarstufe II mit ▪
modernen Parabeln im Literaturunterricht befassen, schon ihre
eigene subjektive Theorie mit und versuchen die Texte auf der
Grundlage ihres mehr oder weniger subjektiven Gattungswissens zu
verstehen bzw. kognitiv zu verarbeiten.
Dabei machen sie
aber meistens recht bald die Erfahrung, dass sich das, was sie an •
Fabeln und •
Gleichnissen sowie traditionellen Parabeln über Uneigentlichkeit
und die Art, wie sie in einem Text signalisiert wird, gelernt haben,
nicht mehr ohne weiteres anwenden
lässt.
Während sie sich bei jenen darauf verlassen konnten, dass der Text
einem schon mehr oder weniger explizit sagt, worauf er hinauswill,
ist dies bei den modernen Parabeln Kafkas eben nicht mehr der Fall.
Die eigene •
Folk-Gattungstheorie und das bis dahin erworbene ▪
Gattungswissen, auf dessen ▪
großes Transferpotenzial man sich eigentlich immer verlassen
hat, kommen dabei an ihre Grenzen. Die erworbenen
kognitiven Schemata der globalen "Uneigentlichkeit" in Texten
müssen daher umgebaut und erweitert werden.
Natürlich kann man
auch bei einer ▪
traditionelllen
(didaktischen) Parabel, den Sinn nur dann so konstruieren, wie
es sein Autor intendiert, wenn man über den fest gefügten, bei
vielen älteren Texten religiös fundierten, an moralischen und
gesellschaftlichen Normen orientierten Bezugsrahmen mit seinem mehr
oder weniger geschlossenen System verfügt, auf den man sich mit der
intendierten Lehre dieser Texte beziehen muss.
Dies kann aber
angesichts der heute herrschenden gesellschaftlichen Heterogenität
nicht immer vorausgesetzt werden. Wo dies aber gelingt, kann man
sich auch den •
besonderen Spielregeln der literarischen Kommunikation dieser Texte
fügen und Orientierung in der von diesen gestalteten •
hierarchischen Lehrer-Schüler-Beziehung finden.
Die globale
Uneigentlichkeit, mit der es die Schülerinnen und Schüler mit ▪
modernen Parabeln
zu tun bekommen, stellt die ▪
Strukturschemata,
mit denen sie das Gelesene mit den bisher erworbenen ▪
Organisationsstrategien
beim Lesen verarbeiten wollen, in gewisser Hinsicht auf den Kopf. Die von solchen Texten
ausgelöste »kognitive
Dissonanz, d. h. die Erfahrung, dass das, was man gelesen hat,
einfach nicht so kognitiv zu verarbeiten ist, wie man das gewohnt
ist, ist allerdings nicht ungewöhnlich, ist aber meist mit der Erfahrung ▪
struktureller oder sogar ▪
radikaler Fremdheit verbunden,
die erst einmal zu bewältigen ist.
Um zu einem
"textlich autorisierten Verständnis" zu gelangen müssen Schülerinnen
und Schüler über Vorwissen verfügen, das auch Gattungswissen sein
kann. Diesem Wissen liegt "ein Wissen um deren poetische Alterität
zugrunde, welches davor bewahrt, im Literaturunterricht entweder die
subjektive Erfahrung zu überwinden und einen „ästhetischen
Formalismus“ (Lösener
2015, S. 79) an ihre Stelle zu setzen oder aber die
Subjektivität im Text über seiner selektiven, persönlichen
Inanspruchnahme aus dem Blick zu verlieren." (Freudenberg
2016, S.30)
Kann
ein Text Kafkas mit dem Vorwissen, dass es sich um eine moderne
Parabel handelt, analysiert werden, kann man deren ▪
Merkmale,
▪
Themen,
▪
Kennzeichen der Erzähler-Leser-Kommunikation und andere
Besonderheiten, wie z. B. die
▪
typische Auflösung eines Bedeutungszusammenhangs von Bild- und
Sachbereich bei der weiteren Textarbeit im Zuge einer •
Top-Down-Verarbeitung in den Prozess des
Textverstehens einfließen lassen und dadurch u. U. einen Schlüssel
für den zunächst fremd wirkenden Text finden. Dass ein solches
Vorgehen als • "Merkmals-Nachweis-Didaktik"
gekennzeichnet und oft auch als • "Merkmalshuberei"
abqualífiziert worden ist, ändert indessen nichts daran, dass •
Gattungwissen auch in der Schule aus unterschiedlichen Gründen
von großer Bedeutung ist.
