▪
arbeitstechnik lesen
▪
Lesekompetenz
▪
Verstehen von Texten
▪
Lesen und Behalten: Die Bedeutung der
Textoberflächenstruktur
▪
Hermeneutischer Zirkel
Textverstehen als hierarchische ablaufende, regelgeleitete kognitive
Prozesse
Wenn wir etwas lesen,
haben wir gewöhnlich den Eindruck, wir nähmen den Text, sieht man einmal
von der Augenbewegung oder bestimmten manuellen Tätigkeiten (festhalten,
blättern, antippen oder anklicken) ab, vergleichsweise passiv auf. Doch
das ist ein Irrtum, wie man schon seit längerem weiß. Lesen findet
nämlich nie ohne unser aktives Zutun statt. Wenn wir den Sinn eines
Textes entschlüsseln und verstehen wollen, sind wir nämlich sehr aktiv.
Und ohne unser Zutun, das aus einer Mixtur verschiedener Elemente
besteht, die wir beim Lesen aus dem Gedächtnis abrufen und/oder
aktivieren, könnten wir das, was ein Text (für uns) bedeutet, überhaupt
nicht erschließen.
Lesen ist unter dem
Blickwinkel des Textverstehens also ein Prozess, der sich in einer
Text-Leser-Interaktion auf der Grundlage von Wechselwirkungen vollzieht,
die "zwischen den Merkmalen des vorgegeben Textes (z. B. Syntax,
Struktur, Inhalte, Verständlichkeit, Anregungsgehalt) und der
Kognitionsstruktur des Rezipienten (z. B. Vorwissen, Erwartungen,
Zielsetzungen und Interessen" bestehen. (Christmann
2015, S.170, vgl.
Christmann/Groeben 1999/2001, S.146)
Bottom-up- und
Top-Down-Verarbeitung beim Lesen
Diese Wechselwirkung
vollzieht sich im Rahmen unserer ▪
visuellen Wahrnehmung beim Lesen in der Text-Leser-Interaktion grundsätzlich "immer auch
als die Verschränkung von textgeleiteten, 'aufsteigenden' Prozessen (bottom
up: von der Textinformation zum rezipierten Wissen) und andererseits
konzept- bzw. erwartungsgeleiteten, 'absteigenden' Prozessen (top down:
vom Vorwissen zum konkreten Textverständnis)"
(Christmann/Groeben 1999/2001, S.146).

Grundsätzlich muss man beim Lesen und Textverstehen die zwei Hauptaspekte
beachten:
Aufsteigende
Verstehensprozesse
bottom up - induktiv |
Absteigende
Verstehensprozesse
top down - deduktiv |
Prozess "von unten nach oben"
von Daten ausgehend zur Interpretation der Daten
|
Prozess "von oben nach
unten"
von Interpretationen (Vorerwartungen, Erwartungsrahmen,
Erwartungshorizont) ausgehend zur Erkennung oder Verarbeitung
von Begriffen und Strukturen
-
Bestätigen oder Verändern
von bestehenden Vorerwartungen im Prozess der sprachlichen
Informationsvermittlung
-
Fortwährender Auf- und
Umbau des Erwartungsrahmens während des
Verstehensprozesses (z.B. beim Lesen)
|
Die unterschiedliche Bedeutung der beiden Verstehensprozesse wird
insbesondere bei sogenannten Fehllesungen sichtbar.
Wer sich z.B.
in einem Namen eine falsche Buchstabenfolge angeeignet hat (aufsteigender
Prozess), bekommt diese nur noch unter Schwierigkeiten los, weil man ja
beim Lesen längst schon weiß (absteigender Verstehensprozess), wie der
Name (angeblich) lautet. Ebenso verhält es sich im Zusammenhang mit der
Schwierigkeit, eigene Rechtschreibfehler zu erkennen. (vgl.
Linke
u. a. 1994, S.354f.)
