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Bausteine
Dass einem diese Texte "schräg" vorkommen, ist ganz
normal ...
Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden
Kognitive Dissonanz aushalten und zum Anlass für das
weitere Textverstehen machen
Wenn Schülerinnen und Schüler im Literaturunterricht erstmals auf
▪
Franz Kafkas ▪
Parabeln
treffen (gleiches gilt aber auch für seine größeren Erzählungen und Romane),
reagieren sie in der Regel mit großem Unverständnis. Was sie lesen bzw.
gelesen haben, passt so gar nicht zu dem, was sie gewohnt sind. Ihre
gelernten Wege zur Sinnfindung führen sie gefühlt ins Nichts, auch wenn
dieses Bild die Sache natürlich grob vereinfacht. Dass dem oft so ist, das
ist die wichtige Botschaft, ist "normal", passiert immer wieder und hat
schon viele mehr oder weniger berufene Experten auf den Plan gerufen, die
Ursachen dafür im Text selbst oder bei ihrem Autor dingfest zu machen.
Das spontane Nicht-Verstehen, das unterschiedliche Gefühle hervorrufen kann
wie Verunsicherung, Ärger und Ablehnung, erzeugt zumindest eine gewisse
(An-)Spannung, die aber meistens nicht sonderlich motiviert, sich weiter auf
den Text und die Reflexion der Voraussetzungen eigenen Lesens und Verstehens
einzulassen. Die von solchen Erfahrungen ausgelöste »kognitive
Dissonanz, d. h. die Erfahrung, dass das, was man gelesen hat,
sich einfach nicht so (kognitiv) verarbeiten lässt, wie man das gewohnt ist,
kann nämlich nicht so leicht beiseite geschoben werden. Wer sie überwinden
will, muss sich aktiv damit auseinandersetzen. Wenn die Muster, mit denen wir etwas Gelesenem
Bedeutung bzw. Sinn zuschreiben, einfach nicht mehr funktionieren
wollen, ist es also nötig, darüber nachzudenken, warum das so ist und nicht
anders.
Die mit dem Erleben kognitiver Dissonanz verbundenen
Unlustgefühle bergen aber auch Chancen, wenn sie Ausgangspunkt
einer Spurensuche werden, die nach den Ursachen ihrer Entstehung bei
einem selbst und in Bezug auf den Text fragt. Diese Spurensuche kann
"von einer erwarteten oder logischen, geradlinigen Stimmigkeit
wegführen und damit sowohl Denkrichtungen auslösen als auch dazu
anregen, das Denken selbst zu hinterfragen." (Andringa
2008, S.330). Sich selbstbewusst auf die Reflexion des eigenen
Textverstehens und den Text, der seinen Sinn so gar nicht preisgeben
will, einzulassen, das ist ein spannendes wie auch äußerst
lohnenswertes "Abenteuer", das einem am Ende viel über sich selbst
und über den Text, an dem man sich "gerieben" hat, sagen kann.
Kafkas Parabeln kommen den meisten Leserinnen und
Lesern fremd vor
Moderne Parabeln wie die ▪
Parabeln Franz Kafkas kommen vielen
Leserinnen und Lesern also zunächst einmal unverständlich oder
zumindest eigenartig vor. Und die negative Weltsicht, die meist aus
ihnen spricht, wirkt oft verstörend. Seine Texte, ihre Themen,
Inhalte und Strukturen, wenn man so will, seine ganze "verfremdend-reduzierten Dichtungsweise" (Allemann
1975/1998, S.146) erscheinen auf dem Hintergrund des eigenen Horizonts
fremd.
Die Spurensuche kann also damit beginnen
herauszufinden, ▪
was und warum
einem der Text
so fremd vorkommt. Bei den Parabeln Kafkas dürfte dies im
allgemeinen weniger die Erfahrung so genannter ▪
alltäglicher Fremdheit sein, weil man, ehe man zu einem
vertiefteren Textverständnis gelangen kann, erst noch, z. B. im
Rückgriff auf Wikipedia oder andere Lexika, bestehende Wissenslücken
füllen muss, welche z. B. die konkrete geografische Lokalisierung,
bestimmte historische Bezüge oder Namen von Figuren u. ä. betreffen.
