»Thomas Kielinger
(geb. 1940) (1971) folgt in seiner Interpretation von • Franz Kafkas
• Parabel •"Gibs
auf, die
am 2.1.1971 in der Zeitung Die Welt - Nr.1
veröffentlicht wurde, den hermeneutischen Prinzipien der
werkimmanenten Methode, indem er den Text einer genauen Analyse
unterwirft, die bis ins Detail reicht.
Wort für Wort, Satz für Satz wird die
Erzählung analysiert, um am Ende den Schluss ziehen zu können, dass die
"Geschichte (...) mit rigoroser Konsequenz auf das
Einverständnis mit dem "Notwendigen", dem Entzug der Hoffnung, angelegt
(ist)."
Die
Genauigkeit und den Fortgang seiner Analyse lohnt es sich näher zu
betrachten: "Jemand ist auf dem Weg zum Bahnhof. Die Zeit:
»Sehr früh am Morgen«, die Straßen: »rein und leer«. Das suggeriert
Sicherheit; wer sehr früh am Morgen, bei offenem Weg, zum Bahnhof aufbricht, braucht
nicht zu fürchten, seinen Zug zu verpassen. Diese Freiheit von Angst gibt auch der
Sprache ihre Form: die Worte wiegen sich in der Ruhe abgewogener Alternation. Man hört
den gleichmäßigen Schritt der ihrer Sache, ihres Weges sicheren Person. Zwei kurze
Hauptsätze, von einer hauptsatzartigen Apposition unterbrochen, aber im Fluss nicht
gehindert, geben der Einleitung ihre thematische wie sprachliche Zielstrebigkeit. Den
Abschluss bildet der
Spondeus1 "Bahnhof" - das Bild zweifelsfreier
Zuversicht ist vollkommen, Vertrauen verbreitet sich."
Im Anschluss daran
bemühe sich das Ich darum, mit Hilfe einer Autorität, zu der es sich in
Beziehung setzen könne, sich und seine Situation in raumzeitlichen
Koordinaten zu verorten. Diese Autorität stelle zunächst einmal die Turmuhr
dar, an der er seine eigene Uhr auszurichten gedenke.
Im Unterschied zum
Eingangssatz würden damit aber differenzierte Vorgänge in Spiel gebracht, "die, sprachlich analog, in der Form differenzierterer Satzstruktur artikuliert werden."
So erweise sich rasch, dass die Vorstellung, es sei noch früh am Morgen, die
der Mann zunächst hat, als eine Illusion, denn in Wahrheit ist es eben
»schon viel später« als er geglaubt.
So werden seine Handlungsspielräume,
die ihm angesichts dieser Situation bleiben, enger und er muss sich
»beeilen«. Und die Notwendigkeit zur Eile, das Müssen, welches das Ich
unumstößlich feststellt, führt Kielinger zur Überlegung, ob es nicht
prinzipiell denkbar sein könnte, "dass die Turmuhr vorgeht, wäre es nicht
grundsätzlich angebracht, die Autorität dieses öffentlichen Chronometers
wenigstens für einen kurzen Augenblick in Zweifel zu ziehen?" (ebd.)
Die Art
und Weise, wie das Ich sich dieser Autorität »ohne Gegenwehr« unterwerfe,
lasse schon das endgültige Scheitern erahnen. (vgl. ebd.) Alles in allem:
eine quasi "archetypische2
Kafka-Situation" in ihrer Entstehung, die beklemmend wirken
könne.
Dabei wisse man aber zunächst nicht, ob dies eher "der a priori3 gegebenen Unerbittlichkeit der Umwelt oder der nicht weniger
"prästabilierten"4
Opferbereitschaft des Individuums" zuzuschreiben sei.
In ihrer strukturellen
Koppelung aneinander liegt daher sicher die Ursache dieser Wirkung, die sich
auch im Bewusstsein des Ichs widerspiegeln. Und dies mit gravierenden
Folgen. Als es sich dieser Tatsache bewusst wird, erschrickt es und wird »im Weg
unsicher«.
"Mit dem Einsetzen der Angst," so Kielinger weiter,
"beginnen die beiden Koordinaten Raum und Zeit sich zu verändern. Bei viel
Zeit, wie sie der erste Satz zu
suggerieren5
schien, tritt der Raum zurück, gibt den Einzelnen frei; wird die Zeit knapp,
rückt auch der Raum wieder zusammen, stellt sich feindselig in den Weg. Der
Schrecken pflanzt sich kettenreaktionsartig fort: fehlt es an Zeit, dann
wächst auch die Gefahr, die Raumorientierung zu verlieren (»ließ mich im Weg
unsicher werden«), und es ist nur ein kleiner Schritt zu dem katastrophalen
Eingeständnis »ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus«."
