Zu den Kontexten, über die sich Schülerinnen und Schüler oft
Zugang zu den verrätselten ▪
Parabeln
▪
Franz Kafkas verschaffen wollen,
gehört vor allem der •
biografische Kontext, der sich bei manchen
seiner Parabeln, wie z. b. ▪ »Heimkehr«
oder »Gibs auf« geradezu aufdrängt, wenn
der Leser oder die Leserin über das dafür nötige •
Autorenwissen verfügt oder es im Zuge seines Textverstehensprozesses
recherchiert. Dabei können, entsprechendes Kontextwissen
vorausgesetzt, auch Elemente der •
psychoanalytischen Deutungsperspektive in diesen Zugang
eingebettet werden, wenn Aussagen über psychologische Faktoren für
das Werk Kafkas über die Alltagspsychologie hinausgehen.
Franz
Kafkas • Biografie, insbesondere seine
• familiäre Sozialisation sowie
sein Verhältnis zu seinem • Vater
Hermann Kafka aber auch
seine innere Zerrissenheit liefern dabei Ansätze, mit denen sich
Zugänge zum weiteren Verstehen des Textes eröffnen, wenngleich man
dabei auch leicht in das Fahrwasser "biographistischer
Verkürzungen" (Nickel-Bacon 2014, S.95) geraten kann.
Dabei kann man der
irrigen Annahme aufsitzen, dass sich der Horizont des Autors im
Entstehungskontext des Textes tatsächlich in einer Weise
rekonstruieren lässt, dass der in den Text eingeschriebene
Sinn zweifelsfrei sichtbar wird. Bei der Interpretation werden
biografische Aspekte dann quasi im Zuge des ▪
Autoritätsbeweis zur ▪
Argumentation
für bestimmte Interpretationsthesen herangezogen, auch wenn sie
letztlich nur bloße Annahmen über die Absichten des Autors
darstellen. (vgl.
Winko
2002, S.343-348, vgl.
Hoffmann/Langer 2007, S.138)
Die Kontextualisierung von Texten Franz Kafkas mit dem biografischen
Ansatz wirft dabei auch immer wieder die Frage auf, wann solche
biografische Informationen in den Umgang mit seinen Texten
einfließen sollen.
Stark
(2016, S.89, Anm.4) weist darauf hin, dass die oft bei
Unterrichtsmaterialien zu beobachtende Reihung von wichtigeren und
unwichtigeren Kontextinformationen dazu führen kann, dass die
Schülerinnen und Schüler mehr oder weniger automatisch den als
wichtig etikettierten Kontext zur ihrer Bedeutungskonstruktion
heranziehen.
Damit die Schülerinnen und Schüler bei der Interpretation von Kafkas
Parabeln nicht grundsätzlich auf die "dominantesten bzw.
wirkungsmächtigsten Kontexte" zurückgreifen und damit "andere,
weniger offensichtliche Möglichkeiten der Kontextualisierung"
vernachlässigen, sei es gerade beim Zugang über die Person Franz
Kafkas sinnvoll, biografisches Wissen nicht vor der Rezeption seiner
Texte zu erarbeiten, weil "(man) dann (...) Gefahr (läuft), dass von
da an nur noch vom Autor schreibend verarbeitende
Vater-Sohn-Konflikte oder der monotone Arbeitsalltag in einer
Versicherungsanstalt im Text gesucht (und gefunden) werden – und
darüber andere Kontexte vernachlässigt werden." (Stark
2016, S.89, Anm.4) Auf die Gefahr, dass "einzelne im Unterricht
thematisierte Kontexte von den Schülerinnen und Schülern
schablonenartig auf den Text angewandt werden, in der Hoffnung, dass
sich die eigentliche Bedeutung des Textes mit Hilfe dieses Wissens
quasi entschlüsseln lässt (vgl.
Abraham 1994,
S. 91)" hat auch schon
Spinner (2022a,
S. 176) hingewiesen, als er vor den Gefahren eines "störende(n) biographische(n) Wissen(s)"
gewarnt hat.
Gerade die Behandlung von Franz
Kafkas (1883-1924) • "Brief
an den Vater" vor der Begegnung mit seinen Parabeln führt offenbar oft
dazu, dass andere als biografische Deutungsansätze von den
Schülerinnen und Schülern gar nicht mehr herangezogen werden, weil
sie von ihnen nicht mehr auf ihre Ergiebigkeit im Vergleich zu
anderen Anätzen überprüft werden (können). (vgl.