In Kafkas Parabeln verweisen raum-zeitliche Angaben in der Regel
nicht über den Text hinaus, schon gar nicht so, dass sie
außertextlich konkretisiert werden könnten. Raumangaben sind im
Rahmen des Textes nur topografisch und ansonsten, wie die
Zeitangaben auch, symbolisch bzw.
allegorisch zu
verstehen.
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Kafkas Texte erscheinen uns dagegen aus zwei anderen
Gründen fremd.
-
Sie können uns ▪
strukturell fremd sein, weil sie eine eigene Wirklichkeit
darbieten, die sich von der unseren grundlegend unterscheidet.
Um sie zu verstehen, genügen unsere eigenen
Schemata der
Wahrnehmung, des Fühlens und (sozialen) Handelns nicht, geben
keine verlässlichen Orientierungen dafür, dem Gelesenen Sinn zu
geben. Texte, die eine strukturelle Fremdheit erzeugen, bringen
uns, wenn man so will, an die Grenzen unseres Wissens und
Könnens. Man kann aber über diese Unlust erzeugende, kognitive
Dissonanz hinwegkommen, wenn man sich z. B. durch Recherchieren
zusätzlicher Informationen einen Zugang zu der strukturell
fremden Wirklichkeit schaffen kann, den Text also, wie man sagt,
kontextualisiert oder, wenn man an den "urprünglichen"
Bedingtheiten des Textes anknüpfen will, den text
rekontextualisiert. (▪
volitionale
und ▪
metakognitive
Aspekt des Lesens). Wer also Kafkas Parabeln trotz seiner
strukturellen Fremdheitserfahrung ohne weitere Irritationen und
Blockaden verstehen will, muss sich "tiefer" auf den Text
einlassen, selbst auf die Gefahr hin, dass sich das als
strukturell Fremde Erlebte trotzdem nicht immer und vor allem
nicht vollständig erklären und deuten lässt. (vgl. Šlibar
2005, S.82, zit. n.
ebd.)
Das ist eben so, und gehört nicht zuletzt zu den ▪
Merkmalen moderner Parabeln, die einen schon mal "auf der
Geschichte sitzen" lassen (Allemann 1975/1998,
S.129) und sich Sinnzuschreibungen einfach entziehen.
Was bleibt: In solchen Fällen kann es helfen, die "Schreibstrategie" (Vogt
2008, S.65) Kafkas mit ihrer "Kombination von einfachem Wortlaut und
Gattungsschema, sprachlicher Vieldeutigkeit und Deutungsabstinenz des
Erzählers" (ebd.)
hinzunehmen und damit dem Text die Vieldeutigkeit zu lassen, die auch das
Gesamtwerk Kafkas weltberühmt gemacht hat. (vgl.
ebd.)
-
Noch intensiver kann die kognitive Dissonanz erlebt werden, wenn
einem das, was man liest bzw. gelesen hat, so ▪
radikal fremd erscheint, dass nicht nur die gewohnten Lese-
und Verständnisroutinen versagen, sondern man sich überhaupt
nicht vorstellen kann, wo man einen Schlüssel zu der in dem Text
dargebotenen Wirklichkeit finden kann oder wie dieser Schlüssel
überhaupt aussehen könnte.
Was einem dabei widerfährt, kann einen extrem verstören und
verunsichern und kann oft auch kaum in Worte gefasst werden.
(vgl.
Leskovec 2010,
S. 242). Was in einem Text, der so extreme
Fremdheitserfahrungen auslöst, geht nicht nur über unseren
geistigen Horizont, sondern lässt sich oft auch kaum emotional
verarbeiten. Das können bestimmte Themen oder Motive sein. So
kann es sein, dass Grenzerfahrungen im
Bereich der Sexualität, physische oder psychische Gewalt, Halluzinationen jeder Art und jeden
Ursprungs, Tod oder sonstige über die eigene Vorstellungskraft
oder das eigene Erleben hinausgehende Inhalte und Stoffe in den
Handlungen der Figuren versinnbildlicht, die einem in einer
Weise fremd sind, dass man mit ihnen (fast) nicht mehr umgehen
kann. Was dargeboten wird, schießt gewissermaßen über alles uns
Erdenkliche und Erfühlende hinaus, in "individuellen wie
kollektiven traumatischen Ereignissen, ekstatischen oder
spirituellen Erfahrungen, Krankheit, Wahnsinn, Zufälligem,
Phantastischem, Unheimlichem, Gewalt, Ereignissen also, 'die uns
mit dem Fremden als einem Außer-ordentlichen konfrontieren.'(Waldenfels
1999, S.82)" (ebd.)