Lesen als
sinnkonstruierender Prozess: Construction-Integration Model
Wie es dazu kommt, dass wir beim Lesen eines Textes, diesen Text auch
verstehen, lässt sich mit dem psychologischen Prozessmodell des
Textverstehens beschreiben, das Walter Kintsch und
»Teun van
Dijk entwickelt haben. Das Modell trägt den Namen "Construction-Integration-Model",
abgekürzt CI-Modell, und "umfasst eine große Bandbreite hierarchisch
ablaufender, regelgeleiteter kognitiver Prozesse" (Philipp
2015b, S.217), und kann vor allem gut verdeutlichen, "wie Vorwissen
und Textinhalte im Lesenverstehensprozess zusammenspielen." (ebd.)
Mit zwei Kategorienpaaren wird dabei das Textverstehen unter die Lupe
genommen: Mikro- und Makrostrukturen eines Textes und die Textbasis und
Situationsmodell.

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Wie dieses Schema zu
lesen ist, hat
Scherner (2006, S.74f.) anschaulich beschrieben: "Es beantwortet
modellhaft die Frage, was passiert, wenn ein 'Kopf' (mit seinen Schemata
vielfältiger Provenienz) und ein 'Text' (als Wahrnehmungsangebot)
'zusammenstoßen' (Lichtenberg). Zwischen diesen beiden Polen verlaufen
Pfeile in beide Richtungen, vom 'Text' zur 'Kognition' (bottom up:
textgeleitet) und umgekehrt von der 'Kognition' zum 'Text' (top down:
wissensgeleitet). Innerhalb dieser Spannungsrichtungen erfolgt die
'Textverarbeitung*, indem der Leser, Textstrukturen und mentale Muster
vergleichend, einem Text so lange Propositionen, Inferenzen,
Elaborationen, Emotionen und Werte zuordnet, bis er subjektiv das Gefühl
hat, nun habe er die den Text 'verstanden': das Ergebnis ist die
'Textwelt' im Kopf des Lesers. [...] Was hier modellhaft nur im
Nacheinander darstellbar ist, spielt sich faktisch in jedem Leseprozess
simultan ab, so dass man sich den konstruktiven Aufbau einer 'Textwelt'
mit Hilfe dieses Modells durchsichtig und überschaubar machen kann."
Der Name des CI-Modells
rührt davon, dass es beim Textverstehen zwei Prozesse am Werk sieht:
Konstruktion und Integration.
Vereinfacht ausgedrückt
bedeutet das:
-
Bei der
Konstruktion wird das, was im Text
steht, in einer vorläufigen, allerdings noch nicht alle Bedeutungen
erschließenden Form erfasst. Dabei werden Inferenzen als
schlussfolgernde Verknüpfungen auf Textebene gebildet, die schon
"eine reichhaltige Repräsentation des Ausgangstextes" darstellen. (Christmann
2015, S.177)
-
Bei der
Integration kommen leserseitige Ziele und
Wissensbestände hinzu, ohne die ein Text nicht als mehr weniger
durchgehend kohärent, also in seinen Einzelbedeutungen miteinander
zusammenhängend, verstanden werden kann. Dabei wird der Text auf der
Basis des Vorwissens auf seine Kohärenz und auf seine Relevanz
angesichts der eigenen Leseziele geprüft und die auf Textebene
gewonnene Konstruktion entsprechend modifiziert.
Textverstehen, das ist in
diesem Zusammenhang die wichtigste Erkenntnis, geht nicht ohne das
aktive Zutun des Lesers und die Bedeutung eines Textes ist nicht allein
auf Textebene zu finden.
Von der Mikro- zur
Makrostruktur des Textes: Die Textbasis
Ein Text besteht im
CI-Modell aus Makro- und Mikrostrukturen.
Die
Mikrostruktur besteht dabei aus
(Mikro-)Propositionen, die
man im Text auffinden kann. Dabei versteht man darunter
Propositionen, die
als die "vielen bedeutungstragenden Einheiten
(...), die untereinander mehr oder minder stark verknüpft sind."