Was
folgt, ist für Kielinger eine Kettenreaktion des Schreckens, denn wenn jemand in einer
solchen Situation keine Zeit mehr hat, kann er eben auch leicht die
räumliche Orientierung verlieren. Das Eingeständnis des Mannes, sich in »in
dieser Stadt noch nicht sehr gut« auszukennen, das sich für das Ich anfangs
ohne den Zeitdruck nicht sonderlich folgenreich anfühlte, wird fortan zu
einer Bedrohung, die Kielinger in die treffenden Worte fasst: "Was vorher
nach freier Bahn aussah, gleicht nun mehr und mehr einem Spinnennetz."
Fortan muss eben alles schnell gehen, das Ich legt, wie er fortfährt,
"hektisches Tempo" vor, das von sechs
parataktisch6
aneinander gereihten Kurzhauptsätzen mit einem ungleichen Rhythmus
unterstrichen werde. So wird über die sprachliche Gestaltung der zunehmende
Kontrollverlust des Ichs verdeutlicht, das in eine "in sich steigernde
Abhängigkeit, Getriebenheit" (ebd.) falle.
So scheint klar: "Aus dem offenen
Raum droht ein Labyrinth zu werden, aus gleichmäßig ausgreifenden Schritten
panische Bewegungen." (ebd.)
Nun kann dem Ich nur noch eine andere Autorität
helfen. Es finde diese im Schutzmann, von dem es Hilfe aus seiner ausweglos
erscheinenden Lage erhoffe. "Im Zustand panischer
Angst, wo zwei feindselige Größen wie Zeit und Raum bereits unüberhörbar
"Gibs auf"
insinuieren7,"
könne der Schutzmann Mut machen und Schutz gewähren, geradezu in Umkehrung
des von ihm tatsächlich Gesagten ein "Gib-nicht -auf" formulieren.
Damit habe es der Schutzmann in der Hand, den Bann zu brechen. Doch das Gegenteil ist der
Fall, "die vom Ich an den Schutzmann geknüpften Erwartungen - Erwartungen,
die der Leser durchaus teilt - " (ebd.) erfüllen sich nicht.
Stattdessen, so betont
Kielinger weiter, bahne sich eine zweite
Desillusionierung8
an, als der Schutzmann lächelnd sagt: »Von mir willst du den Weg
erfahren?« Für Kielinger pointiert "ein
schlechter, ein zeitraubender Witz."
Die Gegenfrage, mit der er auf die
Frage des Ichs antwortet, und sein Lächeln - "eine Mischung aus Spott,
Mitleid und Nicht-helfen-Können" - halten das fragende Ich auf
Distanz, denn damit stelle sich der Schutzmann, dessen Aufgabe von Amts
wegen sei, "Schutz zu gewähren vor der Ausweglosigkeit, Auskunft zu
geben, die aus ihr herausführt", sich aus selbst in Frage. Mit der
Konsequenz: Die Frage falle auf den ursprünglich Fragenden wie ein
Bumerang zurück und dabei werde wertvolle Zeit vertan.
Von besonderer Bedeutung ist für Kielinger "die
paradoxale9
Entsprechung der beiden Autoritätsträger »Turmuhr« und
»Schutzmann« [...]. Das Ich der Erzählung hatte die Turmuhrauskunft mit keinem Zweifel in Frage
gestellt; die sententiöse (im Sinne von englisch sentence" = Urteil)
Unerbittlichkeit war vorbehaltlos anerkannt worden. Die erste Antwort des Schutzmannes nun
zielt auf die gleiche Wirkung: abweisende Unerbittlichkeit (die sich mit der zweiten
Antwort endgültig artikuliert). Aber sie wird diesmal gerade durch das Gegenteil
erreicht; durch Infragestellen; denn da das Ich sich dem Schutzmann in der ausdrücklichen
Hoffnung auf Hilfe zugewandt hat, muss es sich hier durch Fragwürdigkeit in die gleiche
Verzweiflung versetzt sehen, wie vorher durch die Fraglosigkeit der Turmuhrinstanz.
Kunstvoll - wenn diese
ästhetische10 Vokabel bei der Analyse eines offensichtlich
existentiellen11 Textes gestattet ist - zieht hier der Autor, zieht Kafka die Schlinge der
Ausweglosigkeit ('doppelt verknotet') um den 'Helden' der Erzählung
zusammen. Die alltägliche Situation hat sich in einen Alptraum verwandelt."
