Franz Kafkas •
Parabeln gehören zu den Prosastücken des
Autors, die im • Literaturunterricht der Sekundarstufe II einen festen Platz
haben.
Moderne Parabeln,
zu denen die
▪ Parabeln Franz Kafkas
zählen, kommen vielen
Leserinnen und Lesern zunächst einmal unverständlich oder
zumindest eigenartig vor. Und die negative Weltsicht, die meist aus
ihnen spricht, wirkt oft verstörend. Seine Texte, ihre Themen,
Inhalte und Strukturen, wenn man so will, seine ganze "verfremdend-reduzierten Dichtungsweise" (Allemann
1975/1998, S.146) erscheinen auf dem Hintergrund des eigenen Horizonts
fremd.
Wer
über diese Erfahrungen von Fremdheit hinwegkommen und zu einem
vertiefteren Textverständnis gelangen will, muss sich auf eine Spurensuche
nach der Bedeutung des Textes begeben. Diese kann damit beginnen,
dass man herauszufinden versucht, ▪
warum
einem der Text
so fremd vorkommt.
Bei den Parabeln Kafkas dürfte dies im
allgemeinen weniger die Erfahrung so genannter ▪
alltäglicher Fremdheit sein.
Davon spricht man, wenn man bestimmte Wissenslücken hat, die dem
Textverständnis entgegenstehen. Vielleicht fehlen einem Kenntnisse über
die Orte, an denen das Geschehen spielt, oder man kennt die historischen
Bezüge nicht, die der Text enthält. Manchmal kann man auch mit den Namen
von Figuren nichts anfangen. Solche Wissenslücken kann man
vergleichsweise einfach schließen. Dazu muss man nur auf Wikipedia oder andere Lexika
zurückgreifen. Gut, wenn man weiß, dass raum-zeitliche Angaben In Kafkas Parabeln in der Regel
nicht über den Text hinaus verweisen. Orte also irgendwo außerhalb
des Textes zu suchen, von denen im Text die Rede ist, führen daher zu
nichts. Raumangaben in Kafkas Parabeln haben im
Rahmen des Textes nur eine topografische Funktion und sind, wie die
Zeitangaben auch, symbolisch bzw.
allegorisch zu
verstehen.
Da sie auf viele Schülerinnen und Schüler
• fremd, unverständlich und irritierend
wirken, kommt es darauf an, »kognitive
Dissonanzen
mit ihren meist demotivierenden
Folgen, sich überhaupt weiter auf sie einzulassen, entgegenzuwirken.
Um dies zu erreichen, sollten die Schülerinnen und Schüler
unterschiedliche Zugänge zu diesen Texten kennen lernen und befähigt
werden, ihre Bedeutung für die eigene Sinnkonstruktion zu reflektieren.
In diesem Arbeitsbereich werden dazu verschiedene •
Zugänge zu Kafkas Parabeln
behandelt und dabei in drei Gruppen eingeteilt:
Bei den
kognitiv-analytischen Zugängen werden die •
Zugänge über die
Person Franz Kafkas und • Zugänge über das
Gattungswissen im Literaturunterricht der Sekundarstufe
II wohl am häufigsten genutzt.
Zugänge über das
Gattungswissen werden vielfach sehr kritisch gesehen,
weil sie die Rezeption in einem Top-Down-Verarbeitungsprozess steuern
und Schülerinnen und Schüler bei der Analyse von Parabeln zur
schematischen Abarbeitung von Merkmalen verleiten kann, die sie
vorgegebenen Merkmalskatalogen entnehmen. Diese als Folge der • "Merkmals-Nachweis-Didaktik"
auftretende Erscheinung soll mit der •
Prototypendidaktik (vgl. u. a.
Spinner 2006,
Köster 2015),
die bildliches Denken und das Finden von selbst generierten
Ähnlichkeiten mit all ihren dabei auftretenden Unschärfen in den
Mittelpunkt rückt, vermieden werden.
