• Ausgewählte Zugänge zu Franz Kafkas Parabeln
▪
Baustein:
Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden:
Dass einem diese Texte "schräg" vorkommen, ist ganz normal ...
Franz Kafkas •
Parabeln gehören zu den Prosastücken des
Autors, die im • Literaturunterricht der Sekundarstufe II einen festen Platz
haben. Auch wenn es in der Forschung keinen Konsens darüber gibt,
welche Texte Kafkas genau zur Gattung der
Parabel
zu zählen sind: Vierzehn Texte gibt es, über die offenbar nicht mehr
wegen ihrer Gattungszugehörigkeit gestritten wird. Von den hier im
Arbeitsbereich aufgeführten Texten zählen dazu nach der Auflistung
von Zymner
(2010, S.456): •
Der neue Advokat,
▪
Der
Schlag ans Hoftor
▪ Der Aufbruch,
•
Der Geier,
▪
Der Schlag ans Hoftor,•
Die
Prüfung, •
Ein altes Blatt, •
Eine kaiserliche Botschaft,
•
Ein Hungerkünstler, •
Ein
Landarzt, •
Der Steuermann,
• Die Brücke,
•
Gibs auf
und ▪
Vor dem Gesetz.
Das bedeutet allerdings nicht, dass etliche andere kurze Prosastücke
Kafkas nicht als Parabeln aufgefasst werden können und sich einer
parabolischen Deutung entziehen.
Kafkas
Parabeln sind •
moderne
Parabeln, deren ▪
Entwicklung schon mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzt, als
einzelne Autoren, wie z. B. ▪
Friedrich Hebbel
mit seiner Erzählung "▪
Die Kuh", die
Lehrhaftigkeit der traditionellen Parabel bzw. den
▪
Strukturmechanismus der Übertragung vom Bildbereich in den
Sachbereich durchbrochen und einen "Funktionswandel des
parabolischen Sprechens in Richtung auf Desillusionierung,
Irritation und Verfremdung des Vertrauten" vollzogen haben. (Billen
1982 / 2001 S.274f.)
Allerdings weisen die Parabeln vor Kafka "in aller Regel einen rein personalen oder einen
außenperspektivischen Erzählstandpunkt auf" (Zymner 2010,
S.457), bei dem die Parabel-Geschichte von einer distanzierten Mittlerfigur
oder einem personalen Medium dargeboten wird.
Bei Kafkas Parabeln ist
dies hingegen oft anders. Mit der Einführung eines reflektierenden Ichs in die Gattung
ist seine Parabel,
gattungsgeschichtlich gesehen, "eine technische Innovation, die eine
Erweiterung der Möglichkeiten des Parabeltypus mit •
implizitem
Transfersignal darstellt."
(ebd.)
Dieser
innenperspektivische Ich-Reflektor
bietet die Vorgänge so dar, "dass der Leser scheinbar unmittelbar
Kenntnis von Vorgängen und Reaktionen erhält, die im Bewusstsein der
Reflektor-Figur eingefangen werden" (ebd.).
Nicht nur
das macht Kafka zu einem "Klassiker" (Zymner 2010,
S.456)
der •
modernen
Parabel. Hinzukommt, dass er
didaktische Funktion der •
traditionellen Parabel
(Prototyp:•
Gotthold Ephraim Lessings
(1729-1781)
" Ringparabel")
aufgibt und die
•
Erzähler und Leser-Beziehung grundlegend verändert. Ferner
gestaltet er in seinen Parabeln auch andere
•
Themen.
Seine Parabeln
wirken oft in besonderer Weise verrätselt und lösen bei ihren
Rezipientinnen und Rezipienten damit •
unterschiedliche Erfahrungen von Fremdheit aus.
Von ihrem
Typ her betrachtet, lassen sich Kafkas Parabeln als "Entdeckungsparabel" (Zymner
1991, S.272) bezeichnen. Diese zielt darauf, "eine selbständige
Deutung herauszufordern, ohne jedoch den Transfer auf einen Bereich zu
lenken, der einem bestimmten religiösen Traditionszusammenhang
angehört." (Zymner 2010, S.456)
Insofern unterscheiden sich seine Parabeln vom •
traditionellen Typ der so genannten "Erbauungsparabel",
die sich durch eine eng umgrenzte, meist religiös fundierte
Richtungsbestimmung des Parabeltransfers
auszeichnet. (vgl.
ebd.)