nehmen vor unseren Augen Formen und Wahrnehmungs- und
Lebensweisen von Menschen Gestalt an, die wir oft aös Abgründe
menschlicher Existenz empfinden. Dieses "Nichtfassbare,
Nicht-Interpretierbare" und *Überschießende" (ebd.)
wird auch immer wieder in Kafkas Parabeln und seinen anderen
Texten spürbar. Wenn man im radikal Fremden das sieht, "was sich nicht paraphrasieren lässt, sich nicht mit den zur
Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln ausdrücken lässt" (ebd.,
dann stellt es eine Art "Überschuss" (ebd.)
dar, der mit seiner "Bedeutungswucherung" oder "Bedeutungsverknappung"
(Waldenfels
2006, S.30, zit. n.
ebd.)
die Sinnhorizonte seiner Leser durchaus sprengen kann.
Was tun?
Literarische Texte, die mit dem Konzept radikaler Fremdheit arbeiten, und
dies ist bei Kafkas Parabeln häufig der Fall,
etablieren mit ihrer Selbstbezüglichkeit ein in gewisser Hinsicht autonomes
Ordnungssystem, "in denen das Unsagbare zur Sprache kommt". Geschaffen wird
dadurch eine "Möglichkeitswelt", deren "schräger Blick auf die Welt" (Leskovec 2010, S. 242.)
Ausdruck und Motor der Mehr- und Vieldeutigkeit solcher Texte ist, die sich
damit einer vereindeutigenden Sinnzuweisung entziehen können.
Zugänge über das Gattungswissen
Die Spurensuche nach den Ursachen des spontanen Nicht-Verstehens
kann mit dieser selbstreflexiv angelegten Betrachtung der
Fremdheitserfahrungen wichtige Hinweise für die weitere
Beschäftigung mit dem Text geben. Dabei ist freilich klar, dass der individuelle konstruktive Akt des
Textverstehens
kognitiv auf vielfältigen Strukturen und mentalen
Modellen wie z. B. allgemeines
Weltwissen,
Fachwissen,
Sprachwissen,
Textsortenwissen,
Textstrukturwissen
etc. gründet, die hier nicht vollständig dargestellt werden können. Dass letzten Endes textexterne Faktoren wie Kotexte und
Kontexte die Rezeption eines Textes ebenso prägen wie textinterne
Faktoren liegt dabei in der Natur aller Verstehensprozesse.
Niemand geht bei der Lektüre eines Textes also
voraussetzungslos mit dem um, was er/sie liest. Dabei spielen
insbesondere Vorstellungen von Themen, Inhalten und Strukturen ▪
literarischer Gattungen
eine besonders wichtige Rolle, die wir im Laufe unserer ▪
Lesesozialisation erwerben. Diese können kognitionspsychologisch auch als
mentale Modelle
oder Schemata beschrieben
werden, mit denen wir bestimmte Eigenarten, Gemeinsamkeiten oder
Funktionen in einer Mehr- bzw. Vielzahl von Erscheinungen erfassen.
Sie helfen dabei, dass wir uns in der Vielzahl von Reizen, die auf
uns einwirken, orientieren und dass wir in unseren Innen- wie
Außenwelt handeln können. Das ist beim Umgang mit Texten im Grunde
nicht anders.
Wir gehen nämlich bei der Rezeption von Texten mit unserer eigenen
"subjektiven Theorie" vor (vgl.
Köppe/Winko (2008,
S.2). Man hat dies im Unterschied zu wissenschaftlichen Theorien
Folk-Gattungstheorien genannt und versteht darunter einerseits subjektive,
andererseits aber doch "auch mehr
oder weniger sozial verfestigte Annahmen oder Wissensbestände, die die
Wahrnehmung und auch der Verständnis von Gattungen bestimmen." (Zymner 2010a,
S.3.) Es handelt sich dabei um implizite Vorannahmen oder Vorurteile, mit denen jeder Leser /
jede Leserin an Texte herangeht, ohne dass ihm diese bei der Rezeption
zunächst einmal bewusst sind. (Köppe/Winko (2008,
S.2). Anders ausgedrückt: Wir nehmen Texte durch die Brille
der ▪ Gattungszuschreibung wahr und
versuchen sie auf deren Grundlage kognitiv zu verarbeiten. (vgl.
