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Franz Kafkas Texte sind im Allgemeinen schwer
zugänglich und bereiten ihren Leser*innen Probleme, sich einen Reim
darauf zu machen. Das aber macht einen großen Teil der Faszination
aus, die sie auf ihre Leser*innen entfalten können. Dies gilt im
Grunde für das gesamte Werk des Autors, aber auch in besonderer
Weise für seine Kurzprosa, namentlich seine ▪
Parabeln.
An ihrer Deutung haben sich • zahlreiche literaturwissenschaftliche
Schulen immer wieder versucht, und auch wenn, die heute weitgehend
unbestritten sein dürfte, dass sie sich in besonderer Weise einer
vereindeutigenden Interpretation entziehen, ringen die
unterschiedlichen Richtungen der Kafka-Forschung immer wieder um die
Deutungshoheit, der sich alle anderen, oft mit dem Hinweis auf die
Legitimität vieler unterschiedlicher Lesarten den "neuen Moden",
unisono widersetzen.
Trotzdem: Unzählige
Literaturwissenschaftler machen sich bis heute immer wieder daran,
Kafkas Texten durch Heranziehung unterschiedlicher Kotexte, Kontexte
oder Metatexte bislang unbekannte oder vernachlässigte Geheimnisse
zu entlocken. Sie suchen letzten Endes nach dem einen "Schlüssel,
der als Passepartout alle Einzeltexte erschließen"
(Engel 2010,
S.419)
kann. Und genau das ist das Problem.
Über die Jahre hinweg haben sich eine Reihe von Werkzugängen zu
Kafkas Texten im Allgemeinen und zu seinen Parabeln etabliert, die
in einer Art friedlicher Koexistenz nebeneinander stehen und jedem,
der sich auf die Vielfalt von Interpretationen einlässt, aufzeigt,
dass man seine Texte in sehr unterschiedlicher Art und Weise
verstehen kann. Wer mit ihnen und ihren jeweiligen Prämissen
vertraut ist, wird sie, nachdem sie für etliche Texte auch von
namhaften Literaturwissenschaftlern an Beispielen vorexerziert
worden sind, entsprechendes Wissen über die sie stützenden
Kontexte vorausgesetzt, ohne allzu große Probleme auf einen bestimmten Text
anwenden können, zumal sie ja stets "an Aspekte anknüpfen, die in
Kafkas Texten nachweisbar eine Rolle spielen."
(ebd.,
S.425)
Das
Problem solcher Deutungsansätze bei der Interpretation ist, •
kognitionspsychologisch gesprochen, die
wissensgeleitete
•
Top-Down-Verarbeitung bei der jeweiligen •
Sinnkonstruktion. So weiß im Grunde jeder, der einem bestimmten
Deutungsansatz folgt, vor jeder Interpretation, "worauf der Text
hinausläuft, hinauslaufen muss – und der Interpretationsakt
besteht hauptsächlich darin, einen (mehr oder weniger) plausiblen
Bezug zwischen der Textoberfläche und dieser ›Bedeutung‹
herzustellen."
(ebd.,
S.424) So finden die jeweiligen "Parteigänger" in der Regel, was sie
suchen und lassen außen vor, was sich ihrem Ansatz nicht fügt.
Mitunter feilt man auch so lange an dem Schloss herum, bis der
eigene vermeintliche Universalschlüssel letzten Endes passt. (vgl.
)
Dies gilt für eine ganze Reihe "stereotype(r) Deutungsvarianten" (ebd.,
S.361).) wie z. B. den biografischen, psychoanalytischen,
sozialgeschichtlichen, religiösen und existenzialistischen,
jüdischen oder auch postrukturalistischen Ansatz.
Sie werden heute
auch von Künstlicher Intelligenz (KI) auf entsprechende Anfragen
(Prompts) hin immer wieder heruntergebetet und sollen wohl dem
Verständnis von Kafkas Parabeln auf die Sprünge helfen. Beispiele
lassen sich leicht selbst generieren, sind aber auch in den
entsprechenden teachSam-Arbeitsbereichen zu verschiedenen ▪
Parabeln Franz Kafkas dokumentiert (z. B.