(ebd.,
S.218) verstanden werden. (Über deren genaue Gestalt kann man »andernorts
nachlesen).
Liest man einen Text,
dann ist der erste Schritt, dass man also diese Propositionen soweit
es einem möglich ist, konstruiert.
In diesem Prozess wird als erstes die ▪
Kohärenz auf Textebene mit
Hilfe der Hinweise hergestellt, die im Text selbst enthalten
sind. Die Bezüge, die dabei hergestellt werden, stützen sich
dabei auf sogenannte
skripto- und
typograhische Signale auf der Sprachoberfläche und auf alle
Arten von Kohäsionsmitten,
darunter Koreferenzen,
rhetorische Relationen und kausale, temporale,
adversative, und additive
Verknüpfungswörter (▪
Konnektiva).
Was dabei geschieht,
wird in der
▪
Textlinguistik
als Weg zur so genannten ▪
Texttiefenstruktur beschrieben, die sich durch die Analyse der
▪
Textoberflächenstruktur in Verbindung mit der ▪
konzeptuellen Basis, d. h. dem Vorwissen des Lesers, erschließen
lässt. Zum Vergleich sei das Konzept hier noch einmal als Mind Map
vorgestellt:

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Koreferenzen (▪
Substitution)
gehören zu den am
leichtesten auf der "Textoberfläche" erfassbaren Strukturen. Bei ihnen nehmen
aufeinanderfolgende Texte (Wörter, Wortgruppen, Sätze) auf denselben Sachverhalt etc.
(Referenten) Bezug. Dabei geht es
um alle möglichen
▪
Kohäsionsmittel wie Wortwiederholungen,
Pronomen, Rück- und Vorverweisen, Wiederaufnahme von
Satzsequenzen durch
Pro-Formen
oder auch mit Hilfe sogenannter "Kontiguitätsrelationen,
mit denen auf temporal, lokational oder strukturell verbundene
Ereignisse, Situationen, Handlungen verwiesen wird." (Christmann
2015, S.172)
Nicht alle Aussagen
(Propositionen) haben aber für das Textverstehen die gleiche
Bedeutung. Aus diesem Grunde sind die wirklich bedeutungstragenden Einheiten auch hierarchisch organisiert. Das
bedeutet, dass den Mikropropositionen andere Propositionen
übergeordnet sind. Diese Propositionen werden als
Makropropositionen bezeichnet. Diese Makropropositionen schaffen, wenn
man so will, Ordnung in der Vielzahl bedeutungstragender
Mikroaussagen, strukturieren und gliedern den Text (=
Makrostruktur).
-
Das kann an der
"Sprachoberfläche" (Christmann
2015, S.173) z. B. mit
skripto- und typographischen Signalen geschehen (Überschriften,
Zwischenüberschriften, Aufzählungen etc.), aber auch mit
expliziten Formulierungen wie "zum Beispiel", Überleitungen
usw.). Allerdings kann sich ein Leser natürlich über solche
Signale jederzeit hinwegsetzen und tut dies oft auch, wenn er
sich z. B. nur für bestimmte Aussagen interessiert wie beim ▪
punktuellen
Lesen oder ▪ suchenden
Lesen (Scanning) oder ihn einfach nur bestimmte Aussagen
emotional ansprechen.
-
Es können aber
auch rhetorische Relationen
sein, die mehr oder weniger explizit mit Signalwörtern
kenntlich gemacht werden, und helfen, thematische Strukturen des
Textes zu erschließen, die zur Makropropositionsbildung
herangezogen werden können. Dies sind z. B. Relationen wie
Problem und Problemlösung, Ursachen und Folgen oder Vergleiche.
(vgl. ebd.)
