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Der
biografische Ansatz im Wandel
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Die Bedeutung des Schreibens für Franz Kafka
"Es gibt wohl keinen anderen deutschsprachigen Autor", sagt Michael
Müller
(1994/2003b, S.8), "über dessen Leben soviel bekannt ist" und das,
obwohl Kafka selbst ein Mensch gewesen sei, "der das Rampenlicht der
Öffentlichkeit scheute, dem es – jedenfalls Brod* zufolge – nie um
›Publizität‹ zu tun war." (* »Max
Brod 1984-1968, Freund und Herausgeber der posthum veröffentlichten
Werke Franz Kafkas).
Bis heute hat die
▪
Biografie Kafkas an Faszinationskraft wenig eingebüßt.
Im Kafka-Jahr 2024, indem sich der Todestag des Autors zum hundertsten
Mal gejährt hat, wurden in allen Medien dazu zahlreiche Produktionen
präsentiert. Die wichtigste dieser Produktionen dürfte die in
Deutschland von der ARD ausgestrahlte österreichische »Fernsehserie
›Kafka‹ sein. Die von »David
Schalko (geb. 1973) als Regisseur, dem renommierten und vielfach mit
Preisen dekorierten Schriftsteller »Daniel
Kehlmann (geb. 1975) als Drehbuchautor und mit dem Schauspieler »Joel
Basmann (geb. 1990) in der Titelrolle als Franz Kafka erste Staffel
der Filmbiografie in 6 Episoden. Die »von
der Kritik sehr gelobte Miniserie erreichte mit ihren »Einschaltquoten
in Deutschland und Österreich ein Millionenpublikum. In der
ARD-Mediathek können alle Folgen der Serie • "Kafka"
angesehen werden.
Für die Leserinnen und Leser ist der Zugang über den Autor
traditioneller Weise ohnehin eine Art "Königsweg", der ihnen "das Verstehen von
literarischen Texten durch die lebensweltlich vertrautere Operation des
Verstehens von Menschen" offenbar dadurch erleichtert, dass er "eine
gemeinsame Grundlage zwischen Autor und Leser – nämlich
das ›Menschsein‹ in einem ebenso
umfassenden wie vagen Sinne (schafft)."
(Engel 2010,
S.419)

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Der biografische Ansatz im historischen Wandel (Kurzer Abriss)
Um die Bedeutung des
biografischen Ansatzes und zugleich auch seine Historizität zu
verstehen, kann ein knapper Überblick dienen, mit dem der Ansatz also
solcher eingeordnet werden kann. An anderer Stelle haben wir diese •
Entwicklung detaillierter
dargestellt.
Wissenschaftsgeschichtlich
betrachtet geht der biografische Ansatz auf den Philosophen »Friedrich
Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834), den "Stammvater moderner Hermeneutik" (Bogdal
1996, S.139), und dessen • "Kunstlehre des Verstehens"
zurück. Diese versucht im Kern, "sprachliche Äußerungen oder ihre
Dokumente aus dem Textkontext und dem Lebenskontext so zu
rekonstruieren, dass nicht nur intuitives, sondern intersubjektiv
begründbares Wissen sein Verständnis belegt." (Rusterholz
1996, S. 113)
Schleiermachers Konzept der • "psychologischen
Auslegung" sieht neben der so genannten "grammatischen
Auslegung" der lokalen Textebene die Berücksichtigung der
Lebensumstände des Autors vor, soweit sie im Zusammenhang mit der zu
rekonstruierenden ›Eigentümlichkeit‹ seines •
Schreibens stehen, als eine notwendige Aufgabe beim Textverstehen.
(vgl.
Köppe/Winko (2013). 3.2.1 Die philologische Hermeneutik
Schleiermachers)
Der
•
literaturgeschichtliche Positivismus des 19. Jahrhunderts (z. B. »Friedrich
Scherer 1841-1886) der sich mit
seinem Ansatz "literar(ische)
Texte aus den sie bedingenden Faktoren herzuleiten" (Kablitz
2004, S.537) vor allem der Biografik zuwandte, verkam aber bei einigen
seiner Vertreter immer mehr zu "bloße(m) Faktensammeln" (Petersen/Gutzen
72006, S.176) und "Stoffhuberei" (ebd.),
die sich kaum mehr in plausible Kausalzusammenhänge von Werk und Autor
bringen ließen. Dabei waren es vor allem die Nachfolger Friedrich Scherers,
die einen "leere(n) Biographismus" pflegten, der mit "dem
minuziösen Nachweis biographischer Details und historischen Belegen" (Klein/Vogt
31974, S.30) den ursprünglich noch weiter angelegten
historischen Ansatz Scherers zusehends verengt haben.