Zymner 2010a,
S.2)
Trifft man bei der Beschäftigung mit Kafkas Parabeln erstmals auf
diese Gattung bzw. den ▪
Typ
der modernen Parabel, sieht die subjektive Theorie, der man bei
der Sinnzuschreibung folgt, anders aus, als wenn man z. B. schon
eine Reihe von ▪
Fabeln,
▪
Gleichnissen, ▪
traditionellen Parabeln und ▪
Kurzgeschichten gelesen und sich gegebenenfalls mit ihren
Gattungs- bzw. Textsortenmerkmalen im schulischen
Literaturunterricht vertraut gemacht hat. Wahrscheinlich ist dabei
auch eine Vorstellung über die "Uneigentlichkeit"
entstanden, welche die genannten Textsorten außer den
Kurzgeschichten kennzeichnen.
Kann
ein Text Kafkas mit dem Vorwissen, dass es sich um eine moderne
Parabel handelt, analysiert werden, kann man deren ▪
Merkmale,
▪
Themen,
▪
Kennzeichen der Erzähler-Leser-Kommunikation und andere
Besonderheiten, wie z. B. die
typische Auflösung eines Bedeutungszusammenhangs von Bild- und
Sachbereich bei der weiteren Textarbeit in den Prozess des
Textverstehens einfließen lassen und dadurch u. U. einen Schlüssel
für den zunächst fremd wirkenden Text finden.
Ergebnis einer auf dem Gattungswissen beruhenden
Herangehensweise sollte sein, sich auf die Suche nach jenen
Elementen des Textes zu machen, die eine parabolische Leserart des
Textes nahelegen. Ziel dieser vom Text ausgehenden kognitiven
Suchbewegung ist es, den eigentlichen Sinn von
verrätselten Parabeln wie denen von Franz Kafka nicht auf der
Textebene, sondern im Bezug auf Außertextliches zu suchen. Um diese
Appellstruktur eines parabolischen Textes aber überhaupt zu
erkennen, muss man, da Kafkas Parabeln keine expliziten
Aufforderungen dazu stellen, die Stellen in einem solchen Text
wahrnehmen, die darauf hinweisen, dass etwas anderes gemeint ist,
als das, was sich einem unter Umständen zunächst als Sinn der
Geschichte aufdrängt. Mit dieser Vermutung, dass das Erzählte wohl
nicht das Gemeinte sein soll, kann man sich auf den Weg machen, die
parabolische Appellstruktur über sogenannte gleichgerichtete Inkohärenzen als
Transfersignale zu erschließen (vgl.
Zymner 1991,
Nickel-Bacon 2014).
Zugänge über das Thema
Thematische
Zugänge, die an die Themen moderner Parabeln im Allgemeinen oder an
die Themen anschließen, die Kafkas Parabeln von unterschiedlichen
Interpreten zugeschrieben werden, sind per se sehr vielfältig. Diese
Texte thematisch zu kontextualisieren, ist nicht nur legitim,
sondern auch ein oft sehr geeignetes Verfahren um Zugänge zu Texten
wie den Parabeln von Franz Kafka zu schaffen.
Ausgangspunkt der Spurensuche kann dabei die These sein, dass
moderne Parabeln die Wirklichkeit hinterfragen und die existenzielle
Lage des modernen Menschen und seine "kosmologische
Obdachlosigkeit" (Yun
Mi Kim 2012, S.22) ans Licht bringen. Der Mensch, der gezeigt wird, sucht sich
selbst, wo und wie er auch immer nach dem Sinn von Welt sucht.
Moderne Parabeln stellen den
Menschen in seiner Orientierungslosigkeit aus, der zwar stets
unterwegs ist, aber nie und nimmer sein Ziel, in einer
widersprüchlichen und in Auflösung befindlichen Welt findet.
Zugänge über die Person Franz Kafkas
Zu den Kontexten, über die sich Schülerinnen und Schüler oft
Zugang zu den verrätselten Parabeln Franz Kafkas verschaffen wollen,
gehört vor allem der biografische Kontext, der sich bei manchen
seiner Parabeln, wie z. b. ▪ »Heimkehr«
oder »Gibs auf« geradezu aufdrängt, wenn
der Leser oder die Leserin über das dafür nötige biografische
Kontextwissen verfügt oder es im Zuge seines Textverstehensprozesses
recherchiert.