-
Es kann aber auch durchaus sein, dass der
Text gar keine derartigen Signale enthält, was z. B. in vielen
literarischen Texten der Fall ist, dann muss der Leser beim
Textverstehen selbst Kriterien
finden, nach denen er die
Mikropropositionen ordnet. Das geschieht mit sogenannten
Makroregeln, die durch Auslassen,
Auswählen, Verallgemeinern und Konstruieren bestehende
Mikropropositionssequenzen zu Makropropositionen verdichten
können. (Christmann
2015, S.172) In jedem Fall bleiben bei der
Herstellung einer Makrostruktur auch Mikropropositionen auf der
Strecke, die für die Makrostrukturbildung keine Relevanz besitzen oder nicht in den übergeordneten Bedeutungszusammenhang der
Makrostruktur gebracht werden können.
Die Art der Makropropositionen, die konkrete Gestalt der
Makrostruktur und die Frage, wann sie beim Lesen herausgebildet
wird, hängt von etlichen textseitigen und leserseitigen Faktoren
ab.
Das sind z. B. Art und subjektive Schwierigkeit des
Textes, Erwartungen und Ziele des Lesers und sein
deklaratives und
prozedurales
Wissen
unterschiedlichster Art (z. B.
Weltwissen, aktives Wissen,
Erfahrungswissen,
Fachwissen,
Sprachwissen,
Textmusterwissen,
thematisches Wissen).
Schwierigkeiten, die beim Textverstehen auftauchen können, weil es
einem nicht hinreichend gelingt, existierende Kohärenzlücken in
einem Text durch eigenaktive Konstruktion ihres
Bedeutungszusammenhangs zu schließen, sind im Übrigen in der Regel
auf der Ebene der Makrostruktur weitaus gravierender als bei den
Mikropropositionen.
Schafft man es bei
den Mikropropositionen auf der lokalen Textebene also hin und wieder nicht,
die Bedeutung einzelner Textaussagen zu erschließen, dann ist das
nicht so gravierend und muss das Verständnis der
Textbasis nicht unbedingt sehr
beeinträchtigen. (vgl.
ebd., S.173)
Bei ▪
Alltagsargumentationen, die oft sehr lückenhaft aufgebaut sind
und unstrukturiert und ungeordnet präsentiert werden (vgl.
Kolmer / Rob-Santer 2002, S.148). ist dies durchaus häufig. Der
"Misserfolg" bei der Mikropropositionsbildung kann aber durchaus
Auswirkungen auf die Lesemotivation haben.
Darüber hinaus beeinflussen natürlich auch
die äußeren Umstände der Rezeption und andere Faktoren die jeweilige hierarchische Organisation
der Makrostruktur und damit die Repräsentation der Textbedeutung
im Gedächtnis eines Lesers.
Mikro- und
Makrostruktur des Textes stellen im Construction-Integration Model
(CI-Modell) die Textbasis dar, die das Ergebnis einer semantischen und
syntaktischen Analyse des Textes durch den Leser darstellt.
Allerdings bleibt das Textverstehen damit letztlich an der
Textoberfläche. Um einen Text zu verstehen, müssen neben diesen
textseitigen Merkmale eben auch leserseitige Merkmale, in der
Sprache des textlinguistischen Kohärenzmodells, die ▪
konzeptuelle
Basis, berücksichtigt werden, mit der "Textlöcher" (Linke
u. a. 1994, S.226) bzw. "Kohärenzlücken" (Christmann
2015, S.173) dann vergleichsweise leicht geschlossen werden können,
wenn ein Leser über dafür geeignetes Vorwissen verfügen kann.
Dabei kann die
Beteiligung dieses Vorwissens am Textverstehen gar nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Solche im Gedächtnis gespeicherten
Informationen können nämlich, wenn sie z. B. als
Schemata bestimmte
Wahrnehmungs- und kognitiven Verarbeitungsprozesse steuern,
Textinhalte einfach "überschreiben" oder können ihnen neue Inhalte
zuschreiben, die im Text selbst überhaupt nicht nachzuweisen sind. (ebd.,
S.173). Kein Freifahrschein für "wilde Spekulationen" über einen Text,
aber zumindest auch eine Erklärung.