Es
lohnt sich daher einzelne didaktische Fragen und Probleme, die sich
im Zusammenhang mit der Bedeutung
▪
literarischer
Gattungen im Allgemeinen, mit unterschiedlichen ▪
Gattungskonzepten und mit der
Verwendung von ▪
Gattungen und Gattungsbegriffe im
schulischen Literaturunterricht
auch im Zusammenhang mit der unterrichtlichen Behandlung von ▪
Franz Kafkas ▪
Parabel wenigstens aufzuzeigen.
Ausgangspunkt der Überlegungen hierzu ist zunächst einmal die
Feststellung, dass Schülerinnen und Schüler auch bei der Lektüre einer ▪
Parabel ▪
Franz Kafkas nie voraussetzungslos mit dem umgehen, was
sie lesen.
Dabei spielen
insbesondere Vorstellungen von Themen, Inhalten und Strukturen ▪
literarischer Gattungen
eine besonders wichtige Rolle, die wir im Laufe unserer ▪
Lesesozialisation erwerben.
Diese können kognitionspsychologisch auch als
mentale Modelle
oder Schemata beschrieben
werden, mit denen wir bestimmte Eigenarten, Gemeinsamkeiten oder
Funktionen in einer Mehr- bzw. Vielzahl von Erscheinungen erfassen.
Sie helfen dabei, dass wir uns in der Vielzahl von Reizen, die auf
uns einwirken, orientieren und dass wir in unseren Innen- wie
Außenwelt handeln können. Das ist beim Umgang mit Texten im Grunde
nicht anders.
Wir gehen nämlich bei der Rezeption von Texten mit unserer eigenen
"subjektiven Theorie" vor (vgl.
Köppe/Winko (2008,
S.2). Man hat dies im Unterschied zu wissenschaftlichen Theorien
Folk-Gattungstheorien genannt und versteht darunter einerseits subjektive,
andererseits aber doch "auch mehr
oder weniger sozial verfestigte Annahmen oder Wissensbestände, die die
Wahrnehmung und auch der Verständnis von Gattungen bestimmen." (Zymner 2010a,
S.3.)
Es handelt sich dabei um implizite Vorannahmen oder Vorurteile, mit denen jeder Leser /
jede Leserin an Texte herangeht, ohne dass ihm diese bei der Rezeption
zunächst einmal bewusst sind. (vgl. Köppe/Winko (2008,
S.2). Anders ausgedrückt: Wir nehmen Texte durch die Brille
der ▪ Gattungszuschreibung wahr und
versuchen sie auf deren Grundlage kognitiv zu verarbeiten. (vgl.
Zymner 2010a,
S.2)
Trifft man bei der Beschäftigung mit Kafkas Parabeln erstmals auf
diese Gattung bzw. den ▪
Typ
der modernen Parabel, sieht die subjektive Theorie, der man bei
der Sinnzuschreibung folgt, anders aus, als wenn man z. B. schon
eine Reihe von ▪
Fabeln,
▪
Gleichnissen, ▪
traditionellen Parabeln und ▪
Kurzgeschichten gelesen und sich gegebenenfalls mit ihren
Gattungs- bzw. Textsortenmerkmalen im schulischen
Literaturunterricht vertraut gemacht hat. Wahrscheinlich ist dabei
auch eine Vorstellung über die "Uneigentlichkeit"
entstanden, welche die genannten Textsorten außer den
Kurzgeschichten kennzeichnen.
Schülerinnen und
Schüler bringen, wenn sie sich •
ab der späten Sekundarstufe I
bzw. in der Sekundarstufe II mit ▪
modernen Parabeln im Literaturunterricht befassen, also schon
Vorwissen über die so genannte uneigentliche Sprachverwendung bzw. "Uneigentlichkeit" mit.
Gewöhnlich haben sie uneigentliches Sprechen schon in zahlreichen
Kommunikationssituationen, z. B. bei der Verwendung von
Metaphern
oder mit ironischen Bemerkungen erlebt und selbst erprobt. Sie
wissen also aus eigener Erfahrung, dass es Wörter, Redewendungen und
"Geschichten" gibt, die etwas anderes bedeuten als das, was zunächst
nahe liegt.