Kielinger meint, dass in einer solchen Lage jeder Spruch eine befreiende
Wirkung habe, so auch der Spruch »Gibs auf, gibs auf«, mit dem der
Schutzmann den Fragenden seiner Verzweiflung überlässt. Im Klartext
gesprochen wolle der Schutzmann damit sagen: "Deine Lage ist nicht allein
prekär12, sie ist nicht nur unsicher - sie ist hoffnungslos. Die Autorität verstößt den
Einzelnen - damit ist auch die letzte Illusion entlarvt: dass der Schutzmann ein
'Schutz'-Mann sei, Schutz gewähren könne. Statt dessen wandte er sich
"mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein
wollen".
Dadurch verliere das Ich auch die Hoffnung, im Unglück
Rückhalt in oder überhaupt so etwas wie "Gemeinschaft zu
finden". Eigentlich hätten beide Protagonisten bei ihrem Frage- und Gegenfrage-Spiel
niemals echten Kontakt
zueinander gefunden und gingen wieder auseinander "wie Gestirne im
Schwebezustand unendlicher Beziehungslosigkeit."
Darin zeige sich auch "das Strukturgesetz
heimlicher
Analogie*
(ebd.). Noch am Anfang des Textes, in der Formulierung des
ersten Satzes, habe man als Leser noch den Eindruck gewinnen können, dass die darin zum Ausdruck
kommende Leere ("die
Straßen rein und leer") "noch ganz zur Dimension der Hoffnung, der hoffnungsvollen
Erwartung" (ebd.) gehöre. Am Ende des Texte freilich markiere sie die Aussichtlosigkeit jeder Hoffnung,
"die
Existenzweise einsamer Einzelner im Angesicht absoluter Verurteilung, von der auch der
Schutzmann nicht ausgeschlossen bleibt, denn der »große Schwung« umgrenzt auch
seine eigene trostlose Isolation. Sein Lachen ist das Lachen der Verzweiflung - es klingt,
um ein Wort Kafkas Gustav Janouch gegenüber zu verwenden, nach "ungeweinten
Tränen".
So kommt Kielinger am Ende zum Schluss: "An der End-Gültigkeit der Situation kann kein
Zweifel bestehen - und das nicht nur, weil die Geschichte hier tatsächlich abbricht; auf
das vernichtende "Gibs auf" (vernichtend für beide Protagonisten) erfolgt kein
Protest, das Urteil - wie zuvor bereits die Auskunft der Turmuhr - erfährt keine
Infragestellung mehr, provoziert keinen weiteren Einspruch. Die Geschichte ist mit
rigoroser Konsequenz auf das Einverständnis mit dem "Notwendigen", dem Entzug
der Hoffnung, angelegt."
WORTERKLÄRUNGEN:
1
Spondeus: Versfuß aus zwei Längen
2
archetypisch: der Ursprungsform entsprechend, der Urform entsprechend
3
a priori:
allg. von vornherein, grundsätzlich; von der Erfahrung oder der Wahrnehmung
unabhängig; durch vernunftgemäßes, logisches Erschließen gewonnen;
4
prästabiliert: im Voraus festgelegt, nicht veränderbar
5
suggerieren: 1. jemandem etwas einreden, ohne dass dies dem Betroffenen
bewusst wird; 2. darauf abzielen, einen bestimmten Eindruck entstehen zu
lassen, der den Tatsachen nicht entspricht (täuschen)
6 parataktisch: Aneinanderreihung von Hauptsätzen (→Parataxe)
7 insinuieren: einschmeicheln
8
Desillusionierung: 1. (ohne Pl.) Enttäuschung, Ernüchterung 2.
enttäuschendes Erlebnis; Erfahrung, die eine Illusion zerstört
9
paradoxal: auch: paradox; 1. widersinnig, einen Widerspruch enthaltend
2. (ugs.) sehr merkwürdig, unsinnig, völlig abwegig
10 ästhetisch: 1. die Ästhetik
betreffend 2. stilvoll, schön, geschmackvoll
11
existentiell: auf das unmittelbare und wesenhafte Dasein bezogen,
daseinsmäßig
12
prekär:
misslich, schwierig, heikel
13
Analogie: Entsprechung, Ähnlichkeit, Übereinstimmung
•
KI: Welche
literaturwissenschaftlichen Interpretationsansätze gibt es für Franz Kafkas Text "Gibs
auf!"?
• Stereotype Deutungsansätze vs.
Analyse von Codes
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
03.02.2025