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Literaturgeschichte

Von der Nationalliteratur zum modernen Pluralismus literaturgeschichtlicher Ansätze


FAChbereich Deutsch
Glossar
Literatur Autorinnen und Autoren Literarische Gattungen [  Literaturgeschichte Didaktische und methodische Aspekte ÜberblickVon der Nationalliteratur zum modernen Pluralismus Literatur auf dem Weg in die Moderne Zwischen Mono- und Multiperspektivismus Literaturepochen ] Motive der Literatur Grundlagen der Textanalyse und Interpretation Literaturunterricht Schreibformen  Operatoren im Fach Deutsch
 

Literatur hat ihre Geschichte und die Literaturgeschichtsschreibung ebenso (vgl. z. B. Meier 1996, S.574-582) Und auch die Theorie der Literaturgeschichtsschreibung, die spätestens seit den 2010er Jahren wiederbelebt worden ist, schreibt in diesem Jahrhundert wieder kräftig an ihr mit. (vgl. Buschmeier 2011, 2014; Buschmeier, Matthias; Walter Erhart und Kai Kauffmann (Hg.) 2014) Historisch gesehen machte die Literaturgeschichtsschreibung über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg "den Kern der Literaturwissenschaft" (Meier 1996, S.511) aus.

Die hermeneutische Wende Ende des 18. Jahrhunderts

Bahnbrechend für die Entwicklung auch der Literaturgeschichtsschreibung dürfte vor allem die • "Kunstlehre des Verstehens" des der ▪ Romantik verbundenen Philosophen »Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) gewesen sein, mit dem so genannte "hermeneutische Wende" beginnt. Schleiermacher erkennt wohl als erster, dass auch das wahrnehmende Subjekt Einfluss auf das Verstehen nimmt und der Verstehensprozess auch von seinen Entscheidungen abhängt.

Schleiermachers "Kunst des Verstehens" modelliert – auf eine griffige Formel gebracht – "Verstehen [...] als reproduktive Wiederholung der ursprüngl(ichen) Produktion aufgrund von Kongenialität." (Metzler Literaturlexion,21990, S.197). Im Kern versucht Schleiermacher, "sprachliche Äußerungen oder ihre Dokumente aus dem Textkontext und dem Lebenskontext so zu rekonstruieren, dass nicht nur intuitives, sondern intersubjektiv begründbares Wissen sein Verständnis belegt." (Rusterholz 1996, S. 113)

Der immanente Deutungsprozess stellt sich in der "Kunst des Verstehens" von Schleiermacher als eine auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Methoden zu organisierende Rekonstruktion dar, die den Sinnbildungs- bzw. Deutungsprozess  "als ein Mit-Konstruieren von Botschaften seitens des Interpreten und Lesers" (vgl. Becker/Hummel/Sander 22018, S.193) versteht, die sich mit der Denkfigur des ▪ hermeneutischen Zirkels beschreiben lässt.

Sein "kunstgerechtes Auslegen" berücksichtigt dabei "allgemeine und individuelle Aspekte des Textes und verbindet rekonstruktive und hypothetische Verfahren" (Köppe/Winko (2013). ebd.) Dass es dabei sogar auf ein besseres Verstehen des Werkes ausgerichtet ist, als es dem Autor selbst möglich ist, liegt zum einen daran, dass Wissen und  Informationsbasis des Interpreten und des Autors unterschiedlich sind, und zum anderen, dass Auslegungsprozesse von Texten eigentlich nie abgeschlossen sind.

Fortan sollte auch Literaturgeschichtsschreibung nicht mehr bloß als Analistik, die die chronologische Reihenfolge der Werke erfasst, und die Biografik, die sich um die alphabetische Reihung der Autorinnen und Autoren kümmert, verstanden werden.

Statt "um die Archivierung von Fakten und deren Strukturierung in Phasen geht es nun [...] um die "Triebkräfte des historischen Verlaufs" (Meier 1996. S.578) Die Rolle des Literarturhistorikers wandelt sich dabei vom Archivar zum Kritiker der Werke, die auf ihre Qualität untersucht und danach selektiert werden.