Abraham 2021, S.136)
Mit solchen "einseitigen und vorschnellen Fixierungen auf einen
einzigen Kontext können eine genaue Textwahrnehmung und weitere
Deutungsoperationen erschwert oder sogar verhindert werden. (vgl. Stark
2016, S.88) Um dem entgegenzuwirken, kann man auf verschiedene
Art und Weise vorgehen. Die schon genannte besteht darin, die
Reihenfolge zu reflektieren, nach der •
Autorenwissen
in die Bedeutungskonstruktion einfließen soll. Eine weiteres
Verfahren besteht in der "Anbahnung einer komplexen
Kontextualisierung, bei der die Schülerinnen und Schüler
verschiedene Kontextinformationen berücksichtigen und miteinander
verknüpfen müssen (vgl. z. B.
Kammler
2007 oder
Stark 2012).
Damit die Schülerinnen und Schüler auch tatsächlich
mehrere Kontexte miteinander verbinden und nicht bloß einen
einzelnen Kontext aus den Informationen auswählen, empfiehlt es
sich, Informationen aus verschiedenen Kontextbereichen
bereitzustellen und Aufgabenstellungen zu formulieren (oder
Arbeitsformen zu wählen), die solch eine komplexe Kontextualisierung
nicht bloß ermöglichen, sondern explizit einfordern." (Stark
2016, S.89) Dabei geht es aber auch immer darum, die
Schülerinnen und Schüler "schrittweise zu zunehmend komplexen,
eigenständigen, reflektierten und bewussten Kontextualisierungen
beim Interpretieren von literarischen Texten"
(Stark 2016,
S.92f.) zu befähigen.
Aller Einwände
gegen den biografischen Zugang zum Trotz ist die biografische
Interpretation von Kafkas Texten auch weiterhin, vor allem in
der Schule will man sagen, "nicht ohne Erkenntniswert", wie
Engel (2010,
S.420) betont, weil sie im Rahmen einer hermeneutisch-historischen
Deutung oft durchaus die "Funktion einer Orientierungshilfe" habe.
Sie gebe wie ein Wegweiser die Deutungsrichtung vor, die man nur
verallgemeinern müsse, um zu einer akzeptablen Interpretation zu
gelangen.
Unter
literaturdidaktischer Perspektive macht der Zugang über die ▪
Biografie Franz Kafkas aber auch aus einem
anderen Grund Sinn. Die biografischen Informationen können nämlich "einer
motivierenden Textlektüre dienen" (Spinner
2022a, S. 176). Dies ist immer wieder zu
beobachten, wenn Franz Kafkas Verhältnis zu seinem Vater
auf der Basis seiner Selbstaussagen im ▪
Brief an den Vater herangezogen wird.
Weil diese
Selbstaussagen, so kritisch sie im Einzelnen auch zu sehen sein
mögen, "das literarische Werk durch
die Einbettung in einen Lebenskontext wirklichkeitsbezogener"
erscheinen lassen, kann biografisches Wissen, das sich auf den
konkreten Text anwenden lässt, allgemein motivierend wirken. (vgl.
ebd.).
Darüber hinaus kann das biografische Wissen aber dazu beitragen,
dass • Fremdheitserfahrungen und kognitive Dissonanzen bei der Beschäftigung
mit den oft sperrig und verstörend wirkenden Texten überwunden
werden können.
Dass sich biografische Informationen, die den
Schülerinnen zur Verfügung gestellt werden, dabei im Allgemeinen
nicht auf eine einfach einem Text beigesteuerte Autornotiz oder eine
reine Zeitleiste zum Leben Franz Kafkas beschränken können, versteht
sich fast von selbst. Im Übrigen kann das biografische Wissen der
Schülerinnen und Schüler natürlich auch im Zuge ihrer schon
vorangegangenen Beschäftigung mit dem Autor und seinen Texten
(Stichwort: Kumulatives Lernen) erworben worden sein.
In jedem Fall
erweitert der Erwerb oder die Anwendung biografischen Kontextwissens den Horizont des Lesers und sein allgemeines
Kontextwissen, das auf seine weitere Textrezeption Einfluss nehmen
kann. Der "objektive" Sinn seiner Parabeln enthüllt sich aber auch
damit nicht.