Insbesondere Franz Kafkas Verhältnis zu seinem Vater aber auch
seine innere Zerrissenheit liefern dabei Ansätze, mit denen sich
Zugänge zum weiteren Verstehen des Textes eröffnen, wenngleich man
dabei auch leicht in das Fahrwasser einer "biographistischer
Verkürzungen" (
Nickel-Bacon 2014, S.95) geraten kann. Dabei kann man der
irrigen Annahme aufsitzen, dass sich der Horizont des Autors im
Entstehungskontext des Textes tatsächlich in einer Weise
rekonstruieren lässt, dass der von ihm in den Text eingeschriebene
Sinn zweifelsfrei sichtbar wird.
Die Bezugnahme auf den realen oder konstruierten Autor wird in
solchen Fällen dafür benutzt,
-
einen Text
raumzeitlich zu fixieren, indem sprachliche und inhaltliche
Elemente des Textes aus dem zeitgenössischen Sprachgebrauch und
aus Daten und Ereignissen einer bestimmten Zeit oder Region
erklärt werden
-
Unterschiede
zwischen bestimmten Inhalten und Motiven des Autors mit denen
anderer zu verdeutlichen
-
die thematische,
stilistische oder strukturelle Einheitlichkeit des Gesamtwerks
eines Autors herauszustellen
-
Deutungen eines
Textes oder einer Textstelle damit plausibel zu machen, dass
Ähnliches auch in anderen Werken des Autors auftaucht oder in
anderen Bezugs- oder Paralleltexten wie Briefen, Tagebüchern
oder Interviews den gleichen Autors thematisiert wird
-
auf Wissen des
Autors zu verweisen, über das er nachweislich verfügt hat und im
Rahmen der Rekonstruktion des Entstehungskontextes als
politischer, philosophischer, soziokultureller, ideologischer
oder religiöser Kontext zu der vom Autor intendierten
Bedeutungskonstruktion des Textes beigetragen haben
-
sich quasi im
Zuge des ▪
Autoritätsbeweis bei der ▪
Argumentation
zur Bildung bestimmter Interpretationsthesen, seien sie auch
bloße Annahmen über die Absichten des Autors, zu berufen. (vgl.
Winko
2002, S.343-348, vgl.
Hoffmann/Langer 2007, S.138)
Sicher können nicht alle aufgeführten autor-intentionalistischen
Verfahren überzeugen und moderne literaturwissenschaftliche Ansätze
bestreiten den Rückgriff auf den Autor als angemessenes Mittel der
Interpretation überhaupt.
Trotzdem: Literaturdidaktisch macht die Beschäftigung mit dem
Autor Franz Kafka, seiner ▪ Biographie im
Allgemeinen, aber auch mit seinem Verhältnis zu seinem Vater (▪
Brief an den Vater) durchaus Sinn und
erweitert den Horizont des Lesers und sein allgemeines
Kontextwissen, das auf seine weitere Textrezeption Einfluss nehmen
kann. Der "objektive" Sinn seiner Parabeln enthüllt sich aber auch
damit nicht.
Zugänge über das Schreiben Kafkas
Wer mit der modernen Kafka-Interpretation vertraut ist, kann
seinen Zugang auch dadurch kontextualisieren, dass er,
uneigentliches Erzählen vorausgesetzt, seine Parabeln als
"Darstellung seines 'traumhaften inneren Lebens' (Kafka 1951, 420)"
sieht, das "prärationale und damit auch präverbale Erzählinhalte zum
Ausdruck" bringt (Nickel-Bacon
2014, S.94). Damit wird es in gewisser Weise zu einer Variante
des biografischen Ansatzes, ohne deren weiteren Implikationen zu
folgen.
Bezogen auf
▪
Franz Kafkas Roman
▪
»Der Prozess«
hat man dieses besondere poetologische Verfahren auch als
▪
"traumanaloges Dichten" bezeichnet, "als ein nach der
Logik des Traumes verfahrendes Komponieren" (Hiebel 2008,
S. 457), das "Kafkas suchendes, tastendes Schreiben" präge. (ebd.)
-
Dabei würden in einem primär
assoziativen Verfahren wie im Traum (private
wie öffentliche) Ereignisse in
Metaphern übersetzt, diese miteinander verschaltet
oder verdichtet.
-
Immer wieder würden räumliche und zeitliche Ordnungen
umgestellt oder aufgehoben.
-
Zudem würden
metonymische Verschiebungen und Entstellungen zum Zweck der Chiffrierung
vorgenommen, wenn ihnen Analoges zu Grunde liege.