Und hier fängt der didaktische Streit an: Im Schnittpunkt
solcher Überlegungen steht immer die Entscheidung, ob man eher dem ▪
wissenschaftsorientierten
Ansatz der klassischen Gattungsdidaktik oder dem an der
ästhetischen Erfahrung des Leser ansetzenden ▪ "Prototypendidaktik"
folgen will. Für beide Konzepte gibt es im ▪
Handlungsfeld Literatur schulischen Lernens gute Gründe und beide
Konzepte können in ihrer Anwendung zum Erwerb ▪
literarischer Kompetenz,
insbesondere zur ▪
literarästhetischen
Rezeptionskompetenz beitragen.
Ergebnis einer auf dem Gattungswissen beruhenden
Herangehensweise sollte sein, sich auf die Suche nach jenen
Elementen des Textes zu machen, die eine parabolische Lesart des
Textes nahe legen. Ebenso kann man daraus Anregungen und Impulse für
die eigene außertextliche Sinnkonstruktion erhalten. Wie und womit
der Appell auf Textebene signalisiert wird, dass das auf der
Textebene Dargestellte nicht das Gemeinte ist, ist allerdings bei
den Parabeln von Franz Kafka häufig nicht so einfach auszumachen.
Und selbst wenn man solche • "Stolpersteine"
(•
Implizte Transfersignale) genau erkennt, sagt das nichts darüber aus, welche Bedeutung man dem
Dargestellten geben kann.
Dennoch gilt die Frage, "welche Wissensbestände unverzichtbar,
welche zwar grundsätzlich relevant, jedoch nachgeordnet, und welche
zuletzt zwar interessant, aber im Kontext des Literaturunterrichts
einer bestimmten Jahrgangstufe vernachlässigbar sind" bei
parabolischen Texten als weitgehend "geklärt: "Wer die parabolische
Lesart ausspart und den Text auf der reinen Plotebene rezipiert, hat
die entscheidende Dimension des Textes nicht verstanden. Hier
befähigt das Wissen um die Gattung (z. B. Fabel) oder um
Darstellungsstrategien dazu, diesbezügliche textseitige Signale
wahrzunehmen." (Freudenberg
2016, S.37) Wenn den Schülerinnen und Schülern diese "aus
literaturwissenschaftlicher Perspektive womöglich unverzichtbare
Wissensvoraussetzungen fehlen", ist ein "›textlich autorisiertes
Verständnis‹ im strengen Sinne [... ] möglicherweise nicht zu
erreichen; gleichwohl verstehen nicht wenige Lerner den Text bis zu
einem gewissen, noch zu bestimmenden Grad, und die Lektüre kann eine
Bereicherung für sie sein. Allzumal dann, wenn sie dazu anregt, die
Texte zu einem späteren Zeitpunkt der eigenen Lektürebiographie
erneut zur Hand zu nehmen und einer Re-Lektüre zu unterziehen.
Möglicherweise hätte der Literaturunterricht dann sogar etwas noch
Entscheidenderes erreicht, als wissensbasierte Texterkenntnis zu
generieren: eine ästhetische Erfahrung, die Ahnung davon verschafft,
was an dem Text interessant und relevant sein könnte, warum also die
wiederholte Erkundung der Textwelt lohnt." (ebd.,
S.35f.) Allerdings, und auch das muss man eben sehen, "lassen
Analysen von Abiturklausuren erkennen, wie der Erwerb von Wissen in
der Lernsituation im ungünstigen Fall dazu führt, dass es den jungen
Leuten in der Leistungssituation allein darum geht, ihr Wissen
auszustellen, statt es in dienender Funktion zur Texterschließung zu
nutzen." (ebd.,
S.36)
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Baustein: Einen Zugang zu Kafkas Parabeln
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• Stereotype Deutungsansätze vs. Analyse
von Codes
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Für die Strukturen von Uneigentlichkeit sensibilisieren
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
24.01.2025