Von der romantischen Sicht zur Nationalliteratur

Im Anschluss an »Johann Joachim Winckelmanns (1717-1768) »"Geschichte der Kunst des Alterthums" (1764) und »Johann Gottfried Herders (1744-1803) »"´Von der Griechischen Litteratur in Deutschland" (1766) findet mit »August Wilhelm Schlegel (1767-1845) und »Friedrich Schlegel (1772-1829) ein Paradigmenwechsel in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung statt. Die typisch romantische Annahme der Schlegel-Brüder, dass der Verlauf der literarischen Entwicklung als ein Ganzes zu betrachten sei, das den einheitlichen Charakter der noch immer politisch nicht geeinten deutschen Nation zum Ausdruck bringe, macht die Literaturgeschichtsschreibung "zu einem Faktor ersten Ranges", indem sie sich "die Entdeckung einer »inneren Geschichte«" auf die Fahnen schreibt, "die alle einzelnen Phänomene als Teile eines organischen Ganzen miteinander vereint." (ebd. S.590)

»Georg Gottfried Gervinus' (1805-1871) »Geschichte der poetischen National-Litteratur der Deutschen« (1835-1842) geht davon aus, dass sich der Nationalcharakter der Deutschen vor allem in der Dichtung darstellt. Daraus leitet er die Aufgabe der Literaturgeschichtsschreibung ab, einen organischen Wachstumszusammenhang darzustellen, der die erst später realisierbare politische Einigung vorwegnimmt.

Meyers Konversationslexikon aus dem Jahr 1866 (Bd.4, S.733-766) hat die Instrumentalisierung der Literaturgeschichte unter der Perspektive der Nationalliteratur klar und deutlich formuliert:

"Die Aufgabe der Geschichte der deutschen Litteratur bleibt es daher, der Entwickelung des deutschen Volksgeistes und der deutschen Sprache, wie sie sich in den Tausenden von Schriftwerken der bezeichneten Art darstellt, treu und sorgsam nachzugehen, die Wechselwirkung zwischen dem nationalen Leben und unsrer Litteratur klar zu machen, den Reichtum von Besonderheiten, die doch wieder einem allgemeinen Gesetz untergeordnet erscheinen, zu erfassen, die Entwickelungsbeziehungen zwischen den einzelnen Zeiträumen und Schöpfungen der Litteratur darzulegen, und durch historisch-ästhetische Betrachtung zum Genuß litterarischer Schöpfungen anzuleiten. Die Werke der deutschen Litteratur stellen eins der kostbarsten Besitztümer des deutschen Volkes dar; sie sind in verhängnisvollen Zeiten das einzige nationale Besitztum gewesen, und jeder Rückblick auf das Werden und Wachsen, Blühen und Welken, Streben und Irren in den Werken der Dichtung erschließt ein mächtiges Stück deutscher Geschichte und deutscher Eigenart. (Deutsche Litteratur. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 733–766. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Deutsche_Litteratur  (Version vom 09.03.2023 )

Zumindest in populärem Darstellungen hatte diese Literaturgeschichtsschreibung mit ihrer Narration über durch und die verschiedenen Epochen hinweg vor allem die Funktion, »eine art Führung durch ein nationales Museum« zu veranstalten, "in dem die Deutschen wie in einem Spiegel ihr geistiges Werden und ihre kulturelle Identität betrachten sollten." (Nutz 1997/2012, S.274)