Und viele von ihnen
haben auch schon im Rahmen ihrer ▪
Lesesozialisation
mit ▪
vielfältigen
Leseerfahrungen mit Texten gemacht, in denen einzelne Wörter oder Wendungen
(z. B.
Metapher,
Metonymie,
Ironie) auf
eine zu übertragende Bedeutung verweisen (punktuelle
Uneigentlichkeit).
Auch die Tatsache, das einzelne Teile eines
Textes "eigentlich" etwas anderes bedeuten können, als sie zunächst
vermuten lassen (z. B.
Symbole,
Allegorien
oder auch
Personifikationen), dürfte ihnen aus eigener privater
Leseerfahrung und/oder aus dem Literaturunterricht bekannt sein (partielle
Uneigentlichkeit). Und auch mit
globaler Uneigentlichkeit ganzer Texte haben sie im Umgang mit •
Fabeln und •
Gleichnissen im Unterricht der Sekundarstufe I schon zu tun
gehabt.
Bei •
Fabeln und •
Gleichnissen haben sie dabei gelernt, sich darauf verlassen zu
können, dass sich, wenn man den expliziten Signalen
(Transfersignalen) folgt, die einem die Richtung angeben, wo das
eigentlich Gemeinte zu finden ist, sich der "eigentliche" Sinn des
global uneigentlich daherkommenden Textes ergibt. Voraussetzung
dafür ist allerdings, dass die Schülerinnen und Schüler über den
fest gefügten, bei vielen älteren Texten religiös
fundierten, an moralischen und gesellschaftlichen Normen
orientierten Bezugsrahmen mit seinem mehr oder weniger geschlossenen System
verfügen können,
auf den sie sich mit der intendierten Lehre dieser Texte beziehen
können. Dies kann aber angesichts der heute herrschenden
gesellschaftlichen Heterogenität nicht immer vorausgesetzt werden.
Wo dies aber gelingt, können sich die Schülerinnen und Schüler auch
den •
besonderen Spielregeln der literarischen Kommunikation dieser Texte
fügen und Orientierung durch Einnahme der Schülerrolle in der
vom Text geschaffenen •
hierarchischen Lehrer-Schüler-Beziehung finden.
Die
kognitiven Schemata der globalen "Uneigentlichkeit" in Texten
bilden sich also in der Regel an verschiedenen •
Prototypen von •
Fabeln und •
Gleichnissen sowie ▪
traditionelllen
(didaktischen) Parabeln) heraus, die entweder •
explizite Transfersignale
aufweisen oder aber aus anderen Gründen als global uneigentlich
rezipiert werden. Sie geben die Richtung der •
Sinnkonstruktion vor, die im Idealfall mit der vom Erzähler
festgelegten Textintention identisch ist und die dessen
Vorstellungen durch die analoge ▪
Übertragung des Bildbereichs in den (gewünschten) Sachbereich
nachvollzieht. Das dabei erworbene ▪
Gattungswissen wird angesichts ihres ▪
großen Transferpotenzials mit entweder selbst an Prototypen
erstellten oder vorgegebenen •
Merkmalkatalogs
mental repräsentiert.
Die globale
Uneigentlichkeit, mit der es die Schülerinnen und Schüler allerdings
mit ▪
modernen Parabeln
zu tun bekommen, stellt solche ▪
Strukturschemata
als ▪
Organisationsstrategien
beim Lesen in gewisser Hinsicht auf den Kopf. Die von solchen Texten
ausgelöste »kognitive
Dissonanz, d. h. die Erfahrung, dass das, was man gelesen hat,
einfach nicht so kognitiv zu verarbeiten ist, wie man das gewohnt ist,
ist nicht nur ungewöhnlich und mit der Erfahrung ▪
struktureller oder sogar ▪
radikaler Fremdheit verbunden.