Der
literaturdidaktische Umgang mit seinen Parabeln orientiert sich
dabei an unterschiedlichen Konzepten. Sie werden und a) "(wurden) in
der Folge einer wissenschaftlichen Orientierung des
Deutschunterrichts (...) als 'Texte' gelesen (vgl. Zobel 1985) und
analysiert", b) werden "im Gefüge der Kurzprosagattungen betrachtet
(vgl. Schrader 1980)" oder c) "in der Tradition der Gleichnisexegese
(vgl. Bekes 1988) " (Nickel-Bacon
2012, S.107).
Dazu kommen immer wieder gattungsbezogene
Deutungen zum Zuge, die aber nicht unbedingt auf der Höhe der Zeit
sind und in keiner Weise reflektieren, dass sich in ▪
modernen Parabeln der
strukturbildende enge Verweisungszusammenhang von Bild- und
Sachbereich, wie er den
traditionellen Parabeltypus prägt, ▪
aufgelöst hat oder in Auflösung begriffen ist.
Dennoch: Wer die •
Textsortenmerkmale ▪
moderner Parabeln per Definition erfassen will, sollte solche
Definitionen lediglich als
Arbeitsdefinitionen verstehen, die mit ihren Kriterien eine
beschreibende Funktion eines konkreten Textes haben und bestenfalls
als ein
vorläufiger gemeinsamer Nenner angesehen werden können. Dabei
ist es unter diesem Blickwinkel auch vergleichsweise unbedeutend,
welche •
Parabeldefinition als Arbeitsdefinition fungiert, wenn der
normative Geltungsanspruch grundsätzlich hinterfragt wird.
In der Forschung gibt es bis heute keinen Konsens darüber,
welche Texte ▪
Franz Kafkas genau zur Gattung der
▪
Parabel
zu zählen sind. Das hat verschiedene Gründe, liegt vor allem aber
auch daran, was man überhaupt unter einer Parabel, namentlich einer
▪
modernen Parabel versteht.
So gelten denn auch lediglich vierzehn Texte
in der Fachwissenschaft unstrittig als Parabeln (Zymner 2010, S.456): Von den hier im Arbeitsbereich aufgeführten Texten
zählen dazu:
• Der neue Advokat,
▪
Der
Schlag ans Hoftor ▪
Der Aufbruch, •
Der Geier,
▪
Der Schlag ans Hoftor,•
Die
Prüfung, •
Ein altes Blatt, •
Eine kaiserliche Botschaft, •
Ein Hungerkünstler, • Ein
Landarzt, •
Der Steuermann,
• Die Brücke,
•
Gibs auf
und ▪
Vor dem Gesetz.
Das Kriterium, das dabei der Zuordnung von Texten zur Gattung der
Parabel zugrunde gelegt wird, ist das Vorhandensein von •
impliziten Transfersignalen, an denen sich die so genannte
Uneigentlichkeit
parabolischer Texte zeigt und die die globale
Appellstruktur dieser Texte
entfalten.
Auch wenn die "Entdeckung" der impliziten Transfersignale einer
modernen Parabel ermöglicht, "weitgehend vom Text her und ohne
inhaltliche und funktionale Festlegungen, die Erzählgattung
'Parabel' schlüssig" (von
Heyderbrand 2007, S. 11) von anderen mit
expliziten Transfersignalen aufwartenden Kurzformen
vergleichenden Erzählens abzugrenzen, ist ihr analytischer Nachweis,
keine Aufgabe für den Literaturunterricht, sondern für die
Literaturwissenschaft.
Am Text konkret aufzuzeigen, wodurch die Suchbewegung noch einem
Sinn jenseits der Textebene ausgelöst wird, ist oft nicht nur
schwierig, sondern auch dem wissenschaftsorientierten Ansatz einer •"Merkmal-Nachweis-Didaktik" (Leubner/Saupe/Richter (2016)
vorbehalten. Didaktisch gesehen ist das "Auffinden gleichgerichteter
Textelemente" (Zymner 1991,
S.94) bei der schulischen Interpretation von Parabeln wenig
sinnvoll, solange sie nur dazu dienen, den Parabelcharakter auf
Textebene nachzuweisen. Der mühevolle Nachweis, auf welchen
impliziten Transfersignalen die Suchbewegung nach einer textexternen
Bedeutung des Textes beruht, versperrt im Literaturunterricht dabei u. U. auch den
Weg, sich auf die eigentliche Kernaufgabe zu konzentrieren.
Die auf impliziten Transfersignalen
beruhende wissenschaftliche Gattungszuordnung bedeutet allerdings nicht, dass etliche andere kurze Prosastücke
Kafkas, die keine solche Signale aufweisen, nicht auch als Parabeln aufgefasst werden können.
Sie können •
in einem allegorischen Verfahren im Sinne der
Allegorese
durchaus auch parabolisch verstanden werden.
Im Literaturunterricht der Schule
werden jedenfalls eine ganze Reihe weiterer Texte traditionell als
Parabeln aufgefasst, um unterschiedliche Formen und Richtungen von
Suchbewegungen nach dem Sinn der vielfach hermetisch bzw. ▪
strukturell
oder sogar ▪
radikal fremd
erscheinenden Texte auszulösen. Dies impliziert aber auch, dass ein
Leser oder eine Leserin auch mal "auf der Geschichte sitzen"
bleibt (Allemann 1975/1998,
S.129), weil diese sich seinen Sinnzuschreibungen einfach entzieht.
