• Franz
Kafkas • Poetik der
Reduktion von Sprache, Erzählhaltung und erzähltechnischen Mitteln
führt auch dazu, dass er bestimmte Muster des Erzählens modifiziert
und variiert oder sie durch innovative Formen ersetzt.
So bricht er nicht nur mit traditionellen Darstellungsformen,
sondern entwickelt auch einen eigenständigen Stil bzw. eine besondere
Erzählweise. Seine Beschränkung auf den figuralen Erzählmodus ist
dabei die wichtige formale Innovation, die es ihm ermöglicht, die
innere Welt seiner Figuren auf intensive und unmittelbare Weise
darzustellen.
Im Kontext der literarischen Moderne lässt sich seine innovative
Erzählweise unter vier Aspekten betrachten:
1. Reduktion und Innovation
Kafka reduziert traditionelle Darstellungselemente und etabliert
alternative Formen. Er verzichtet auf ausführliche Beschreibungen,
Einmischungen des Erzählers und eindeutige Deutungen. Stattdessen
konzentriert er sich auf die innere Welt seiner Figuren und erzeugt
dadurch eine Atmosphäre der Ungewissheit und des Unbehagens. Dies
führt bei der Textrezeption auch dazu, dass die Leserinnen und
Leser zahlreiche Leerstellen vorfinden, die sie selbst füllen
müssen, um ein kohärentes Textverständnis entwickeln zu können.
2. Krise der Repräsentation
Kafka teilt mit den Vertreter*innen der klassischen Moderne die Suche nach neuen
Ausdrucksformen im Angesicht einer "generellen Krise der
Repräsentation". Die traditionellen literarischen Mittel und
Formen erscheinen
ihnen unzulänglich, um die komplexen Erfahrungen der Moderne mit
ihren Krisen und Krisenerfahrungen (Industrialisierung, Krieg,
soziale Umbrüche) abzubilden. Kafka reagiert darauf u. a. mit seiner
• Poetik der
Reduktion von Sprache, Erzählhaltung und erzähltechnischen
Mitteln und sowie einer Fokussierung auf die subjektive
Wahrnehmung seiner Protagonisten,
Denn gegen die Verdinglichung der Formen als Tendenz des
Epigonentums im 19. Jahr hundert setzt die gesamte Klassische
Moderne einen ganz anders gearteten Willen zur Form, der letztlich
auf die Individualisierung der Formen hinausläuft.
3. Individualisierung der Form
Kafka lässt sich keiner spezifischen literarischen Strömung, auch
nicht dem »Expressionismus
(1905.1925), zuordnen, aber er teilt mit der
Klassischen Moderne "einen ganz anders gearteten Willen zur
Form". (Oschmann
2010, S.441) Dieser Wille zielt vor allem auf eine
Individualisierung der Formen, die jedem Autor den Spielraum zur
Entwicklung seines eigenen,
unverwechselbaren Stils lässt.
4. Figuraler Erzählmodus
Kafkas dominanter Erzählmodus ist klar definiert und ist
gekennzeichnet durch die Beschränkung auf die Perspektive der seiner
Protagonisten.
Der Leser nimmt die Welt aus deren subjektiver Sicht wahr und
bleibt, was andere Figuren angeht, auf die Außensicht beschränkt,.
Mit dieser Technik kann Kafka die innere Welt seiner Figuren intensiv auszuleuchten und
eine Atmosphäre der Unmittelbarkeit zu schaffen. Obwohl diese
Technik nicht völlig neu ist (z. B. »Jane Austen
(175-1815), »Gustave Flaubert
(1821-1880), »Henry James
(1843-1916)),
hat Kafka sie auf eigene Art und Weise weiterentwickelt.
(vgl. Oschmann
2010, S.441)
Neben den oben aufgeführten Elementen einer innovativen Erzählweise
weisen seine Erzählungen aber auch noch weitere typische
Erzähltechniken auf (vgl.
ebd.)
-
Uneigentlichkeit
und Ironie
Kafka nutzt verschiedene Formen des uneigentlichen
Sprechens, verwendet Ironie, um die Diskrepanz zwischen Schein
und Sein, Erwartung und Realität aufzuzeigen. Oft wird eine
Situation oder Aussage ins Lächerliche gezogen, um die
Absurdität der dargestellten Welt zu verdeutlichen
-
Entwirklichung und Relativierung
Immer wieder sorgt er
für eine "außerordentliche
Komplexitätssteigerung" (
ebd.)
der Darstellung, indem er
Aussagen auf irgendeine Art und Weise entwirklicht oder
relativiert. Dies trägt zu den immer wieder beklagten
Interpretationsschwierigkeiten von Kafkas Texten bei.
Je nach Wirkungsintention setzt Kafka unterschiedliche •
wort- und
•
satzstilistische Mittel ein. Dazu zählen vor allem die
Aneinanderreihung von Hauptsätzen (Parataxen), aber ebenso
komplexe, lange und ineinander verschachtelte Sätze mit
zahlreichen Nebensätzen und Einschüben. Häufig verwendet er auch
so genannte Konjunktivketten, also Sätze, deren Prädikate im •
Modus des
Konjunktivs
• aneinandergereiht werden und Als-ob-Konstruktionen.
Hinzukommen kann dabei noch ein Perspektivenwechsel innerhalb
von Sätzen, die einem kohärenten Textverständnis beim Lesen
immer wieder als •"Stolpersteine"
im Weg liegen können.
Wie die Perspektive kann sich auch die Bedeutung von Wörtern und Begriffen im Laufe der
Erzählung verschieben. Solche "semantische(n) Verschiebungen und
narrative(n) Selbstkorrekturen [... ] (erwecken) zwar den
Anschein der Präzisierung erwecken, (treiben) Protagonist und
Leser jedoch nur tiefer in die Desorientierung der Bedeutungen".
(ebd.)
Indem sich der Erzähler auf diese Art und Weise selbst
korrigiert und
neue Informationen einführt, die das bis dahin bei der Lektüre
gewonnene Textverständnis
in Frage stellen, muss ein Leser bzw. eine Leserin, sofern er
diese Stolpersteine wahrnimmt, im Zuge der
• Bottom-up- und
Top-Down-Verarbeitung beim Lesen zur •
Sinnkonstruktion immer wieder aufs Neue
Inferenzen zwischen den Textelementen und seinem eigenen
Wissen herstellen. Die daraus folgende Dynamik steht dabei einer
vereindeutigenden Sinnkonstruktion durch einen Leser bzw. einer
Leserin entgegen.
Die Handlung kann plötzlich eine unerwartete Wendung nehmen. Die
Funktion von Gegenständen oder Figuren kann sich verändern. Dies
hält den Leser in Atem und verstärkt das Gefühl der
Unvorhersehbarkeit.
Der Erzähler kann sich widersprechen oder Informationen
zurückhalten. Dies lässt den Leser an der Zuverlässigkeit des
Erzählers zweifeln und trägt zur Ungewissheit der Interpretation
bei.