Von der Textbasis zum
Situationsmodell des Textes
Um den Text zu
verstehen, muss der Leser im Construction-Integration Model
(CI-Modell) "die Textbasis anreichern." (ebd.)
Grundlage dieser Annahme ist, dass man beim Lesen die Texte nicht
nur symbolisch-sprachlich abspeichert, sondern dazu auch ein
analoges Modell aufbaut, das zu den Textinformationen passt. (vgl. Christmann
2015, S.177) Vereinfacht ausgedrückt: Wir machen uns z. B. eine
räumliche Vorstellung von dem Dargestellten, um uns den Text zu
"merken".
Was das bedeutet, kann man schon an einem ganz einfachen Text
verdeutlichen:
- "Peter hatte eine Reifenpanne. Nachdem er das Rad gewechselt
hatte, konnte er weiterfahren.“
Auch wenn man den
kurzen Text in seine Propositionen zerlegt, kann man ihn nur
verstehen, wenn man weiß, dass "Nicht Peter hat eine Reifenpanne,
sondern das Gefährt, in dem Peter sitzt.“ und: "Ein Gefährt kann
nicht mehr fahren, wenn es eine Reifenpanne hat.“ (vgl.
Wikipedia)
Erst mit Hilfe dieses
Wissen kann ein Leser die im Text explizit enthaltenen Informationen
organisieren und text- und vorwissenbasierte Schlussfolgerungen (Inferenzen)
ziehen.
Zugleich gelingt es ihm erst damit, "eine genaue Vorstellung
über die Textinhalte, die weit über das hinausgehen kann, was der
Text an konkreten Propositionen anbietet", zu entwickeln. (Philipp
2015b, S.218)
Inferenzen sind,
salopp gesagt, das, was uns den eigentlichen "Durchblick" beim Lesen
von Texten verschafft.
Was daraus entsteht,
wenn die im Text beschriebenen Sachverhalte oder Situationen in
Verbindung mit dem von den sprachlichen Strukturen weitgehend
losgelösten Vor- und Weltwissen bei der kognitiven
Verarbeitung zusammenkommen, ist ein
mentales Modell des Textes, das
als Situationsmodell
bezeichnet wird. Es basiert auf Inferenzen, die auf der Textbasis
gebildet werden und Inferenzen, die über diese Textbasis als
Verknüpfungen mit dem leserseitigen Wissen gebildet werden. Das
Situationsmodell reichert dabei das Verständnis des Textes auf der
lokalen Textebene (= propositionale Repräsentation des Textes),
welches die Bildung eines Situationsmodells überhaupt erst
aktiviert, nicht nur an, sondern verfeinert und modifiziert dieses
auch. (vgl. Christmann
2015, S.177)
Inferenzen als Schlüssel
und Motor zur Sinnkonstruktion
Inferenzen,
die als "Motor der Sinnkonstruktion beim Lesen" (Christmann
2015, S.172) angesehen werden können, können unter dem Blickwinkel
ihrer Inferenzweite in drei
übergeordneten Gruppen zusammengefasst werden (vgl.
ebd.,
S.174)
Enge Inferenzen |
Brücken-Inferenzen |
Elaborative Inferenzen |
|
-
verbinden bestimmte Einzelinformationen
-
stellen Beziehungen zwischen zwei Sachverhalten her,
z. B. pronominal oder kausal
|
-
verbinden den konstruierten Textsinn explizit mit
den abrufbaren und damit verfügbaren
Gedächtnisinhalten (Vorwissen)
-
Erklärungen, Beispiele, Verallgemeinerungen,
Hypothesen, Erwartungen und Assoziationen, die
eindeutig über das im Text Enthaltene hinausgehen
|
Dabei ist die
Bedeutung der Inferenztätigkeit des Lesers beim Lesen unstrittig.
