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Gattungen und Gattungsbegriffe im
schulischen Literaturunterricht
Gattungsfragen sind
heikel
Die Einteilungen literarischer Werke in
▪ Gattungen
ist so beliebt wie umstritten.
Überlegungen und Ansätze, wie man die Vielzahl unterschiedlicher
literarischer Formen ordnen und systematisch klassifizieren könnte, sind
zahlreich und hängen auch davon ab, welche wissenschaftliche Disziplin
sich mit dieser Frage beschäftigt.
In der ▪
Textlinguistik spricht
man von ▪
Textsorten, in der Literaturwissenschaft eher von ▪
Gattungen, wenn es darum geht, bestimmte
Form- bzw. Inhaltstypen fiktionaler Texte voneinander zu unterscheiden.
Aber auch in die Literaturwissenschaft hat der Begriff der Textsorte
Eingang gefunden, weil er vielen offenbar weniger (historisch-normativ) vorbelastet zu sein scheint
(vgl.
Voßkamp
1992, S.266). Eine besondere Teildisziplin der Literaturwissenschaft hat sich der
Gattungstheorie und der Gattungspoetologie verschrieben und dabei
verschiedene ▪ normative oder ▪
nicht-normative ▪
Gattungskonzepte
entwickelt.
Grundsätzlich
betrachtet ist die Gruppenbildung von Texten geradezu beliebig. Es ist
ja stets ein kognitiver Akt und dementsprechend ist jede ▪
Gruppen oder
Gattungsbildung gemacht und ein Konstrukt.
Solche Gruppen können
je nach Verwendungszweck mit unterschiedlichen Kriterien gebildet
werden. Mal sind es formale, mal mediale, mal inhaltliche Kriterien und
dann gibt es Gruppenbildungen, die mehrere Kriterien miteinander
verknüpfen wie z. B. epische Klein- und epische Langformen etc.
Gemeinsam ist solchen Gruppenbildung gewöhnlich das Ziel, nämlich
Ordnung in die Fülle vorhandener Texte zu bringen. Ob dies gelingt und
das Ordnungsprinzip plausibel ist, das ist allerdings immer wieder Frage
und zumal die "unerschöpfliche Vielfalt literarischer Texte nicht
nahtlos einem klassifizierenden Raster eingeordnet werden kann". (Pfeiffer
22013, S.59)
Als Universalbegriff
taugt der der Begriff der literarischen Gattung aber schon allein
deshalb nicht, weil dabei "ein normativer moderner Literaturbegriff
impliziert wird, der für andere Kulturen der Dichtung und für andere
historische Kontexte als demjenigen moderner Gesellschaften nicht passt
bzw. keine Rolle spielt." (Zymner
2010a, S.3)
Ausgehend von der »Poetik« des
»Aristoteles
(384-322 v. Chr.) ziehen sich in der deutschen
Literatur über
Christoph
Gottsched (1700-1766),
Johann
Gottfried Herder (1744-1803) und
Wilhelm
Hegel (1770-1831) bis zur Gegenwart die Versuche hin,
mit mehr oder weniger normativen Gattungskonzepten klassifikatorisch
Ordnung in die Vielfalt literarischer Formen zu bringen.
Sie lassen sich auf verschiedene Art und Weise einteilen, z. B. als ▪
normative und ▪
nicht-normative Gattungskonzepte oder
als ▪
historische
Gattungen und ▪
systematische
Gattungsbegriffe.