Und auch die auf »Wilhelm
Dilthey (1833-1911) zurückgehende •
geisteswissenschaftliche Literaturwissenschaft,
die den Positivisten gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Rang ablief,
rückte nicht gänzlich von der Wertschätzung der Biografie für das
Verstehen ab. Allerdings stellte sie "die literaturwissenschaftliche
Arbeit zum erstenmal in einen weit gespannten
philosophisch-theoretischen Legitimationszusammenhang" (Brackert
1981, S.416), was unter anderem dazu führte, dass "die Bedeutung
lebensgeschichtlicher Details für das zu interpretierende Werk desto
geringer eingeschätzt" wurden, "je bedeutender das Werk, und das heißt
nach geisteswissenschaftlicher Voraussetzung: die Identität von Leben
und Werk darstellt. Oder anders gesagt: Je bedeutender die
Dichterpersönlichkeit ist, desto unwichtiger wird es, dieses Werk auf
das konkrete Leben seines Verfassers zurückzubeziehen." (ebd.)
Im •"doppelten
Sündenfall der deutschen Literaturwissenschaft" (Petersen/Gutzen (72006,
S.181) haben danach die nationalsozialistische und die marxistische
Literaturwissenschaft, die von der geisteswissenschaftlichen Methode
gebotenen "Schnittstellen" konsequent für die Verbreitung ihrer Ideologie
genutzt. Deren "Grundbegriffe" ließen sich ohne weiteres ideologisch so (neu-)besetzen,
dass sie in das System der jeweiligen Weltanschauung fast ohne jegliche
"Reibungsverluste" hineinpassten. Zudem wurde das "biographische Paradigma",
da wo es wiederbelebt wurde, "stark für politisch-ideologische Zwecke missbraucht." (Pauldrach
2020, S.1)
Nach 1945 schien der Weg
für eine Neuausrichtung der literaturgeschichtlichen Forschung zunächst frei
und damit auch für eine Entwicklung, die dem biografischen Ansatz hätte
neues Leben einhauchen können.
Allerdings setzte nach 1945 die •
werkimmanente Methode
(Werkinterpretation) mit seiner formalästhetisch ausgerichteten und ahistorischen
Interpretationslehre, die die •
Autonomie des literarischen Werkes ("Das sprachliche Kunstwerk lebt als
solches und in sich."
Kayser
1968, S. 24) betonte, dem ein Ende. Für die
Werkinterpretation war der biografische Ansatz konzeptionell falsch, weil
ein literarischer Text seinen ästhetischen Status gerade dadurch erhalte,
dass er sich von der Biografie seines Autors oder seiner Autorin löse. (vgl.
Spinner 32019,
S.239f.) Die Tatsache, dass sie die
Literatur ohne ihre kontextuellen Bezüge verstehen will, hat die
werkimmanente Interpretation im literaturwissenschaftlichen Diskurs aber
spätestens seit den 1990er Jahren endgültig ins Abseits bugsiert.
Dabei hatten sich schon
zahlreiche andere Vertreter der Literaturwissenschaft von der
Enthistorisierung des literarischen Werkes abgewendet. En vogue waren dann "struktur- und sozialgeschichtliche
Modelle (...), zu denen auch Periodisierungen nach dem Epochenschema zählen"
(Pauldrach
2020, S.1). Biografische Ansätze blieben hingegen bis die 1980er ohne größere Bedeutung.
In jedem Fall hat die
Literaturwissenschaft vom 19. Jahrhundert an bis in die Mitte des 20.
Jahrhunderts bevorzugt die Biografie eines Autors bzw. einer Autorin genutzt, um die
seine/ihre Werk zu erklären und zu deuten. Allerdings hat sie der
Biografie dabei auch immer wieder einen unterschiedlichen Stellenwert für das
Verstehen eines literarischen Textes gegeben und den •
Ansatz entsprechend
modifiziert. (vgl. •
Der biografische Ansatz im Wandel). Im Übrigen ein Beispiel
dafür, dass selbst bestimmte literaturwissenschaftliche Methoden keine
ahistorischen Zugangsweisen zu literarischen Texten darstellen, sondern
ihre eigene Geschichte haben.
Der biografische Ansatz ist wahrscheinlich auch deshalb so populär, weil
"Kafkas Leben und • Schreiben in
besonderer Weise eine Einheit bilden"
Müller
(1994/2003b, S.8), anders ausgedrückt: weil, "der existenzielle
Bezug von Kafkas Schreiben (...) in der Tat so stark (ist), dass eine
biographische Deutung fast immer möglich ist – und fast immer zu
durchaus einleuchtenden und nachvollziehbaren Ergebnissen führt."
(Engel 2010,
S.419)
Allerdings läuft die "Auffassung über die Einheit von Leben und Werk
sowie die Erklärbarkeit des Werkes durch den Autor" (Petersen/Gutzen
72006, S.172 ) Gefahr, als
Biographismus dem literarischen Werk als
solchem nicht mehr gerecht zu werden. (vgl.
ebd )
Dennoch steht der
biografische Ansatz in der heutigen der Literaturwissenschaft nicht hoch
im Kurs, wenngleich einzuräumen ist, dass er, wenn er als
"Orientierungshilfe" verstanden und genutzt wird "nicht ohne
Erkenntniswert ist" (Engel 2010,
S.420), zumal es einfach "einige Themenbereiche (gibt), auf die man
in der Interpretationsgeschichte regelmäßig zurückkommt."
