Als einen Ausweg aus der Abgrenzungsproblematik und dem ständig
Dissens produzierenden Geltungsanspruch, den die jeweiligen Ansätze
erheben, bietet sich allen jenen, die an deren Überwindung
interessiert sind, nach
Engel (2010,
S.414, 434f.) zunächst einmal ein
Lektüremodell an, das "die auf der Textoberfläche dargestellten
Konstellationen als eine abstrakte Modellsituation (also quasi
‹wörtlich‹)" nimmt und "(...) sich bei der Deutung darauf
(beschränkt), diese mit Hilfe der im Text vorgegebenen Leitbegriffe
zu verallgemeinern." (ebd., S.414)
Das "Wörtlich-Nehmen" bedeutete hingegen nicht, den
Verstehensprozess auf die Inhalte und Strukturen der Textoberfläche
zu beschränken, was zu einer trivialisierenden Lektüre mit allzu
einfachen handwerklichen Deutungen führen könne (ebd., S.426),
sondern den Text als absolute
Metonymie zu
behandeln, d. h. "als ein Bild-Modell, dessen Deutung sich über eine
Verallgemeinerung des Bild-Einfalls ergibt." (ebd.)
Der Begriff der absoluten Metonymie grenzt sich ab von der in der
modernen Lyrik immer wieder zu findenden
absoluten Metapher als Modell
uneigentlicher
Rede. So paradox die Vorstellung auch ist, dass eine den Merkmalen
metaphorischer Rede folgende Darstellung ohne einen mehr oder
weniger gut erkennbaren Ähnlichkeitsbezug zu dem Gemeinten in dem
von ihr gestalteten Bild auskommt, verzichtet diese Form
uneigentlicher, metaphorisch gestalteter Rede darauf, irgendeine
Sachhälfte zu markieren. Hier gibt es also keinen Hinweis mehr darauf,
was ursprünglich mit dem metaphorischen
Ausdruck erfasst worden ist und diesem in irgendeiner Art und Weise
ähnelt.
Solche Textpassagen gehören allerdings, das liest der Leser heraus,
zu der oder den ›Bild-Welten‹, die in einem Text gestaltet werden. Ein
Leser erkennt dies gewöhnlich daran, dass die Darstellung von seinem
Alltags- bzw.
Weltwissen abweicht. Zugleich spürt er aber auch, dass er von
der sonst mit Metaphern verbundenen Bedeutungsübertragung
(Wortsemantik) mit Hilfe eines Analogieschlusses entlastet ist. Er
sieht sich damit auch der Aufgabe entbunden ist, einen bestimmten Bildbereich
zu konstruieren. Was bleibt ist lediglich ein "textprägende(r)
Erzähleinfall"
(ebd.,
S.414), der als ›Bild‹ im Text "Realitätsstatus" (ebd.)
besitzt. Die von absoluten Metaphern erzeugten Bilder sind in diesem
Sinne real.
In den Texten Franz Kafkas spielen im Unterschied zur modernen Lyrik
im Allgemeinen nicht mehrere absolute Setzungen dieser Art eine
Rolle. In modernen lyrischen Texten schafft ihre größere Anzahl und
Verbreitung ein ganzes Bündel von
Konnotationen, die
in verschiedenen Korrespondenz- und Kontrastbeziehungen zueinander
stehen.
Bei Kafka ist es, so Engel, hingegen im Allgemeinen ein einzelnes,
den Text durchziehendes "zentrales Bild bzw. ein Bildkomplex"
(ebd.),
das/der den gesamten Text zu einer Art "Makrozeichen"
(ebd.)
macht. Zudem lässt sich, so Engel weiter, in Kafkas Texten eine
"abstrakte Begriffsebene" erkennen, mit deren Hilfe "der Leser als
Stellvertreter einer eigentlichen Aussageebene" agieren kann.
(ebd.)
Das oben erwähnte Lektüremodell zielt
darauf, "einen Mittelweg zwischen ›absoluter Metaphorik‹ und
›Parabolik‹ zu gehen"
(ebd.).
Ihm geht es nicht primär darum, die absoluten Bilder (bzw. absoluten
Metaphern) in Franz Kafkas Texten irgendwie zu transformieren bzw.
zu übersetzen, sondern es lässt sie in gewisser Weise als zu
verallgemeinernde absolute Metonymien stehen, die nicht mehr von
Analogierelationen zwischen Gesagtem und Gemeinten bestimmt werden,
sondern durch Kontiguitätsbeziehungen. Das sind "Nachbarschaften" innerhalb
eines Bedeutungsfeldes bzw. Sachbereichs als Relation zwischen einem
Teil und einem Ganzen, einem Teil und einem anderen Teil, einem
Behälter für den Inhalt, einem Ort für eine Person oder für ein
Ereignis, für eine Institution für Angehörige der Institution etc.