Seit etwa 1960 hat sich dabei die Erkenntnis durchgesetzt, dass
Gattungen nicht unabhängig vom Subjekt verstanden werden können, das
diese konstruiert. Seitdem werden Gattungen als "offene Systeme"
gesehen, die nur als "Bündel von unterschiedlichen formalen,
strukturellen und thematischen Kriterien beschrieben werden" können
(Peter Wenzel, in:
Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 5. Aufl. 2013, S. 244)
Dabei ist heutzutage wohl kaum mehr umstritten, "dass dichterische
und oder literarische Gattungen am besten als historisch-sozial
relative Normen der Kommunikation aufzufassen sind, man könnte
auch von
Kategorisierungen als Zuschreibungen oder Zuweisungen von Sinn
sprechen." (Zymner
2010a, S.3)
In der Praxis nutzen
nahezu alle Einführungen in die moderne Literaturwissenschaft aus
pragmatischen Gründen und ohne normative Absicht bis zu einem gewissen
Grade die ▪ klassische Gattungstrias (▪
Epik,
▪ Lyrik und
▪
Drama) als beschreibende Kategorien ohne ihre anthropologischen,
philosophischen oder stiltheoretischen Implikationen, die sie als
historische Kategorien auszeichnen, zu übernehmen. Ergänzt wird das gattungstheoretische
Dreiermodell dabei durch ▪
literarische Zweckformen
(z. B. Biographie, Traktat, ▪
Essay,
Feuilleton) und
diskontinuierliche Texte mit ihren Text-Bild-Kombinationen
(z.B. Bilderbucherzählungen, Comic-Geschichten oder die
didaktische Lehrdichtung) oder wenn auch andere Medien einbezogen
werden, der (Spiel-)Film.
Während es also die
einen gibt, die die ▪ klassische Gattungstrias (▪
Epik,
▪ Lyrik und
▪
Drama) für überholt und wissenschaftlich "abgeräumt" betrachten,
bringen sie andere mit einer
kulturanthroplogischen Fundierung wieder ins Spiel. So nähmen die
drei Gattungen einen jeweils besonderen "Sitz im Leben" ein, der zeige,
dass sie auch ohne wissenschaftliche Fundierung zur kulturellen Praxis
dazugehörten. (Pfeiffer
22013, S.60f.)
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Die im Zusammenhang mit
dem Erzählen betonte "Strukturähnlichkeit von alltagssprachlichen und
literarischen Erzählen" (ebd.,
S.60) kann dabei auch als Aufforderung an die Literaturdidaktik
verstanden werden, Sprach- und Literaturunterricht sowie literarische
Rezeption und Produktion im Sinne eines •
handlungs- und
produktionsorientierter Literaturunterricht so miteinander zu
verschränken, um damit auch die
Erzählfähigkeit zu fördern, die eine "wichtige Voraussetzung für das
Verstehen epischer Formen" (ebd.)
darstellt.
Gattungsbegriffe schaffen
keine Hierarchien von Texten
Auch wenn
Gattungsbegriffe in unserem kulturellen Umfeld und den entsprechenden
Diskursgemeinschaften eine wichtige heuristische Ordnungsfunktion haben,
ist der Versuch, sämtliche Gattungen "in einem gestuften System
nach Art des naturwissenschaftlichen Einteilungssystems für Pflanzen und
Tiere unterzubringen und dabei den unscharfen Begriff der G(attung)
durch unterschiedliche Bezeichnungen für Werkgruppen der höheren und der
niederen Stufen zu ersetzen" (Peter Wenzel, in:
Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 5. Aufl. 2013, S. 244)
insgesamt als gescheitert anzusehen.
Heute geht man davon aus, dass es "weder im Gesamtfeld der
literar(ischen) Texte noch innerhalb der traditionellen Großbereiche
klare Hierarchien über- und untergeordneter Kategorien auszumachen
sind." (ebd.)
-
Literarische Gattungen können als "offene Systeme" diesem Verständnis
zufolge nur als "Bündel von unterschiedlichen formalen, strukturellen
und thematischen Kriterien beschrieben werden." (ebd.)
-
Was sie ausmacht, ist historisch bedingt und in der Regel Ergebnis von
Konventionen darüber, Texte mit bestimmten Merkmalen zu einer bestimmten
Zeit unter einem ebenso bestimmten Blickwinkel als formal, strukturell
und thematisch ähnlich zu begreifen.