Kafkas
Parabeln sprechen nicht ausdrücklich davon, dass ihr eigentlicher Sinn
außerhalb der Textebene zu suchen ist. Sie weisen keine •
expliziten
Transfersignale auf, die den Leser ausdrücklich auffordern, einen
bestimmten Vergleich zu ziehen oder den Sinn des Textes in einem
bestimmten außertextlichen Bereich zu konstruieren.
Dennoch
kann man in vielen seiner Texte irgendwie merken, dass das Erzählte
nicht das eigentlich Gemeinte ist. An irgendeiner oder an mehreren Stellen gibt es im Text,
wie man bildlich sagt, "Stolpersteine",
deren Sinn sich auf der Textebene allein nicht erschließt. Natürlich
kann man auch darüber hinweg lesen, eine Garantie, dass ein solcher Text
damit überhaupt als Parabel verstanden wird, gibt es nämlich nicht. Wer,
aus welchen Gründen auch immer,
nicht ins Stolpern kommt, wird sich auch nicht auf die Spurensuche
nach einem über den Text hinausgehenden Sinn machen.
Im
Literaturunterricht kann dies durchaus vorkommen, vor allem, wenn man es
erstmals mit einer Parabel Franz Kafkas zu tun bekommt. Aber selbst in
einem solchen Fall haben die Schülerinnen und Schülern gewöhnlich schon
einschlägige Erfahrungen mit strukturähnlichen Texten wie Fabeln und
Gleichnissen gemacht, in denen das Dargestellte nicht das Gemeinte ist.
Die erste Begegnung mit einer Entdeckungsparabel Franz Kafkas ist nicht
die "Stunde Null" des Umgangs mit "Uneigentlichkeit", einem etwas
holprig klingenden Begriff, mit dem man in der Wissenschaft Texte und
textliche Phänomene bezeichnet, die "eigentlich" etwas anderes meinen.
Die
Stolpersteine, von denen bisher die Rede war, sind Signale, die die
"Uneigentlichkeit" solcher Texte auf der Textebene signalisieren.
Vorausgesetzt man nimmt sie
überhaupt als solche wahr lösen sie eine gedankliche
Suchbewegung aus, die z. B. in der Frage münden kann: Was könnte mit dem
"Stolperstein" in einem übertragenen Bedeutungszusammenhang gemeint
sein?
Stolpersteine
dieser Art werden als Transfersignale bezeichnet. Dies sind Wörter
oder Formulierungen, denen ein kompetenter Leser eine Suchanweisung
entnimmt. In Kafkas Parabel handelt es sich um ▪
implizite Transfersignale.
Das bedeutet, dass sie nicht ausdrücklich vorgeben, welcher Vergleich
gezogen oder wo und wie der Sinn des Textes in einem bestimmten
außertextlichen Bereich konstruiert werden soll. Dies bleibt völlig
offen.
Wenn man
allein den Text zur Gattungsdefinition heranzieht, macht das
Vorhandensein ▪
impliziter Transfersignale
einen Text zu einer modernen Parabel, weil sie den Leser in ihrer
Funktion als Stolperstein auffordern,
den eigentlichen
Sinn des Textes außerhalb des Textes zu konstruieren und damit
dem Text eine neue Bedeutungsrichtung zu geben. Meistens kommen dazu
mehrere Textstrukturen zusammen. (vgl. Zymner 1991,
S.93 f.)
Bei Kafkas Parabeln
zählen bei der von ihm oft besonders stark ausgeprägten
personalen
Erzählsituation, "die systematische Inkohärenz in der Raum-, Zeit-,
Figuren- und Handlungsgestaltung sowie die parabeltypische Kürze"
(Zymner 2010, S.457) dazu.
Wohlgemerkt: Die
Existenz von Transfersignalen sagt aber nichts darüber aus, in welchem
textexternen Zusammenhang dem Text Bedeutung gegeben werden kann. Daher
lässt sich mit ihnen angesichts der prinzipiellen Deutungsoffenheit von
Parabeln auch nicht sagen, welche •
Spielräume dem Leser bei seiner eigenen Sinnkonstruktion bleiben.