Der literaturgeschichtliche Positivismus im 19. Jahrhundert

»Friedrich Scherer (1841-1886), der bekannteste Vertreter des die letzten dreißig Jahre des 19. Jahrhunderts dominierenden literaturwissenschaftlichen »Positivismus, akzentuiert in seiner »Geschichte der deutschen Litteratur« (1880-1883) dagegen Kausalzusammenhänge zwischen der Literatur und den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen, von denen seiner Ansicht nach das Verstehen literarischer Werke entscheiden abhängt. Im Mittelpunkt stehen dabei für ihn der Zusammenhang zwischen dem Werk und der Biografie des jeweiligen Autors. Allerdings verleitet sein Ansatz, wonach im Anschluss an den Begründer der positivistischen Methode Auguste Comte (1798-1857) "allein die bobachtbaren, für die sinnliche Erfahrung wahrnehmbaren Tatsachen [...] Grundlage menschlicher Erkenntnis" (Petersen/Gutzen 72006, S.170) sein durften. Für Scherer bedeutete dies, "literar(ische) Texte aus den sie bedingenden Faktoren herzuleiten" (Kablitz 2004, S.537) und sich vor allem der Biografik zuzuwenden. Die biografische Methode, wonach sich ein literarischer Text nur dann "angemessen verstehen lässt, wenn man ihn aus der Biografie seines Autors erklärt" (ebd.), basiert "auf der Formel eines unmittelbaren Bedingungsverhältnisses zwischen Leben und Werk eines Schriftstellers." (ebd.) Zugleich erscheint sie auch "als eine positivistische Konkretisation der romantischen Ausdrucksästhetik." (ebd.) Die positivistische Literaturwissenschaft lief aber bei einigen der Nachfolger Scherer immer wieder auf "bloße(s) Faktensammeln" (Petersen/Gutzen 72006, S.176)  und "Stoffhuberei" (ebd.) hinaus, so dass es statt der plausiblen Herstellung von Kausalzusammenhängen und der Erforschung allgemeiner Gesetze bei "dem bloßen Anhäufen von Lebenszeugnissen, Stoffen und Motiven" (ebd.) blieb. Unter dem Stichwort »Leben und Werk« tat sich dabei die Goethe-Philologie besonders hervor, "die anhand akribischer Auswertung von Briefen, Gesprächsnotizen und Selbstkommentaren einen möglichst lückenlosen, mitunter geradezu kausalen Zusammenhang zwischen Ereignissen im Leben des 'Dichterfürsten' Goethe und seinen literarischen Texten aufzuweisen versuchte." (Lahn/Meister 2013, S.37

Die biografische Methode mit ihrer "Rekonstruktion der Biographie und die Herstellung von Parallelen zwischen Begebenheiten im Leben des Autors und in den Geschichten seiner Werke"  (Kablitz 2004, S.537) ist auch heute noch vereinzelt in literaturgeschichtlichen Darstellungen, vor allem in den verschiedenen Texten unterschiedlicher medialer Gestalt in populären, für ein breites Publikum verfasstem Darstellungen zu finden. Aber auch im • Literaturunterricht gehört der • Ansatz über das Autorenwissen und die Kontextualisierung durch • Biografie und Autobiografie des Autors/der Autorin zu den gängigen Vorgehensweisen bei der • schulischen Textinterpretation.

Die geistesgeschichtliche Ausrichtung der Literaturwissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts

Kurz nach der Jahrhundertwende setzte sich eine neue Methode in der Literaturwissenschaft durch, die als die geisteswissenschaftliche Methode bezeichnet wird. Sie ist mit dem Namen des deutschen Philosophen »Wilhelm Dilthey (1833-1911 verbunden, der im Verstehen "das nachvollziehende, nachkonstruierende Erfassen von Sinnstrukturen, von vergangenen oder gegenwärtigen Sinngebilden auf der Grundlage eines universalen Lebenszusammenhanges, der sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit manifestiert und im 'Erleben' und 'Nacherleben' [...] erfahrbar wird", sieht.  "Im Erlebnis wird ein einzelner Lebensmoment zur Bedeutsamkeit erhoben und nachbildender Erfassung zugänglich. Solche nachbildende Erfassung ist nach Dilthey keineswegs ein bloßer Gefühlsakt, sondern ein besonderer Erkenntnisvorgang, der ein vergangenes Geschehnis (soweit es sich in einem geistigen Sinngebilde 'objektiviert', d. h. vergegenständlicht hat) als einen jederzeit neu zu vergegenwärtigenden Sinn- und Wirkungszusammenhang erschließt." (Schulte-Sasse/Werner 1977/91997, S.31)

Seine Annahme, dass es jederzeit möglich ist, sich so in ein geistig-geschichtlicher Gebilde "hineinzuversetzen", dass dessen quasi objektiver Sinn sich der verstehenden bzw. erlebenden Anschauung erschließt, überwindet die hermeneutische Distanz oder Differenz zwischen dem Gegenstand des Verstehens und dem erkennenden Subjekt. Und genau dies hat seinen Preis: Indem nämlich damit "Subjekt und Objekt in dasselbe übergeschichtliche Kontinuum hineingestellt werden", wird die räumliche und zeitliche Distanz zwischen beiden "als unwichtig hinwegeskamotiert." (ebd.)