Die Meinungen gehen allerdings darüber auseinander, ob Inferenzen
während des Lesens nur textnah als enge
Inferenzen gebildet werden (=
minimalistische
Inferenztheorie) oder auch textferne Aspekte (elaborative
Inferenzen) schon während des Lesens stattfinden, weil der Text
ansonsten beim Lesen nicht verstanden werden kann. (=
konstruktivistische
Inferenztheorie). Wahrscheinlich dürfte indessen sein, dass
abhängig von den Lesezielen und den Ansprüchen des jeweiligen Lesers
beides möglich ist.
Leseziele und das
Bedürfnis des Lesers auf lokaler und globaler Ebene Kohärenz
herzustellen, steuern bei der
konstruktivistischen
Inferenztheorie das Ziehen von Schlussfolgerungen bzw. die
Bildung von Inferenzen. Zugleich bestimmten die jeweiligen
Rezeptionsziele auch auch darüber, wie tief das Textverständnis
werden soll, indem es selbst gebildeten
Kohärenzstandards folgt, die
entweder eine niedere oder hohe Verarbeitung ermöglichen. Davon
abhängig ist dann auch die Inferenztätigkeit, die bei hohen
Kohärenzstandards auch intensiver ausfällt.
Zugleich kann man
natürlich auch dann eine
deutlich höhere Zahl von Inferenzen bilden,
wenn man über eine gut entwickelte
Lesekompetenz und ein großes inhaltliches und thematisches
Vorwissen verfügt. (vgl.
Christmann
2015, S.175) Schließlich muss man natürlich noch
berücksichtigen, dass auch emotionale Aspekte, die
motivationale
und volitionale
Bereitschaft, einen Text nicht nur zu überfliegen, das Ausmaß
der Inferenzbildung grundlegend beeinflussen sowie, auf Textebene,
die
motivationale Stimulanz, die von einem Text ausgeht.
Relevanzinstruktionen
fördern Inferenztätigkeit
Leseaufgaben können
das Ausmaß der Inferenztätigkeit und die "Richtung", in welche
die Sinnkonstruktion geht, erheblich beeinflussen. Solche
Leseaufgaben stehen in der Schule sehr oft im Kontext von ▪
kompetenz-, ▪
produkt-
oder ▪
prozessorientierten ▪
Schreibaufgaben und werden damit als Vorarbeiten zur
Erschließung eines Textes verstanden und oft zusammen mit anderen
Aufgaben zu ▪ Lese- und Rezeptionsstrategien (▪
Primär- und Stützstrategien,
▪
SQ3R-Technik,
▪
PQ4R-Methode,
▪
MURDER-Schema)
zusammengefasst, die zu einem vertieften Textverständnis führen
sollen.
Sind die Leseziele
präzise, klar und konkret, lassen sich auf ihrem Hintergrund also
Leseaufgaben formulieren, die sich bei ihrer Bewältigung auf die
Verarbeitungstiefe und -qualität des Gelesenen unmittelbar
auswirken. Werden also z. B. im Unterricht bestimmte Vorgaben zum
Lesen bzw. zum Erschließen eines Textes während des Leseprozesses
gemacht (Relevanzinstruktionen),
indem der Fokus auf bestimmte Aspekte gerichtet.
Dazu wird verlangt,
den Text z. B. unter einer bestimmten Perspektive zu lesen, ihn als ▪
Textwiedergabe zusammenzufassen, ihn beim ▪
kreativen Schreiben für verschiedene ▪
textproduktive Verfahren, für ▪
szenische, ▪
akustische, ▪
visuelle oder ▪
multimediale
Gestaltungen zu nutzen oder ihn beim ▪
materialgestützten ▪
Schreiben einer Erörterung oder der ▪
Essaygestaltung
mit Dossier als Materialgrundlage weiterzuerzählen etc. Dadurch
wird eine Verarbeitung angeregt, die sämtliche
Arten von Inferenzen,
insbesondere aber elaborative
Inferenzen, für die Sinnkonstruktion nutzt.