Sie sind zunächst nicht
mehr als Aufforderungen, den Sinn des Textes jenseits der Textebene zu
konstruieren, legen aber damit keineswegs fest, dass ein bestimmter Text
nur eine, ihm beim jeweiligen Transfer zugewiesene Bedeutung haben kann.
Solche mehr oder weniger normativen Festlegungen leiten angesichts der
Sinnverweigerung, die sich bei modernen Parabeln oft schon auf lokaler
Textebene, ansonsten aber auf der globalen außertextlichen Ebene zeigt,
in die Irre.
Wie man als einzelner
Kafkas Parabeln versteht, ist damit auch
individuell sehr verschieden und von textseitigen aber auch
textexternen Faktoren abhängig. Im Grunde genommen muss diese
Sinnkonstruktion ihre Plausibilität ja nur in der
Anschlusskommunikation, d. h. bei der Verständigung mit
anderen Lesern über den Text erweisen, und auch die, das sei an
dieser Stelle gesagt, ist wiederum Ergebnis unterschiedlichster
Faktoren.
Für die Interpretation
von Kafkas Parabeln im Literaturunterricht dürfte trotz der Bedeutung ▪
impliziter Transfersignale
für die Gattung ihr Nachweis im Text eher nebensächlich sein, zumal dies
selbst Literaturwissenschaftler*innen schwer fällt, weil die oben als
Stolpersteine beschriebenen Erscheinungen auf Textebene oft eben nur
Unebenheiten darstellen, die sich ohne all zuviel Mühe einebnen lassen.
Wie man bei der eigenen
Spurensuche nach dem "tieferen" Sinn versucht, einen passenden Zugang zu
einem vertiefteren Verständnis zu finden, das in der
Anschlusskommunikation im Vergleich mit anderen
Lesarten
intersubjektiv Geltung erlangen kann, kann dabei sehr unterschiedlich
sein.
Oft
geht man • kognitiv-analytisch
vor. Dann kommen die einen von ihrem Wissen über den Autor her, andere
bevorzugen ihr Wissen um die Gattung Parabel, andere gehen den Weg über
die Themen der Texte, wieder andere ziehen z. B. den historisch-sozialen
oder den literaturgeschichtlichen Kontext heran und andere folgen der so
genannten "Findekunst", in dem sie sich auf die Suche nach ähnlichen
Texten unterschiedlicher medialer Art machen.
Dabei muss man aber
auch immer berücksichtigen, dass nicht jeder Zugang oder Ansatz zur
Interpretation sich gleichermaßen gut für die eigene
Bedeutungskonstruktion eignet. Je mehr Erfahrung man im Umgang mit
solchen Texten gewonnen hat, desto leichter fällt einem die Entscheidung
zwischen den verschiedenen Zugängen.
Dabei soll
die Bedeutung von fundiertem Gattungswissen für ein vertiefteres Verständnis von
• Franz Kafkas •
Parabeln
nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, zumal die kognitive
Suchbewegung nach der Bedeutung dieser Texte, die von ihrer •
Appellstruktur
ausgeht, ein in der Schule durchaus üblicher •
Zugang zu Kafkas kurzen Prosastücken darstellt.
Wir gehen nämlich bei der Rezeption von Texten mit unserer eigenen
"subjektiven Theorie" vor (vgl.
Köppe/Winko (2008,
S.2). Man hat dies im Unterschied zu wissenschaftlichen Theorien
Folk-Gattungstheorien genannt und versteht darunter einerseits subjektive,
andererseits aber doch "auch mehr
oder weniger sozial verfestigte Annahmen oder Wissensbestände, die die
Wahrnehmung und auch der Verständnis von Gattungen bestimmen." (Zymner 2010a,
S.3.)
Es handelt sich dabei um implizite Vorannahmen oder Vorurteile, mit denen jeder Leser /
jede Leserin an Texte herangeht, ohne dass ihm diese bei der Rezeption
zunächst einmal bewusst sind. (Köppe/Winko (2008,
S.2). Anders ausgedrückt: Wir nehmen Texte durch die Brille
der ▪ Gattungszuschreibung wahr und
versuchen sie auf deren Grundlage kognitiv zu verarbeiten. (vgl.