In seiner Texthermeneutik verzichtet er auf die Komponente der "grammatischen Auslegung" und reduziert das hermeneutische Verstehen auf die psychologische Interpretation, die von der Einbeziehung der Kontexte historischer, gesellschaftlicher oder politischer Art gänzlich absieht.

Die Annahme "einer Deckungsleichheit von Leben (des Autors) und Werk (des Autors)" (Becker/Hummel/Sander 22018, S.195) sowie die "Idee des nachfühlenden Aufspürens einer vermeintlichen Einheit von Leben und Werk" (ebd.), bei der "das Verstehen (...) in die fremden Lebensäußerungen durch eine Transposition aus der Fülle eigener Erlebnisse ein(dringt)" (Dilthey, zit. n. Baasner 1997/22006, S.161), blendet indessen Fragen nach der "Bedeutung des objektiven Gehalts eines literarischen Textes" (Becker/Hummel/Sander 22018, S.196) vollständig aus.

Der Verzicht auf die Einbeziehung Kontexte historischer, gesellschaftlicher oder politischer Kontexte der geistesgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft hat für die Literaturgeschichte fatale Folgen. Sie verliert nach und nach so sehr an Bedeutung, dass sie in der Lehre fast nur noch propädeutische Funktion besaß. Die Lebensumstände eines Autors waren im Rahmen der geistesgeschichtlichen Fokussierung auf den Inhalt eines literarischen Werkes und der Orientierung an ahistorischen "Grundbegriffen" wie dem Deutschen dem Heldischen, dem Weiblichen, dem Prinzip der Treue u. ä. m. zu hantieren,  (vgl. Petersen/Gutzen 72006, S.181) mehr als nur zweitrangig geworden.

Der Verzicht die "grammatische Analyse" (Schleiermacher) führte dazu, dass Literaturgeschichte nur noch mit Epochenportraits betrieben wurde, "weil die Mannigfaltigkeit der geistigen Strömungen in aller Regel nur für einen begrenzten Zeitraum erforscht und aufgearbeitet werden kann." (Petersen/Gutzen 72006, S.180) Zugleich reduziert der geistesgeschichtliche Ansatz mit seiner Fokussierung auf den Inhalt eines literarischen Werkes alle formgeschichtlichen, ästhetischen und stilistischen Aspekte auf die Ideen- und Problemgeschichte. (vgl. ebd.)

Ihr Prinzip, statt überflüssiger Details in ahistorischer Betrachtung mit "Grundbegriffen" wie dem Deutschen dem Heldischen, dem Weiblichen, dem Prinzip der Treue u. ä. m. zu hantieren,  (vgl. Petersen/Gutzen 72006, S.181), eröffnete Schnittstellen zur ideologischen Besetzung solcher Begriffe, von denen die nationalsozialistische Germanistik konsequent Gebrauch machte. Sie besetzten diese Begriffe einfach mit ihrer völkischen Ideologie, ohne sie dabei gänzlich umdeuten zu müssen. Aber nicht nur die Nationalsozialisten, sondern auch die marxistische Literaturwissenschaft nutzte die gebotenen Anknüpfungspunkte und besetzte entsprechende Begriffe in ihrem Sinne. Aus diesem Grunde sprechen Petersen/Gutzen (72006, S.181) auch davon, dass die geistesgeschichtliche Methode und ihre Vorstellungen vom Wesen der Geschichte nicht unschuldig an diesem "doppelten Sündenfall der Literaturwissenschaft" gewesen sei.

Von der werkimmanenten Interpretation nach 1945 zum modernen Pluralismus literaturgeschichtlicher Ansätze

Allerdings gelang dies erst, als die lange dominierende • werkimmanente Methode (Werkinterpretation) mit ihrer formalästhetisch ausgerichteten und ahistorischen Interpretationslehre, die die • Autonomie des literarischen Werkes ("Das sprachliche Kunstwerk lebt als solches und in sich." Kayser 1968, S. 24) betonte, als Hindernis aus dem Weg geräumt war.

Dabei hatten sich schon zahlreiche andere Vertreter der Literaturwissenschaft von der Enthistorisierung des literarischen Werkes abgewendet, die auch dazu geführt hatte, dass das "biographische Paradigma gerade in Deutschland stark für politisch- ideologische Zwecke missbraucht wurde." (Pauldrach 2020, S.1) En vogue waren dann "struktur- und sozialgeschichtliche Modelle (...), zu denen auch Periodisierungen nach dem Epochenschema zählen" (ebd.). Biografische Ansätze blieben hingegen bis die 1980er ohne größere Bedeutung. Einen Auftrieb erhielten sie erst wieder mit der postmodernen Geschichtsauffassung, die auch der amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt (geb. 1943), der als einer der wichtigsten Theoretiker des so genannten »New Historicism gilt, vertritt.