Diesen Texten, zumindest bei der ersten Begegnung, soweit
"voraussetzungslos" begegnen zu können, wie dies nach jahrelanger
Erfahrung mit literarischen Texten im Unterricht möglich ist, gehört
zur Konzeption von
Lernaufgaben, die dem Kompetenzerwerb im Umgang mit
▪
Parabeln Franz Kafkas dienen müssen.
Einfach ausprobieren zu können, was einem zu ihnen einfällt, wenn
man spürt bzw. herausliest, dass das Gesagte nicht das eigentlich
Gemeinte sein kann. ist gerade bei der ersten Begegnung mit Kafkas
Parabeln wichtig.
Dabei
soll die Bedeutung von fundiertem
Gattungswissen für ein vertiefteres Verständnis von
Parabeln
nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, zumal die davon
geleitete kognitive Suchbewegung nach der Bedeutung dieser Texte ein in der Schule durchaus üblicher •
Zugang zu Kafkas kurzen Prosastücken
darstellt.
Der Literaturunterricht setzt nämlich gewöhnlich "ein
grundlegendes Wissen darüber, was Gattungen sind, welche Funktion
und welche Geschichte sie haben und wie man sie adäquat analysieren
kann, in verschiedenen Arbeitsfeldern als selbstverständliche Basis
voraus." (Kaulen
2010, S.95)
Dabei muss
dieses Gattungswissen nicht unbedingt, der merkmalorientierten
"Literaturwissenschaftsdidaktik" (Köster
2015, S.60 unter Bezugnahme auf
Pflugmacher 2014, S. 157f.) folgen.
Man hat ihren "klassischen"
Ansatz, durch Abstraktion gewonnene Merkmale für eine Gattung bzw. ein
Genre an einem konkreten Text nachzuweisen und zugleich anzunehmen, dass
damit Wesentliches zum Textverstehen beigetragen werde, als "Merkmal-Nachweis-Didaktik"
bezeichnet (Leubner/Saupe/Richter (2016),
Kap. 14.3 Unterrichtseinheiten zu Gattungen/Genres. In ihrer •
Kritik wird betont, dass das dabei praktizierte
Auffinden von Textmerkmalen auf der lokalen Textebene wie das "Malen nach Zahlen"
in der Schule "zu einer Art Geschicklichkeitsübung" verkommt.
Das solcherart
oft an die Wand geworfene •
Zerrbild dient vor allem dazu, sich von der klassischen
Literaturwissenschaftsdidaktik abzusetzen, auch wenn die Zeiten der "Merkmalshuberei"
im Literaturunterricht sicher vorbei sind.
Heute
dürfte die Praxis im Umgang mit Kafkas Parabeln wohl eher davon
geleitet sein, durch ▪
eigenes Zutun
der Schülerinnen und Schüler bei der
Rezeption die textexterne ▪
Sinnkonstruktion mit dem Vertrauen darauf anzupacken,
zu einem eigenen Verständnis des Textes zu gelangen.
Indem dabei die von solchen Texten
oft ausgelöste »kognitive Dissonanz
(strukturelle
oder ▪
radikale Fremdheitserfahrungen)
überwunden werden kann, erfahren die Schülerinnen und Schüler, dass in der Vielzahl
der
möglichen Konkretisationen
auch ihr Textverständnis seine Berechtigung besitzt und in der möglichen
Anschlusskommunikation plausibel gemacht werden kann.
Allerdings darf auch nicht erwartet werden, dass sich jede im Umgang
mit Kafkas Parabeln erfahrene kognitive
Dissonanz auflösen lässt. Und trotzdem: Wer Kafkas Parabeln
trotz seiner strukturellen Fremdheitserfahrung ohne weitere
Irritationen und Blockaden verstehen will, muss sich "tiefer" auf
den Text einlassen, selbst auf die Gefahr hin, dass sich das als
strukturell Fremde Erlebte trotzdem nicht immer und vor allem nicht
vollständig erklären und deuten lässt. (vgl. Šlibar
2005, S.82, zit. n.
ebd.) Das gilt
für sämtliche ▪
moderne Parabeln.
Eine wichtige Aufgabe des Literaturunterrichts im Zusammenhang mit
diesen Texten ist es daher ▪
affektive und
volitionale Selbsteuerungsaktivitäten und
• metakognitive Strategien (vgl.
Christmann/Groeben 1999)
zu fördern, die helfen können, über die Unlust erzeugende, kognitive
Dissonanz hinwegzukommen. Gerade weil unsere eigenen
Schemata der
Wahrnehmung, des Fühlens und (sozialen) Handelns in der Regel keine
verlässlichen Orientierungen dafür geben, dem Gelesenen Sinn zu
geben, bleibt das Akzeptieren die prinzipielle Vieldeutigkeit von
Kafkas Texten, denen unter konstruktivistischer Perspektive wie
anderen literarischen Texten ja kein Sinn eingeschrieben ist, den
man "objektiv" herauslesen kann.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
11.10.2024