Zymner 2010a,
S.2)
Dabei muss
dieses Gattungswissen nicht unbedingt, der •
merkmalorientierten
"Literaturwissenschaftsdidaktik" (Köster
2015, S.60 unter Bezugnahme auf
Pflugmacher 2014,
S. 157f.) folgen, auch wenn es dafür, insbesondere im
Literaturunterricht der Sekundarstufe II durchaus gewichtige •
Argumente
gibt. So wird u. a.
vorgebracht, dass im Leistungsraum
schulischen Lernens, vor allem in den höheren Jahrgangsstufen, bei
Klausuren und Prüfungen, vor allem die
wissenschaftsorientierten Ansätze dominieren, das sie "dem Erwerb einer verbindlichen
Beschreibungssprache verpflichtet" sind, was nicht nur eine "rationale
und transparente Verständigung ermöglicht, sondern auch zum Verfassen
von Metatexten befähigt." (Köster
2015, S.60) Und auch der kompetenzorientierte Literaturunterricht
sieht in der Anwendung von Merkmalskatalogen mit ihrem hohen
Transferpotenzial auf Texte eine besonders ausgeprägte Form der
Verbindung von Wissen und Können, das sich sich dazu auf
unterschiedlichen Kompetenzniveaus formulieren lässt.
In der Praxis des
Literaturunterrichts, so wie wir sie sehen, ist jedenfalls eine • "Merkmalshuberei"
heute eher die Ausnahme.
Trifft man bei der Beschäftigung mit
• Franz Kafkas •
Parabeln
erstmals auf
diese Gattung bzw. den ▪
Typ
der modernen Parabel, sieht die subjektive Theorie, der man bei
der Sinnzuschreibung folgt, anders aus, als wenn man z. B. schon
eine Reihe von ▪
Fabeln,
▪
Gleichnissen, ▪
traditionellen Parabeln und ▪
Kurzgeschichten gelesen und sich gegebenenfalls mit ihren
Gattungs- bzw. Textsortenmerkmalen im schulischen
Literaturunterricht vertraut gemacht hat. Wahrscheinlich ist dabei
auch eine Vorstellung über die "Uneigentlichkeit"
entstanden, welche die genannten Textsorten außer den
Kurzgeschichten kennzeichnen.
Kann
ein Text Kafkas mit dem Vorwissen, dass es sich um eine moderne
Parabel handelt, analysiert werden, kann man deren ▪
Merkmale,
▪
Themen,
▪
Kennzeichen der Erzähler-Leser-Kommunikation und andere
Besonderheiten, wie z. B. die
typische Auflösung eines Bedeutungszusammenhangs von Bild- und
Sachbereich bei der weiteren Textarbeit in den Prozess des
Textverstehens einfließen lassen und dadurch u. U. einen Schlüssel
für den zunächst
strukturell fremd wirkenden Text finden.
Ergebnis einer auf dem Gattungswissen beruhenden
Herangehensweise sollte sein, sich auf die Suche nach jenen
Elementen des Textes zu machen, die eine parabolische
Lesart des
Textes nahe legen. Ziel dieser vom Text ausgehenden kognitiven
Suchbewegung ist es, den eigentlichen Sinn von
verrätselten Parabeln wie denen von Franz Kafka nicht auf der
Textebene, sondern im Bezug auf Außertextliches zu suchen.
Um diese
Appellstruktur eines parabolischen Textes aber überhaupt zu
erkennen, muss man, da Kafkas Parabeln keine expliziten
Aufforderungen dazu stellen, die Stellen in einem solchen Text
wahrnehmen, die darauf hinweisen, dass etwas anderes gemeint ist,
als das, was sich einem unter Umständen zunächst als Sinn der
Geschichte aufdrängt. Mit dieser Vermutung, dass das Erzählte wohl
nicht das Gemeinte sein soll, kann man sich auf den Weg machen, die
parabolische Appellstruktur über so genannte gleichgerichtete Inkohärenzen als
Transfersignale zu erschließen (vgl.
Zymner 1991,
Nickel-Bacon 2014).
• Ausgewählte Zugänge zu Franz Kafkas Parabeln
▪ Baustein:
Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden:
Dass einem diese Texte "schräg" vorkommen, ist ganz normal ...
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
09.10.2024