• "Gibs auf!", • "Der
neue Advokat".
Hier kann und soll dabei der Erkenntniswert dieser
Interpretationsansätze nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden,
wohl aber für einen flexiblen Umgang mit ihnen plädiert werden. Es geht in der Praxis der
Interpretation ohnehin darum, die Gräben zu überbrücken, die die
literaturwissenschaftliche Kafka-Forschung und ihre
"Theorieavantgarde"
(Engel 2010,
S.424) ausgehoben hat, um mehr oder wenige klare Trennlinien
zwischen dem eigenen und den "anderen" zu schaffen und sich
eine bestimmte Position im Wissenschaftsbetrieb zu
erobern und/oder diese zu verteidigen.
Der "Mainstream
literaturwissenschaftlicher Interpretationspraxis" (ebd.),
wie sie Engel auch in den Kafka-Monographien von
Alt
(2005/22008) und
Jahraus
(2006) repräsentiert sieht, habe mit ihrer Deutungspraxis
"die Verfahren und Theoreme der Theorieavantgarde (in deutlich
abgeschwächter, ›verwässerter‹ Form) in buntem Eklektizismus" (ebd.)
immer wieder aufs Neue zu assimilieren, dazu beigetragen,
dass Mischformen verschiedener Ansätze m Verhältnis zu lupenreinen
Ausprägungen bestimmter Interpretationsschulen heute deutlich überwiegen.
Als einen Ausweg aus der Abgrenzungsproblematik und dem ständig
Dissens produzierenden Geltungsanspruch, den die jeweiligen Ansätze
erheben, bietet sich allen jenen, die an deren Überwindung
interessiert sind, nach
Engel (2010,
S.414, 434f.) zunächst einmal ein •
Lektüremodell
an, das "die auf der Textoberfläche dargestellten
Konstellationen als eine abstrakte Modellsituation (also quasi
‹wörtlich‹)" nimmt und "(...) sich bei der Deutung darauf
(beschränkt), diese mit Hilfe der im Text vorgegebenen Leitbegriffe
zu verallgemeinern." (ebd., S.414)
Dieses Lesemodell des "absoluten Bildes"
zielt
darauf, "einen Mittelweg zwischen ›absoluter Metaphorik‹ und
›Parabolik‹ zu gehen"
(ebd.).
Ihm geht es nicht primär darum, die absoluten Bilder (bzw. absoluten
Metaphern) in Franz Kafkas Texten irgendwie zu transformieren bzw.
zu übersetzen, sondern es lässt sie in gewisser Weise als zu
verallgemeinernde absolute Metonymien stehen, die nicht mehr von
Analogierelationen zwischen Gesagtem und Gemeinten bestimmt werden,
sondern durch Kontiguitätsbeziehungen. Das sind "Nachbarschaften" innerhalb
eines Bedeutungsfeldes bzw. Sachbereichs als Relation zwischen einem
Teil und einem Ganzen, einem Teil und einem anderen Teil, einem
Behälter für den Inhalt, einem Ort für eine Person oder ein
Ereignis, einer Institution für Angehörige der Institution etc.
Das Lektüremodell des ›absoluten Bildes‹ hat gegenüber dem mit ihm
konkurrieren Modell der parabolischen Lektüre für Engel den
Vorteil, dass sie nicht zwanghaft "auf eindeutige Auflösbarkeit"
bildlicher Rede angelegt ist und sich damit auch von der "Suche nach
einer eindeutigen, vom Bild ablösbaren ›Botschaft‹ oder ›Lehre‹"
(ebd.)
entlastet. Indem das Modell die Textoberfläche, wo wie sie ist,
ernst nehme, begreife es auch moderne Literarizität als "Sprechen in
Bildern und Geschichten"
(ebd.).
Nicht nur aus diesem Grunde werden damit die Vorstellungen der
älteren Parabelinterpretation mit ihren metaphorisch,
allegorischen
Analogieschlüssen bei der Übertragung von einem Bild- in einen
Sachbereich hinwegeskamotiert, zumal der •
Verweisungszusammenhang von Bild- und Sachbereich bei modernen
Parabeln ohnehin in Auflösung begriffen ist oder gar nicht mehr
existiert.