Doch auch die sozialgeschichtlich orientierte Literaturgeschichtsschreibung geriet seit den frühen 1980er Jahren in eine Krise, weil sie sich zu sehr an das Muster der ideologiekritischen »Widerspiegelungstheorie klammerte und dabei der Gefahr erlag, "ihre literarischen Gegenstände an gesellschaftliche Kausalfaktoren zu binden." (Meier 1996, S.582)

Dass das Modell der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung, das die Literaturgeschichte im Grunde stets "als eine in die Form einer geschlossenen »Erzählung« gebrachte Erkenntnis historischer Zusammenhänge, die in einem hermeneutischen Prozeß gewonnen wurde" (Nutz 1997/2012, S.275), verstand, grundsätzlich in Frage gestellt wurde, blieb im Grund so lange aus, bis postmoderne diskursanalytische und dekonstruktivistische Ansätze "gerade den "Konstruktcharakter jener Paradigmen" (ebd.) betonten, auf denen die vorangehenden Ansätze aufbauten. Für sie waren Konzepte wie z. B. der Epoche insgesamt, ihrer linearen Periodisierung oder auch die Erklärungsansätze der sozialgeschichtlichen oder kulturwissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung, die Einbeziehung des Lesers und seiner Rezeption etc. allesamt "Rettungsversuche eines Modells, dass seine Voraussetzung in der hermeneutischen Rekonstruierbarkeit der Sinnhaftigkeit von Geschichte hat." (ebd.)

Da der "geschichtsabgehobene, vom kulturellen Kontext abstrahierende des »New Criticism", wie der der deutschen • werkimmanenten Methode in vielem vergleichbare Ansatz im angloamerikanischen Sprachraum genannt wurde, auch den dekonstruktivistischen Ansatz auszeichnete, machte sich der so genannte »New Historicism daran, "den literarischen Text wieder mit den gesellschaftlichen Energien aufzuladen, die ihm als historisch bedingtes Produkt bei seiner Entstehung in Fülle zu eigen waren." (Kaes 1995, S.254) Dabei schließt er durchaus auch an Prämissen und Probleme des Dekonstruktivismus an, folgt aber vor allem dem Konzept der »Diskursanalyse »Michel Foucaults (1926-1984). (vgl. Baßler 1995, S. 9f.)

Der Diskursbegriff verbindet literarische, außerliterarische und außertextuelle Gegenstände in unterschiedlicher medialer Gestalt miteinander. Die Analyse von Diskursen geht dabei der Frage nach, die wie Fäden zwischen den verschiedenen Diskurselementen gespannt sind. Dadurch macht sie deutlich, dass Intertextualität nicht nur als Eigenschaft von Texten, sondern auch als Eigenschaft der ganzen Kultur aufgefasst werden kann. In diesem System der Intertextualität, stellt jeder einzelne Text "ein Gewebe aus Diskursfäden " dar, "die in ihn hineinführen und ihn konstituieren" (ebd., S.14) und repräsentiert "eine je besondere Repräsentation dieser Diskurse" (ebd.) , die er zugleich als eine Art "Diskursverarbeitungsmaschine" (ebd.) mitformt und mitgestaltet.

Der New Historicism kündige, so Baßler (1995, S. 11), "der Geschichte den »Kohärenzkredit«" auf ohne damit naiv hinter den Errungenschaften der Hermeneutik zurückzubleiben und ziehe die Konsequenzen aus ihrer Dekonstruktion, wenn sie "auf die ordnende Kraft solcher starken Geschichtserzählungen, mit starken Kollektivsubjekten als Handlungsträgern" verzichte. Er geht von der "Textualität der Geschichte" aus und meint damit, dass das, was man gemeinhin als den faktisch gegebenen historisch-kulturellen Hintergrund ansieht, in Wahrheit nur Texte darstellen, die das, was sie in der außertextlichen und intertextuellen Realität vorfinden, auf ihre je eigene Weise interpretieren. Damit werde, so Baßler weiter, jede historische Situation, als deren Teil ein Text auf der Grundlage eines erweiterten Textbegriffs zu bestimmen wäre, auf einmal unendlich komplex und der "background eines Textes ist selbst ein Komplex von Texten". (ebd., S. 12)

