In der
▪
modernen Parabel ist die hierarchische Beziehung von Erzähler und
Leser der Vergangenheit, die die
literarische Kommunikation bei traditionellen Parabeln
kennzeichnet, aufgehoben. Moderne Parabeln verfolgen auch keine
didaktische Funktion, die ein solches Lehrer-Schüler-Verhältnis
zwischen Erzähler und Leser begründet.
Nicht
nur dass Intentionen und Themen gänzlich andere sind: Die modernen
Parabel strukturiert auch die Erzähler-Leser Beziehung ganz anders.
Bei ihr müssen Erzähler und Leser
auch nicht den gleichen Bewusstseins- und Erwartungshorizont teilen
und sich über die Stellung und Bedeutung der dazu gehörigen Elemente
ihres Welt- und Menschenbildes verständigen können.
Schon die ersten Vertreter der modernen Parabel
(z. B. ▪
Friedrich Hebbel)
haben sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der
hierarchischen Erzähler-Leser-Kommunikation abgesetzt und einen "Funktionswandel des parabolischen
Sprechens in Richtung auf Desillusionierung, Irritation und
Verfremdung des Vertrauten" vollzogen (Billen
1982 / 2001 S. 274f.) Sie
kehrten damit dem in der Tradition der ▪
Aufklärung
stehenden Lehrer-Schüler-Verhältnis von Erzähler und Leser der
Parabel den Rücken.
Während nämlich der Erzähler in der ▪
traditionellen Parabel aufgrund eines "Wissens um die Wahrheit die
Wirklichkeit zu deuten vermochte", bietet er dem Leser in den neuen
Typen "kein gültigen Antworten" mehr an, wiewohl er ihn dennoch
"durch die Irritations- und Innovationskraft des Erzählten dazu
bringen" will, selbst die "Frage nach dem Sinn seines eigenen
Daseins" zu stellen und selbst "nach Antworten zu suchen". (ebd.,
S.277)
Bei modernen
Parabeln des 20. Jahrhunderts wie denen von ▪
Franz Kafka
setzt sich diese Entwicklung fort, so dass wie ein "Gegentypus zu ihren fast zweitausend Jahre alten
Vorbildern" (ebd.,
S.253) daherzukommen scheinen.
Die Aufgabe des
Lehrer-Schüler-Verhältnisses führt zu einer Art neuen "Partnerschaft"
zwischen Erzähler und Leser in der literarischen Kommunikation. Dabei geht das Konzept der Parabel nur
auf, wenn der Leser selbst seine aktive Rolle auf allen Ebenen der
Sinnfindung einnimmt.
"So wie der Erzähler der
modernen Parabel nicht mehr als Lehrer in der nur temporär
übernommenen Rolle des Erzählers zu verstehen ist, wird auch dem
Leser nicht mehr die Rolle des Schülers zugemutet, sondern er ist
ein
Partner, der die Bildhälfte selbst in Richtung auf
seine
Sachhälfte weiterführt oder zu Ende führt.“ (Billen
1982 / 2001, S.286)
Die Notwendigkeit
die Bildhälfte auf die jeweils individuell zu konstruierende
Sachhälfte weiter- und zu Ende zu führen, hat dabei auch für die
Sinnbildung auf lokaler Textebene Bedeutung. Dies gilt vor allem
dann, wenn das dargestellte Geschehen der Bildhälfte selbst erstmal
keinen Sinn zu machen scheint und sich auch mit verschiedenen ▪
Leseweisen (Lesetechniken)
und/oder ▪
Organisationsstrategien
nicht einfach "herbeilesen" lässt.
Dies lässt sich
auch unter Hinzuziehung des ▪
Construction-Integration-Model,
abgekürzt CI-Modell, einem psychologischen Prozessmodell des
Textverstehens erklären, das gut verdeutlicht, "wie Vorwissen
und Textinhalte im Lesenverstehensprozess zusammenspielen." ((Philipp
2015b, S.217),ebd.)