-
Und am Ende
"purzeln die Einzelheiten - freilich nach einer bestimmten
Gesetzmäßigkeit, einer Traum-Logik - »rhizom«-artig
durcheinander. Semantische und metaphorische Indizien verändern den Sinn der
Phänomene von Punkt zu Punkt, so dass wir von einer
gleitenden und
zugleich paradoxen Metaphorik sprechen können." (ebd.)
Figuren und Gegenstände werden zu innerpsychischen Instanzen
Dementsprechend "(stehen) Figuren oder Gegenstände (...) nicht
mehr stellvertretend für soziale Gruppen oder Phänomene, sondern für
innerpsychische Instanzen; Ereignisse und Handlungsabfolgen
repräsentieren innere Konflikte. Strukturbildend ist dabei die
Konfrontation einer erlebenden Figur mit einer verstören
undurchschaubaren Umwelt, die sich als entmutigend bis indifferent,
häufig auch strafend erweist." (ebd.,
S.94f.)
Erzählt wird immer aus der Perspektive der erlebenden Figur
Daraus ergibt sich geradezu zwangsläufig, dass Kafka völlig
"unabhängig von der gewählten grammatischen Form" seinen Erzähler
das Geschehen nicht in der
Außensicht darbieten lässt, sondern
"konsequent aus dem Blickwinkel der erlebenden Figur". (ebd.,
S.95) Wenn man so will, handelt es sich, wenn sie als solche
gestaltet ist, nur um eine Art fingierter Außensicht.
Zugänge über die Findekunst (New Historicism)
Eine unter literaturdidaktischer Perspektive als Variante des
thematischen Zuganges zu den verrätselten Parabeln Franz Kafkas
bietet die sogenannte "Findekunst", wie sie mit dem Ansatz des
sogenannten New Historicism verbunden wird. (vgl.
Baßler 2007,
S. 227ff.) Dabei wird davon ausgegangen, dass sich der einem Text
zugeschriebene Sinn nicht nur durch den Text und durch den
Werkkontext, den literatur- und kulturhistorischen oder
sozialhistorischen Kontext ergibt, sondern ein Text auch in
zahlreichen anderen Vergleichs- und Ähnlichkeitsbeziehungen steht,
die man als Intertextualität bezeichnet. (vgl.
Baßler
2007b, S.360) Eigentlich wird der jeweils zur Analyse kommende
Text "nur momentan, zu analytischen Zwecken" aus dem "Kontext
ausgegliedert, zu dem er sonst gehört." (ebd.)
Literaturdidaktisch gesehen könnte der Ansatz - wie immer in solchen
Fällen grob vereinfacht - vor allem dazu ermutigen, ohne
wissenschaftlichen Ansprüchen Genüge leisten zu wollen, quasi
"anekdotisch" allerlei Texte zusammenzustellen und damit zu Wort
kommen zu lassen, die entweder in der Zeit der Textentstehung oder
aber in der aktuellen Zeit der Textrezeption Ähnlichkeitsbeziehungen
aufweisen und damit auf ihre Weise dem zu analysierenden Text
Bedeutung geben, den Text also semantisieren. Ein solcher
methodischer Zugriff auf Kontexte hat jedenfalls, "so leicht und
anekdotisch er wirkt, (...) gegenüber einer traditionellen
Auffassung, die den Einzeltext in Relation zu einem allgemeinen
»historischen Hintergrund« setzt den Vorteil der Konkretheit und
Partikularität." (Baßler
2007, S.228) Statt einfach zu übernehmen, was andere
Fachwissenschaften wie z. B. die Geschichtswissenschaft, die
Soziologie oder die Psychologie herausgefunden haben, erlaubt dieser
nie vollständig und abgeschlossene Zugriff auf eine Reihe von
Einzeltexten den Blick auf "die ungeheure Komplexität
historisch-kultureller Bedeutungsbezüge" eröffnet, die sonst mit den
genannten Verfahren kaum ins Blickfeld geraten. Ob bei der Anwendung
des Ansatzes auf die Analyse von Parabeln Franz Kafkas im
schulischen Literaturunterricht dabei Text-Text-Bezüge herauskommen,
die paradigmatisch "als kulturelle Vergleichsgrößen (...) den
jeweils manifesten Text mit Bedeutung ausstatten"
(ebd.)
ist dabei, wenn man allein die großen Motivationseffekte betrachtet,
die für den Literaturunterricht adaptierte "Findekunst" hat,
natürlich zweitrangig. Wer als Schüler oder Schülerin Texte und
Bilder findet, die für ihn daran beteiligt sind, einer Parabel
Bedeutung zuzuschreiben, ist jedenfalls bei seiner Spurensuche nach
dem Sinn der fremd daherkommender Geschichten ein gutes Stück
weitergekommen.