Literarische Gattungen als kognitive Schemata
Dabei spielen Vorstellungen von Gattungen, die man
kognitionspsychologisch auch als
mentale Modelle
oder Schemata beschreiben
kann, im Alltag und der Wissenschaft gleichermaßen eine Rolle. In der
Literaturwissenschaft hat man sie daher auch beschrieben "als
automatisierte Folien der Textproduktion und -rezeption" (Hamacher
1996/32001, S.176)
Überall dort, wo es darum geht, bestimmte Eigenarten, Gemeinsamkeiten
oder Funktionen in einer Mehr- bzw. Vielzahl von Erscheinungen zu
erfassen und sich in der Vielzahl von Reizen, die auf uns einwirken, zu
orientieren, dienen Gattungen bzw. Schemata dazu, die Erscheinungen
kognitiv zu verarbeiten. Dies ist in unserem Alltagsleben grundsätzlich
nicht anders als in einer wissenschaftlichen Herangehensweise an Welt.
Allerdings müssen wir,
wenn wir auf die Gattungstheorien bzw. Gattungsschemata, mit denen wir
im Alltag operieren, zugreifen, nicht leisten, was von wissenschaftlich
fundierten Schemata erwartet wird. Die wissenschaftliche Gattungstheorie
soll schließlich mit ihrer Bindung "an
Kriterien wie Nachprüfbarkeit, empirische Triftigkeit,
Widerspruchsfreiheit und Vorläufigkeit" (ebd.)
dazu dienen, Texte begrifflich-systematisch und explizit zu
(wissenschaftlich) zu beschreiben hat.
Unsere Alltagsschemata,
man hat sie auch
Folk-Gattungstheorien genannt, mit denen wir an Texte herangehen, um
einen Sinn zu konstruieren, sind natürlich immer subjektiv. Zugleich
sind sie aber doch "auch mehr
oder weniger sozial verfestigte Annahmen oder Wissensbestände, die die
Wahrnehmung und auch der Verständnis von Gattungen bestimmen." (ebd.)
Solche Folk-Gattungstheorien haben also eine "wirkmächtige Realität in
den Köpfen der Leser, insofern Gattungsbezeichnungen unter Buchtiteln
oder auf Theaterplakaten natürlich einen spezifischen Erwartungshorizont
bedingen und damit die Rezeption des Textes, der Inszenierung ganz
entscheidend mit beeinflussen." (Köhnen
2007, S.136)
Solche impliziten Vorannahmen oder Vorurteile, mit denen jeder Leser /
jede Leserin an Texte herangeht, zeigen, dass das eigene Textverstehen
nicht voraussetzungslos ist, sondern einer eigenen, meist überhaupt
nicht bewussten "subjektiven Theorie" folgt (Köppe/Winko (2008,
S.2). Dies gilt auch, wenn deren Elemente auf mal mehr, mal weniger stark sozial
verfestigten Schemata beruhen, mit denen wir die Texte durch die Brille
der Gattungszuschreibung wahrnehmen und kognitiv verarbeiten. (vgl.
Zymner 2010a,
S.2)
Literarische Gattungen werden "gemacht"
Literarische Gattungen sind nicht in "Stein gemeißelt" und auch
nicht, wenn sie nicht gerade in der Titelei eines Textes als ein vom
Autor gesetztes Signal zur Rezeptionssteuerung eingesetzt werden, dem
Text eingeschrieben.
Als Zuschreibungen sind sie stattdessen an das zuschreibende Subjekt
gebunden und stellen "konkret physisch bedingte und soziale,
institutionalisierende Kategorisierungsvorgänge dar." (ebd.)
Für ihr Verständnis ist ihre Subjektgebundenheit, Theorieabhängigkeit
und der Konstruktcharakter grundlegend, zeigen die Aspekte doch auf,
dass Gattungen "Gemachtes und nichts Gegebenes sind". (ebd.,
S.4)
Daraus ergibt sich, dass Gattungen stets Konstrukte sind, die in
einer bestimmten Gemeinschaft, z. B. der mit der betreffen Gattung
vertrauten Leserinnen und Leser oder Kreisen von Fachwissenschaftlern,
kursieren und als mehr oder weniger gültig anerkannt und für den Diskurs
über Literatur verwendet werden.