"Normalerweise"
verfügt ein ein Text auf ▪
mikrostruktureller Ebene (Mikro-)Propositionen,
welche mit bestimmten Signalen (skripto- und
typograhische Signale auf der Sprachoberfläche, mit allen
Arten von ▪
Kohäsionsmitten,
darunter ▪
Koreferenzen,
▪
rhetorischen Relationen und
mit kausalen, temporalen,
adversativen, und additiven
Verknüpfungswörtern/
▪
Konnektiva)
einen Bedeutungszusammenhang, z. B. eine zeitliche Abfolge von
Handlungen und/oder ihre kausale Relation, ergeben.
Doch bei modernen
literarischen Texten, namentlich auch modernen Parabeln, ist dies
eben nicht immer der Fall. Daraus ergibt sich unter Umständen also
auch die Notwendigkeit, als Partner des Erzählers auch die
Bildhälfte so weiterzuführen, dass sie zu der von einem Leser
konstruierten Sachhälfte passt.
Besitzt die Parabel
nämlich keine oder nur wenige mikrostrukturelle Signale, "stolpert"
man eventuell beim Lesen, weil man diese Kohärenzlücken nicht zu
schließen weiß. Damit dies aber nicht zu einer maßgeblichen
Beeinträchtigung des Textverstehens führt, muss muss ein Leser, um
den Text kognitiv verarbeiten zu können, selbst Kriterien finden,
nach denen er die Mikropropositionen ordnet.
Das geschieht mit
sogenannten ▪
Makroregeln, die durch Auslassen,
Auswählen, Verallgemeinern und Konstruieren bestehende
Mikropropositionssequenzen zu Makropropositionen verdichten
können. (Christmann
2015, S.172) Meistens kann man allerdings nicht alle
"Ungereimtheiten" auf der Mikrostrukturebene auflösen. So kommt es
immer wieder vor, dass bei der
Herstellung einer Makrostruktur auch Mikropropositionen auf der
Strecke bleiben. Sie besitzen eben dann für die Makrostrukturbildung keine Relevanz oder
können nicht in den übergeordneten Bedeutungszusammenhang der
Makrostruktur gebracht werden. Grundsätzlich beliebig ist allerdings
nicht, wie die "Textlöcher" (Linke
u. a. 1994, S.226) bzw. "Kohärenzlücken" (Christmann
2015, S.173) geschlossen werden. Sie sollten einen nachweisbaren
Textbezug haben, sind in jedem Fall begründungspflichtig und müssen
zumindest plausibel gemacht werden.
Die Art der Makropropositionen, die konkrete Gestalt der
Makrostruktur und die Frage, wann sie beim Lesen herausgebildet
wird, hängt von etlichen textseitigen und leserseitigen Faktoren
ab. Das sind z. B. Art und subjektive Schwierigkeit des
Textes, Erwartungen und Ziele des Lesers und sein
Wissen
unterschiedlichster Art (z. B.
Weltwissen, aktives Wissen,
Erfahrungswissen,
Fachwissen,
Sprachwissen,
Textmusterwissen,
thematisches Wissen).
Schwierigkeiten, die beim Textverstehen auftauchen können, weil es
einem nicht hinreichend gelingt, existierende Kohärenzlücken in
einem Text durch eigenaktive Konstruktion ihres
Bedeutungszusammenhangs zu schließen, sind im Übrigen in der Regel
auf der Ebene der Makrostruktur weitaus gravierender als bei den
Mikropropositionen.
Schafft man es bei
den Mikropropositionen auf der lokalen Textebene also hin und wieder nicht,
die Bedeutung einzelner Textaussagen zu erschließen, dann ist das
nicht so gravierend und muss das Verständnis der
▪
Textbasis nicht unbedingt sehr
beeinträchtigen. (vgl.
Christmann
2015., S.173) Der "Misserfolg" bei der Mikropropositionsbildung kann
aber durchaus Auswirkungen auf die Lesemotivation haben.