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Fremdheitserfahrungen im Umgang mit literarischen Texten thematisieren
"Kafkas Tiere", betont Jochen
Thermann (2010),
in seinem Vorwort ,"sind merkwürdige Exemplare. Es sind Künstler und
Philosophen, sie leben in der Erde, stehen auf der Bühne oder lauf ziellos
durch die Stadt. Sie sind gewitzt, verstehen sich auszudrücken, haben
Manieren und bleiben doch Tiere. So sehr der Leser auch das Menschliche in
ihnen erblicken mag, drängt sich mit ihnen mächtiger noch das Tierische der
menschlichen Existent auf. Kafkas Tiergeschichten sind eine Schule der
Wahrnehmung und Experiment der Vorstellungskraft."
Franz
Kafka hatte als Mensch ein zwiespältiges Verhältnis zu Tieren. Er mochte Tiere
durchaus, aber er hatte auch Vorbehalte. Auch sein Vegetarismus und die
abwertende Darstellung von Tieren gehören irgendwie zusammen. In autobiografischen Texten kommt immer wieder
zur Sprache, dass er eine Abneigung gegen Mäuse hatte, die durchaus auch mit
Angst verbunden war.
In den Schriften Kafkas kommen mehr als hundert Tierfiguren vor. Vom Floh,
über Mäuse bis hin zu Riesenschlangen werden die Tiere als märchenhafte und
bloß imaginierte Lebewesen, als Hybridwesen oder auch als Tiere so
präsentiert, wie sie in der Natur vorkommen. Die Tierfiguren Kafkas
unterscheiden sich dabei von denen, die in Märchen und •
Fabeln
vorkommen. So zeigen sie immer wieder unterschiedliche Grundeigenschaften,
sind letzten Endes durchkonstruierte Wesen, die meist Merkmale mehrerer
Tierarten aufweisen. "Im Gegensatz zu den Fabeln wird in den oft extrem
präzisen, quasi-naturalistischen Beschreibungen vor allem ihre
Körperlichkeit und dadurch ihre Animalität akzentuiert, wobei allerdings ihr
menschlicher Bezug von vornherein bemerkbar ist oder sich im Lauf der
Geschichte herausbildet." (Mihály
2020, S.6)
In Kafkas Erzählungen kommen Tiere gelegentlich als Hauptfiguren und
Protagonisten bzw. als Ich-Erzähler vor (z. B. der Affe Rotpeter in •
Ein Bericht für eine
Akademie, die anonyme Maus in • "Josefine,
die Sängerin oder das Volk der Mäuse" (1924), der Hund in den »Forschungen
eines Hundes (1922). Dabei können die Titel schon markieren, dass es
sich um eine Tiergeschichte handelt. Es kommt aber auch vor, dass man erst
bei der Lektüre einer Geschichte merkt, dass der Protagonist kein Mensch,
sondern ein Tier ist.
In seinen Erzählungen gibt es anthropomorphisierte Tiere, die wie Menschen aussehen, sprechen oder
sich wie Menschen verhalten. Es gibt aber auch Tiere, die als Zwitterwesen
aus Teilen verschiedener Tierarten zusammensetzen wie z. B. aus einer
Mischung von Katze und Lamm in •"Eine
Kreuzung". Sie können aber auch aus organischen und
anorganischen Elementen bestehen wie »Odradek
in •"Die Sorge des Hausvaters".
Dieses Wesen ist ein hölzern wirkender, mit verknoteten, bunten Fäden
aufgewickelter »Zwirnstern,
der auf einem seiner Zacken hochkant steht. Als stabilisierendes Bein hat er
ein von der Mitte des Sterns ausgehendes Querstäbchen, dem sich im rechten
Winkel ein zweites anfügt. Und sie können wie Träger von Intentionen
gestaltet sein, wie die •"zwei kleine(n), weiße blaugestreifte(n)
Zelluloidbälle" in der Erzählung •"Blumfeld, ein älterer
Junggeselle".
Kafkas Tierfiguren lassen sich wohl nicht vollständig verstehen und sind in
jedem Falle schwer greifbar. Daher wurden sie auch in der Forschung sehr
unterschiedlich interpretiert, z.B. als Spiegel des Menschlichen, Ausdruck
des inneren Lebens Kafkas, Sinnbilder der Unterdrückten, des Judentums oder
von Sonderexistenzen.
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Spiegel des
Menschlichen: Für
Fingerhut
(1969, S. 27) werden die Tiere nicht um ihrer selbst willen
dargestellt, sondern spiegeln menschliche Eigenschaften und Zustände.
Tiere gelten als "Träger der typisch menschlichen Sehnsüchte" (ebd.,
S.263)
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Autobiografische
Selbstbespiegelung: Sokel
(1964.
1967) sieht in den Tierfiguren Ausdrücke von Kafkas innerem Leben
und seiner persönlichen Erfahrungen und damit "als autobiographische
Selbstbespiegelungen" (Schmitz-Emans
2011, S.167)
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Sinnbilder der
Unterdrückten: Die
Tiere Franz Kafkas werden oft auch als Repräsentanten von Minderheiten,
Ausgestoßenen und Außenseitern interpretiert, z.B. Juden, Künstler oder
Propheten. So hat man z. B. den Affen Rotpeter in seiner Erzählung "•
Ein Bericht für eine
Akademie" als
assimilierten Westjuden gedeutet, der sich an die dominante Kultur
anpasst.
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Psychoanalytische
Deutungen: Die
Tierfiguren werden unter Zugrundelegung des •
Persönlichkeitsmodells von Sigmund Freud (1856 -1939) als
Verkörperungen des •"Es"
oder •"Über-Ichs"
interpretiert.
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Pessimistisches
Menschenbild vs. Stilmittel: Manche
sehen in den Tieren einen Ausdruck von Kafkas pessimistischer Sicht auf
den Menschen, andere betrachten sie als literarisches Mittel zur
Distanzierung und Selbstreflexion.
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Entfremdung: Emrich
(1958, S.108f.) deutet die Tierfiguren als Symbole der Entfremdung
des modernen Menschen von seinem "wahren Selbst", wobei die Tiere einen
ursprünglicheren Bewusstseinszustand repräsentieren.
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Gesellschaftliche
Entfremdung und Selbstkritik: Die
Tierfiguren können auch als Kritik an gesellschaftlichen
Entfremdungsprozessen und Kafkas eigener Autoritätshörigkeit gegenüber
seinem Vater • Hermann Kafka gelesen
werden.
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Das Vergessene als das
Entstellte: Für Walter
Benjamin (1981,
S.431) stehen die Tierfiguren in einem umfassenden Entfremdungsprozess
für das Vergessene und Verdrängte, das in entstellter Form wiederkehrt
und die Probleme der Gegenwart widerspiegelt. Sie stehen für die
Erfahrung des modernen Menschen in einer entfremdeten Welt.
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Parasitäre und
inferiore Konnotationen: Viele von Kafkas Tieren gehören zu
Gattungen, die mit negativen Konnotationen wie Parasitismus, Niedrigkeit
und Inferiorität assoziiert werden. So gelten Käfer und Mäuse oft als
Parasiten, Affen als minderwertige Lebewesen. Immer wieder wird Thematik
des Ungeziefers in seinen Erzählungen thematisiert aufgegriffen.
(vgl.
Schmitz-Emans
2011, S.167ff.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
21.01.2025