Das "Wörtlich-Nehmen" bedeutete hingegen nicht, den
Verstehensprozess auf die Inhalte und Strukturen der Textoberfläche
zu beschränken, was zu einer trivialisierenden Lektüre mit allzu
einfachen handwerklichen Deutungen führen könne (ebd., S.426),
sondern den Text als absolute
Metonymie zu
behandeln, d. h. "als ein Bild-Modell, dessen Deutung sich über eine
Verallgemeinerung des Bild-Einfalls ergibt." (ebd.) Bei Kafka ist es, so Engel, hingegen im Allgemeinen ein einzelnes,
den Text durchziehendes "zentrales Bild bzw. ein Bildkomplex"
(ebd.),
das/der den gesamten Text zu einer Art "Makrozeichen"
(ebd.)
macht. Zudem lässt sich, so Engel weiter, in Kafkas Texten eine
"abstrakte Begriffsebene" erkennen, mit deren Hilfe "der Leser als
Stellvertreter einer eigentlichen Aussageebene" agieren kann.
(ebd.)
Engels •
Ansatz einer historisch-hermeneutischen Literaturwissenschaft
(ebd.,
S.425) verzichtet auf der Grundlage seines Lektüremodells darauf,
sich auf einen bestimmten Interpretationsansatz festzulegen, der
dann mit mehr oder weniger überzeugenden
Kotexten und Kontexten
unter Vernachlässigung anderer Aspekte durchgezogen wird.
Stattdessen greift er bestimmte Textelemente auf – er
bezeichnet sie als Codes –, die Kafkas Texte einzeltextübergreifend kennzeichnen und
auch in den verschiedenen gängigen Interpretationsansätzen eine
tragende Rolle spielen.
Engel unterscheidet sechs solcher Codes, die
in den einzelnen Texten in verschiedener Weise z. b. als dominierend
oder nicht, auftreten können:

Für
größere (740px) und
große Ansicht
(1000px) bitte an*klicken*tippen!
Statt den einer dieser Codes, wie es die gängigen
Interpretationsansätze zu tun pflegen, zu einer Art "Supercode" zu
erklären, geht es in Engels Lektüremodell darum, die auf der
Textoberfläche erkennbaren Hierarchien der in einem Text vorhandenen
Codes zu erfassen, Dominanzen zu beschreiben und davon ausgehend
Entscheidungen darüber zu treffen, "wie die textspezifischen Codes
und ihre textspezifische Relation im Einzelnen zu deuten ist."
(ebd.,
S.426) Auf diese Art und Weise werde das Interpretationsspektrum
und damit die Anzahl miteinander konkurrierender Deutungen
eingeschränkt und die Interpretation enger an den jeweiligen
Einzeltext gebunden. Wie man sich eine derartige Textanalyse und
-interpretation am Beispiel eines Einzeltextes vorstellen
kann, hat Engel
(ebd.,
S.425) am Beispiel von Franz Kafkas Erzählung • "Das Urteil (1913)"
dargestellt.
Für die •
Literaturdidaktik kann das von Engel entwickelte Lektüremodell
große Relevanz beanspruchen, weil bei •
modernen Parabeln, bei denen der enge •
Verweisungszusammenhang von Bild- und Sachbereich weitgehend
aufgelöst ist, eben nicht mehr als Brücke der •
Sinnkonstruktion dienen kann. Die Schülerinnen und Schüler
werden jedenfalls damit nicht durch die Vorgabe von stereotypen
Deutungsansätzen auf eine von vornherein äußerst eingegrenzte
Spurensuche geschickt, bei der sie, im Sinne einer
"Nachweisdidaktik", "nur" suchen und finden sollen, was man
schon vorher weiß und dabei ausblendet, was links und rechts des
vorgezeichneten Interpretationspfades liegt. Das Modell bietet
dabei, hier nur anzudeutende Übergänge zur •
Prototypendidaktik (vgl. u. a.
Spinner 2006,
Köster 2015),
die bildliches Denken und das Finden von selbst generierten
Ähnlichkeiten mit all ihren dabei auftretenden Unschärfen in den
Mittelpunkt rückt.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
02.02.2025
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