Wenn also ein
literarischer Text bzw. eine Geschichte ▪
weitererzählt oder unter einer anderen Figurenperspektive
erzählt werden soll, wird ein zielbezogenes Lesen aktiviert, das
unter dem Blickwinkel selbstgewählter Relevanzkriterien eine erhöhte
Inferenzaktivität beim Lesen in Gang bringt, um die entsprechende
vorlagen- oder
kontextgebundene Schreibaufgabe bewältigen zu können.
Inferenzbildung bei
literarischen Texten
Wie die
Inferenzbildung bei den vieldeutigen, grammatikalisch und
sprachlich-stilistisch sehr unterschiedlich gestalteten
literarischen (fiktionalen) Texten funktioniert, ist aus diesen,
aber auch aus verschiedenen anderen Gründen wohl komplizierter als
bei
pragmatischen Texten (auch:
Sachtexten,
Gebrauchstexte,
expositorische Texte,
nichtfiktionale Texte).
Da die fiktionale
Welt dazu häufig noch Elemente enthält, die ein Leser aus
verschiedenen Gründen (z. B. bei Science Fiction oder Romane, die
vor langer Zeit entstanden, eine längst vergangene und
untergegangene Welt zeigen) nicht so ohne Weiteres durch Rückgriff
auf eigene Wissensbestände verstehen kann, dazu noch autorseitig von
Weltbildern geprägt sind, die ihm durch und durch fremd sind, muss
ein Leser, um bei solchen Texten "durchzublicken", eine
hohe
Eigenaktivität beim Lesen entwickeln, soll der Inhalt eines solchen
Textes, wenn man ihn liest, nicht einfach an einem vorbeirauschen. Um
einen literarischen Text beim Lesen sinnkonstruierend verstehen zu
können, werden schon beim Lesen mit elaborativen Inferenzen Bezüge
zwischen verschiedenen Textelementen hergestellt.
Dabei könnten sich
vier Arten von Inferenzen unterscheiden lassen, die beim Verstehen
literarischer Texte wichtig sind (Magliano/Bagett/Graesser
1996, vgl. Christmann
2015, S.176)
-
Vorhersagen von
künftigen Ereignissen als Inferenz künftiger Beziehungen
-
Schlussfolgerungen,
die Ziele, Handlungen und Motive von fiktionalen Figuren
betreffen
-
Inferenzen, die
sich auf Zustände bzw. Überzeugungen von Figuren beziehen
-
thematische
Schlussfolgerungen, die den Text deuten oder emotionale
Reaktionen darauf darstellen
Wann sie, wenn
überhaupt in dieser Art und Weise, beim Lesen gebildet werden, ob
während des Lesevorgangs oder erst im Anschluss daran, wenn ein
Leser über das Gelesene nachdenkt und es durch Abgleich mit seinem
Vorwissen "einnordet", ist hingegen empirisch noch nicht ganz klar,
auch wenn wohl davon auszugehen ist, dass eine höhere Verarbeitung
erst nach der Lektüre stattfindet. (vgl.
Christmann
2015, S.176)
Wie die ▪
Inferenzbildung beim Lesen kürzerer erzählender Texte aussehen
könnte, ist, insbesondere im Hinblick auf den Aufbau von
Situationsmodellen, die im Idealfall Text und Vorwissen integrierend
zusammenbringen, in Teilen inzwischen wissenschaftlich ganz gut
belegt.
▪
arbeitstechnik lesen
▪
Lesekompetenz
▪
Verstehen von Texten
▪ Lesen und Behalten: Die Bedeutung der
Textoberflächenstruktur ▪
Hermeneutischer Zirkel
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
22.04.2022
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