Das Lektüremodell des ›absoluten Bildes‹ hat gegenüber dem mit ihm
konkurrierenden Modell der parabolischen Lektüre für Engel den
Vorteil, dass sie nicht zwanghaft "auf eindeutige Auflösbarkeit"
bildlicher Rede angelegt ist und sich damit auch von der "Suche nach
einer eindeutigen, vom Bild ablösbaren ›Botschaft‹ oder ›Lehre‹"
(ebd.)
entlastet. Indem das Modell die Textoberfläche, so wie sie ist,
ernst nehme, begreife es auch moderne Literarizität als "Sprechen in
Bildern und Geschichten"
(ebd.).
Nicht nur aus diesem Grunde werden damit die Vorstellungen der
älteren Parabelinterpretation mit ihren metaphorisch,
allegorischen
Analogieschlüssen bei der Übertragung von einem Bild- in einen
Sachbereich hinwegeskamotiert, zumal der •
Verweisungszusammenhang von Bild- und Sachbereich bei modernen
Parabeln ohnehin in Auflösung begriffen ist oder gar nicht mehr
existiert.
Trotzdem
erhebt Engel nicht den Anspruch, mit seinem Modell gängigen
Interpretationsansätzen ihren Erkenntniswert im Einzelnen
abzusprechen. Ebenso wenig glaubt er daran, dass es ihren Rang in der zeitgenössischen
Literaturwissenschaft wirklich erschüttern kann. Allerdings sieht er
sich damit auf Augenhöhe mit diesen, und insistiert darauf, dass sein
Ansatz zumindest als gleichberechtigte und ergänzende
Alternative zu den aktualisierenden Interpretationen zu sehen sei,
die immer wieder mehr oder weniger stereotyp auf die Einzeltexte
angewendet werden.
Das kann, wie auch Engel hofft, die auf Dissens der Ansätze und
Deutungen aufbauende bisherige literaturwissenschaftliche
Interpretation konsensfähiger machen, allerdings nur für den, "an
einer historischen Kafka-Interpretation und an einer
Dissensreduktion zwischen den Interpretationen interessiert ist."
(ebd.,
S.426)
Engels
Ansatz einer historisch-hermeneutischen Literaturwissenschaft
(ebd.,
S.425) verzichtet auf der Grundlage seines Lektüremodells darauf,
sich auf einen bestimmten Interpretationsansatz festzulegen, der
dann mit mehr oder weniger überzeugenden
Kotexten und Kontexten
unter Vernachlässigung anderer Aspekte durchgezogen wird.
Stattdessen greift er bestimmte Textelemente auf – er
bezeichnet sie als Codes –, die Kafkas Texte einzeltextübergreifend kennzeichnen und
auch in den verschiedenen gängigen Interpretationsansätzen eine
tragende Rolle spielen.
Engel unterscheidet sechs solcher Codes, die
in den einzelnen Texten in verschiedener Weise z. b. als dominierend
oder nicht, auftreten können:

Für
größere (740px) und
große Ansicht
(1000px) bitte an*klicken*tippen!
Statt den einer dieser Codes, wie es die gängigen
Interpretationsansätze zu tun pflegen, zu einer Art "Supercode" zu
erklären, geht es in Engels Lektüremodell darum,
die auf der
Textoberfläche erkennbaren Hierarchien der in einem Text vorhandenen
Codes zu erfassen, Dominanzen zu beschreiben und davon ausgehend
Entscheidungen darüber zu treffen, "wie die textspezifischen Codes
und ihre textspezifische Relation im Einzelnen zu deuten ist."
(ebd.,
S.426)
Auf diese Art und Weise werde das Interpretationsspektrum und damit die Anzahl miteinander konkurrierender Deutungen
eingeschränkt und die Interpretation enger an den jeweiligen
Einzeltext gebunden. Wie man sich eine derartige Textanalyse und
-interpretation am Beispiel eines Einzeltextes vorstellen
kann, hat Engel
(ebd.,
S.425) am Beispiel von Franz Kafkas Erzählung • "Das Urteil (1913)"
dargestellt.
Für die •
Literaturdidaktik kann das von Engel entwickelte Lektüremodell
große Relevanz beanspruchen, weil bei •
modernen Parabeln, bei denen der enge •
Verweisungszusammenhang von Bild- und Sachbereich weitgehend
aufgelöst ist, eben nicht mehr als Brücke der •
Sinnkonstruktion dienen kann. Die Schülerinnen und Schüler
werden jedenfalls damit nicht durch die Vorgabe von stereotypen
Deutungsansätzen auf eine von vornherein äußerst eingegrenzte
Spurensuche geschickt, bei der sie, im Sinne einer
"Nachweisdidaktik", "nur" suchen und finden sollen, was man
schon vorher weiß und dabei ausblendet, was links und rechts des
vorgezeichneten Interpretationspfades liegt. Das Modell bietet
dabei, hier nur anzudeutende Übergänge zur •
Prototypendidaktik (vgl. u. a.
Spinner 2006,
Köster 2015),
die bildliches Denken und das Finden von selbst generierten
Ähnlichkeiten mit all ihren dabei auftretenden Unschärfen in den
Mittelpunkt rückt.