Dabei will der New Historicism, der "einzelne(n) Diskursfäden aus dem Text hinaus und in andere kulturelle Zonen, in andere Medien hinein" (ebd., S. 16) auf der Inhaltsebene die "komplizierten Wege, in denen Kultur, Gesellschaft und Politik ineinandergreifen" analysieren und Machtstrukturen aufdecken, "an denen vielfach vermittelt auch die Literatur teilhat." (Kaes 1995, S.254)

Auf der Darstellungsebene schließlich "verbindet der New Historicism die Ergebnisse intensiver Archivarbeit mit einer bewußt anakdotischen, subjektiven Präsentation, in der das Nicht-Systematische, Widersprüchliche, Kontingente, ja Zufällige betont wird. Statt Vereinheitlichung gelten Pluralität und Heterogenität (Literaturgeschichte sollte nicht nur eine Geschichte, sondern viele Geschichten erzählen), statt linearer Erzählung assoziative Montage, statt der Suche nach einem festen Bedeutungskern ein Spiel mit dem historisch wie linguistische bedingten Bedeutungsüberschuß symbolischer Sprache." (ebd., S.263)

Die monologische Geschichtswissenschaft, die literarische Texte möglichst eindeutig in eine bestimmte Richtung hin verstanden wissen wollte, ist damit undenkbar. Zugleich werden damit aber angesichts einer nahezu unendlichen Datenfülle "Punkte und Ordnungsmuster" suspekt, "die sich gegenüber konkurrierenden Setzungen als einzig mögliche zu legitimieren" (Baßler 1995, S. 13) suchen.

Seitdem konkurrieren etliche Ansätze miteinander, ohne dass sich einer davon als allgemein anerkannter Zugang zur Literaturgeschichte etablieren konnte. Ob als Folge davon oder schlicht als Einsicht zustande gekommen ist allerdings auch die Preisgabe des Anspruchs, "im Bildungsprozess der Literatur eine objektiv gegebene Wahrheit zu ermitteln." (Meier 1996. S.583)

So kann, wie Meier hofft, aus der Vielfalt auch die "Freiheit zum Pragmatismus" erwachsen, in dem die verschiedenen Ansätze nicht als mehr hauptsächlich als Konkurrenten mit einem Alleinvertretungsanspruch um die Meinungs- bzw. Deutungshoheit auf dem Terrain der Literaturgeschichte antreten müssen.

Angebracht sei angesichts des ohnehin vorhandenen Status quo eines literaturgeschichtlichen Pluralismus in der Literaturgeschichte, dass die verschiedenen Ansätze "sich gegenseitig tolerieren und das eigene Vorgehen weniger aus dem Gegenstand als aus der Funktion zu legitimieren: als versammeltes Bildungsgut und Lektüreanregungen für Laien, als einführender Überblick für den akademischen Nachwuchs, nicht zuletzt und immer mehr aber auch als Orientierungshilfe für die zukünftige Literaturwissenschaft". (ebd.)

Der literaturgeschichtliche Pluralismus könne dennoch Literaturgeschichte so vermitteln, dass "wenigstens provisorische Gliederungsraster" sichtbar werden, die "die Aufmerksamkeit vom Überblickswissen über die Zusammenhänge auf die einzelnen Gegenstände" lenken könne. Indem sie dieses Überblickswissen in Ordnungsstrukturen für den Umgang mit der Vergangenheit abbilde, trage sie als "regulative Idee" mit den von ihr möglich gemachten Altereritätserfahrungen auch dazu bei, "das Bewußtsein von der Differenz zwischen dem jeweiligen Heute und allem früheren zu bestärken und Fehldeutungen" genauso auszuschließen wie "Blindheit gegenüber anderen Denkweisen". (ebd., S.584)

Großentwürfe wie die oben genannten Beispiele sind heute kaum mehr zu erwarten. Stattdessen haben sich Literaturhistoriker kleineren historischen Einheiten und Aspekten zugewandt und eine Fülle von Darstellungen hervorgebracht.

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 15.08.2024

 
 

 
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