(Andringa
2008, S.319)
Trotzdem: Gegen den biografischen Ansatz wird eingewendet, dass für ihn
die Selbstdeutungen des Autors die wesentlichen Bezugspunkte sind, die
nur bedingt an den historischen Fakten überprüft werden können. Das
gelte, so Engel auch für Kafkas "überzogen negatives Vaterbild"
(ebd.,
S.420)
Zum anderen wird betont, dass hinter den biografischen Bezügen die
besondere ästhetische Qualität eines literarischen Textes, seine
Literarizität, aus dem Auge gerate. Wenn Kafkas Texte z.B. mit seiner
vermeintlich schizoiden Persönlichkeitsstruktur erklärt würden, würden
Verständnisprobleme einfach "weg-erklärt" und Kafkas Werk "zum
human
interest-Fall [...] einer etwas verquer geschriebenen
Autobiographie".(ebd.)
Schließlich, das ist das dritte Gegenargument, übersehe der biografische
Deutungsansatz, dass Kafka ja keine "individuellen Lebensgeschichten,
sondern (...) modellhaft verallgemeinerte Konstellationen (entwirft)"
(ebd.),
die zwar ohne seine eigenen Erfahrungen nicht entstanden sind, diese
aber keineswegs abbilden.
Im heutigen •
Literaturunterricht gehört das
Einbeziehen von •
Autorenwissen
(Biografisches und autobiografisches Wissen)
beim • Hinzuziehen von
Kontexten verschiedener Art im Rahmen der •
Analyse
und Interpretation literarischer Texte zu den gängigen, meistens •
kognitiv-analytischen Zugängen und •
Methoden, um die Werke eines
Autors bzw. einer Autorin zu erklären und zu deuten.

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Das dem so ist, ist zum
einen darauf zurückzuführen, das die biografischen Informationen, wenn
sie • in einem dafür geeigneten
Unterrichtssetting erworben bzw. eingebracht werden, in dem sie
keine • "Störeffekte"
entfalten (vgl.
Spinner 2022a,
S. 176) "einer motivierenden Textlektüre dienen" können (ebd.)
Zum anderen liegt dies wohl auch daran, dass Informationen über das Leben
von Autoren auch in vielen Lehrwerken immer wieder zur
Kontextualisierung literarischer Primärtextes herangezogen werden
(vgl.
Pauldrach 2020,
S.2). Autorbiografien eignen sich besonders gut zur narrativen
Vermittlung von Geschichte beim •
historischen Erzählen
von Lehrerinnen und Lehrern. Aber auch für die Schülerinnen bieten
Informationen aus unterschiedlichen Quellen und Medien eine
ausgezeichnete Möglichkeit, auf dem Weg entdeckenden Lernens ihre eigene
Erzählung über das Leben eines Autors zu konstruieren. So können sie mit
dem Autorwissen, das sie unter einer vorgegebenen oder selbstgewählten
Problemstellung eigenständig recherchieren und/oder aus einer
Materialauswahl erarbeiten, die individuelle Bedeutsamkeit dieses
Wissens in ihrer individuellen Bedeutsamkeit zu erfahren.
Informationen zu den
Lebensumständen im Literaturunterricht sind dabei nicht per se hilfreich bei
der Interpretation und •
Sinnkonstruktion.
Ob sich der Aufwand für das literarische Verstehen lohnt, entscheidet man am
besten von Fall zu Fall. Zudem ist immer wieder zu beobachten, dass
Schülerinnen und Schüler beim Heranziehen des biografischen Kontexts zur
Plausibilisierung ihrer Deutung zu • "biographistische(n) Verkürzungen"
(Nickel-Bacon
2014, S.95) neigen. So kommen zwar nicht unbedingt falsche, aber doch
sehr vereinfachende Interpretationen zustande, die dem literarischen Text u.
U. nicht gerecht werden. (vgl.
ebd.)
Dass Schülerinnen und
Schüler zu biografistischen Verkürzungen tendieren, dürfte auch damit
zusammenhängen, dass die damit verbundenen lebensweltlichen Bezüge (s. das
oben genannte ›Menschsein‹) ihnen
vertrauter erscheinen als die abstrakten Deutungsrahmen anderer Ansätze. Der
biografische Bezugsrahmen macht in ihren Augen literarische Texte
lebendiger, weil sie "erkennen, dass hinter dem Werk ein Mensch mit seinem
Engagement, seinen Leidenserfahrungen und seinen Sehnsüchten steht." (Spinner
(32019, S.239f.)
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Baustein:
Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden: Dass einem diese Texte "schräg" vorkommen, ist ganz normal ...
• Die Bedeutung des Schreibens für Franz Kafka
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
03.02.2025
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