Das Unsagbare zur Sprache bringen
Wie auch immer die Erarbeitung eines vertieften
Textverständnisses erfolgt, das vielfach kritisierte "Gespenst der
so genannten richtigen Interpretation (...) welche die eigentliche,
die genuine, nur dem einzelnen und bestimmten Text eignende
Bedeutung aufzuspüren und darzustellen" versuchte(Horst
Steinmetz 1995, S.476) ist nicht nur in Bezug auf die Interpretation von
Kafkas Parabeln zwar überwunden, aber die Reihe immer wieder neuer (Re-)Kontextualisierungen
seines Werkes als Ganzes und seiner einzelnen Texte reißt nicht ab.
Die wissenschaftliche "Kafkalogie" folgt dabei oft ihren eigenen,
selbstreferenziellen Zielen, an die die schulische
Interpretationspraxis keinen Anschluss suchen muss und
literaturdidaktisch wohl auch kaum gewinnen kann. Die Fülle dieser
wissenschaftlichen Rekontextualisierungen bringen diese jedenfalls
kaum weiter, denn das Werk Kafkas "bietet ein der Geschichte und dem
Raum enthobenes Gerüst, das immer wieder anders ausgefüllt werden
kann." (Andringa 2008,
S.333) Nichtzuletzt ist es diese "unendliche Vielfalt von
Konkretisierungen" (ebd.),
die den Umgang mit Kafkas Werk insgesamt auszeichnet.
Und: Wenn die radikale Fremdheit einer Parabel wie
der "Kleinen Fabel" Kafkas nur dadurch
überwunden werden kann, dass man "den theologisch-anthropologischen
Hintergrund der ostjüdischen Erzählungen von Gilgui (das göttliche
Gericht am Menschen als Strafe der Seelenwanderung)" und "kabbalistische Sagen und Geschichten"
kenne, wie dies z. B.
Nayhauss
(2006, S.62) geradezu apodiktisch fordert, dann dürfte nicht nur die
Literaturdidaktik überfordert werden. Schade nur, dass damit auch
das "Gespenst der so genannten richtigen Interpretation" (s. o.)
wieder Einzug in die Kafka-Forschung findet, wenn dem normalen
Rezipienten nur die Erkenntnis bleibt, dass er "zwar mit gutem Recht
die Leerstellen mit allen möglichen Fragmenten seiner
Welterkenntnis" ausfüllen kann, "edoch nicht in der Lage (ist),
weder der ästhetischen noch der poetischen durch das Judentum
eingefärbten Semantik des Autors auf die Spur zu kommen. Er bleibt,
um es mit Kafka zu sagen, trotz seiner ungeheuren Welt, die er im
Kopfe hat, draußen vor der der Tür dieser Geistigkeit." (Nayhauss
2006, S.62) Dann bleibt, die literaturdidaktisch motivierte
Herangehensweise eben "im Tal der Ahnungslosen".
Indem man allerdings an die Erfahrungen der Rezipienten mit dem
Text, so negativ sie auch manchmal ausfallen mögen, kann man die
"paradoxe Grundstruktur gezielter Inkohärenzen" (Nickel-Bacon
2014, S.95) zur Verdeutlichung einer besonderen ästhetischen
Erfahrung nutzen, denn: "Wie das erzählte Ich meinen die Leser,
spontan zu verstehen, und werden sogleich in ihrem Verstehen
verunsichert." (ebd.)
Allerdings darf man dabei nicht übersehen, dass es durchaus
Lesearten gibt, die diese Paradoxie auch "einebnen", also zu einer
parabolischen Leseart unter dem Blickwinkel der prinzipiellen
Sinnverweigerung verrätselter Parabeln aller impliziten
Transfersignale zum Trotz nicht vordringen. Auch hier gilt es: Das
Unsagbare zur Sprache zu bringen - in den Parabeln Franz
Kafkas und im Prozess der Rezeption.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
13.03.2024
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