Letzten Endes handelt es sich "im Prinzip um Verständigungsprozesse
zwischen mehreren Akteuren, in denen Geltungsbedingungen jener
Zuschreibungen ausgehandelt oder durchgesetzt und kulturelle Haushalte
irgendwie zusammengehöriger Gruppen organisiert werden." (ebd.,
S.3)
Gattungen und
Gattungsbegriffe: Die Basics
In Thesen (im Anschluss an
Zymner (2010a,
S.1-5) kann man die "Basics" zu den literarischen Gattungen wie folgt zusammenfassen:
-
(Literarische)
Gattungen sind
historisch-sozial relative Normen, die in der Kommunikation über
Literatur entstehen und zur Orientierung wie auch zur Reflexion über
Eigenarten, Gemeinsamkeiten, Abgrenzungen, Funktionen und
historischen Bedingtheiten als
Schemata im
alltäglichen Umgang und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit
literarischen Texten dienen.
-
Im Grunde genommen
handelt es sich dabei um
Zuschreibungen von Sinn und nicht um objektivierbare
Texteigenschaften, die unabhängig vom zuschreibenden Subjekt
existieren.
-
Gattungen sind das
Ergebnis von Sinn zuschreibenden Kategorisierungsvorgängen, die von
den daran Beteiligten miteinander ausgehandelt und durchgesetzt
werden. Sie sind insofern auch als "kommunikativ
etablierte und dadurch sozial geteilte Kategorisierungen" (ebd.,
S.3) anzusehen.
-
Gattungszuschreibungen
verändern sich im Laufe der Zeit und sind von Kultur zu Kultur
unterschiedlich.
-
Wenn Texte zu einer
bestimmten Gattung gezählt werden, beruht dies gewöhnlich darauf,
dass man es mit den besten Beispielen (Prototypen)
vergleicht, die man dafür gefunden hat und eine mehr oder weniger
trennscharfe Abhebung von "besten Beispielen" (Prototypen)
anderer Kategorien vornimmt. Daraus resultiert, dass Gattungen
"schon allein aus wahrnehmungspsychologischen Gründen keine scharfe,
sondern eine
prinzipiell schwankende Gestalt" (ebd.,
S.3) haben.
-
Gattungszuschreibungen sind dabei stets abhängig von den jeweiligen
Textbeispielen, sind von den Interessen abhängig, die damit verfolgt
werden und weisen stets auch einen bestimmten Zweck auf.
-
Werden Gattungen
eingeteilt, dann kann dies
klassifizierend erfolgen, genauso gut aber auch
typologisch.
-
Gattungen verfügen
über
keine allgemein verbindlichen Namen bzw. Bezeichnungen, zudem
kommt es dabei immer wieder zu Bedeutungsverschiebungen und
-veränderungen. Sie funktionieren damit nur in bestimmten
Diskursgemeinschaften, die den Begriffsumfang der jeweiligen
Gattungszuschreibung kennt.
-
Im Literaturunterricht spielen
Gattungen heutzutage noch immer eine bedeutende Rolle, "weil sie
den Diskurs im Handlungsfeld [Literatur, d. Verf.] wesentlich bestimmen
und ohne ihre Kenntnis eine souveräne Teilhabe daran kaum möglich ist.
Nominalistische Definitionsversuche, wie man sie zuweilen in der
Literaturwissenschaft antrifft, sind dafür aber nicht nötig." (Abraham/Kepser
22006, S.34)
▪
Literaturunterricht
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Überblick ▪
Literarische Kompetenz
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Zugänge zu literarischen Texten
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Überblick • Kognitiv-analytische Zugänge
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Überblick ▪
Gattungswissen ▪
Textanalysewissen ▪
Literaturgeschichtliches (Epochen-)Wissen •
Autorenwissen
(Autorkonzepte und biografisches Wissen)
•
Intertextuelles Wissen
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Gattungen und Gattungsbegriffe im
schulischen Literaturunterricht
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
25.07.2024
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