▪
Einen literarischen Text interpretieren (schulische Textinterpretation)
Die Hermeneutik als
Lehre vom Verstehen hat, auch wenn sich ihre ▪
Wurzeln bis in die
griechische Antike verfolgen lassen, einen religiösen Ursprung. Die von
ihr in hermeneutischen Regeln zur Sicherung eines ädaquaten
Textverständnisses praktizierten Methoden dienten vor allem der
Bibelauslegung und anderer "überlieferter Texte mit kanonisiertem Sinn
(z. B. Kirchenväter, römisches Recht, klassische antike Dichtung." (Baasner
1997/22006, S.159)
Es dauerte, bis man
verstand und akzeptierte, dass der Sinn und die Bedeutung eines Textes
nicht allein auf Textebene oder den darin rekonstruierten Intentionen
des Autors zu finden ist, sondern dass auch der Leser aktiv bei der
Sinnkonstruktion beteiligt ist. Ob man im Rahmen des weiterhin
hermeneutischen Konzepts dabei die Autorintentionen zu rekonstruieren
versucht, sich der Vieldeutigkeit des Textes über Einfühlung und
Intuition nähert und darüber zu seinem Wesen vordringt oder ob es in
diesem Prozess zu einer Art Neuschöpfung des Textes kommt, ist dabei
zunächst nicht so wichtig, denn in allen diesen "Fällen geht es darum,
den Autor letztlich besser zu verstehen, als er sich selber verstanden
hat." (ebd.)
Rhetorik und
Poetik als Grundlagen und Bezugspunkte der Auslegung von Texten bis
zum Beginn des 18. Jahrhunderts
Bis in das 18.
Jahrhundert reichte denen, die sich professionell mit Lesen und
der Auslegung von Texten
befassten, das Wissen aus, das in der
Poetik und Rhetorik überliefert und systematisch organisiert war
und normative Verbindlichkeit bei der Auslegung von Texten
beanspruchen konnte.
Dabei war die
Auslegungspraxis davon geprägt, "aus Achtung vor dem Werk und
seinem Schöpfer [...] nichts eigenes in den Text
»hineinzulegen«." (Bogdal
1996, S.140) ▪
Lesen war,
sieht man einmal von
erbaulicher Lektüre, bis ins 18. Jahrhundert hinein,
vorwiegend die Sache von "Expertenkulturen"
in den Klöstern und den Universitäten (vgl.
Bickenbach
2015, S.401), die auch für die adäquate Auslegung der Texte
zuständig waren. Sozial gesehen war, das geschriebene Wort, vor
allem das der Heiligen Schrift(en) damit in festen Händen und
die Bibelauslegung (Bibelexegese) durch die dafür geschulten
Experten diente vor allem der Verkündigung der christlichen
Heilslehre. Wer sich mit den religiösen und antiken Schriften
professionell beschäftige, verfügte auch über ein "durch Fleiß
und Sorgfalt anzueignendes Wissen [...], mit dessen Hilfe auch
solche Texte verstanden werden konnten, die durch historischen
Abstand, fehlenden Kontext, stilistisch-rhetorische
Ausdrucksweise oder als »Offenbarung« einer übermenschlichen
Instanz unverständlich, unklar oder mehrdeutig erschienen." (Bogdal
1996, S.140)
Wirklich neue Akzente, die das Lesen als eine Kulturtechnik auffasste,
über die auch ein größeres Publikum verfügen sollte, setzte eigentlich
erst das ▪
Zeitalter der Aufklärung, das mit dem Ende des 17. Jahrhundert
einsetzte und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts datiert wird. In dieser
Zeit ▪
veränderte sich die Lesekultur grundlegend. Zugleich führte
das sich in dieser Zeit verändernde anthropologische, soziale,
politische, ökonomische und psychologische Wissen über das
menschliche Subjekt auch dazu, dass sich nicht nur der Umgang
mit Texten grundlegend, sondern auch die Sujets der Literatur
sich zusehends veränderten.
Das Bild des Autors bzw. Dichters,
Vorstellungen über dessen Genie und Originalität, sowie Werke,
wie z. B. Goethes Faust, welche Einzigartigkeit auf der Basis
eines autonomen Werkverständnisses beanspruchten, konnten mit
den von den traditionellen Expertenkulturen gepflegten Lesemodi
eben nicht mehr in gewohnter Weise "ausgelegt" werden. Das auf
Grund der gesellschaftlichen und sozialen Wandlungsprozesse
veränderte Autorbild und und die gänzlich anderen Vorstellungen
vom künstlerischen Werk zogen daher auch einen
Paradigmenwechsel
im Umgang mit den neuen Lesestoffen nach sich, den man als
"hermeneutische Wende" (Frank1986,
S.120) bezeichnet hat. Sie entwickelt sich, historisch
betrachtet, aus der "Sprengung eines bis dahin gültigen
Sinnrahmens und die daraus resultierende Explosion des
Wissens über den Menschen." (Bogdal
1996, S.148)
»Johann
Martin Chladenius (1710-1759) mit »Georg
Friedrich Meier (1718-1777) einer der maßgeblichen
Theoretiker der aufklärerischen Hermeneutik geht es in seiner
Hermeneutik "nicht um die Frage, wie man versteht, sondern wie
man etwas richtig
auslegt" (Szondi
1975, S. 29)
Beide wenden sich mit ihrer "sachorientierten
Hermeneutik" (ebd.,
S. 142) gegen den »Sensualismus,
für den Sinneswahrnehmungen im Gegensatz zum Rationalismus als
wichtigste Erkenntnisquellen dienen. So lassen sich nach
sensualistischer Auffassung alles, was wir denken, auf
Sinneswahrnehmung zurückführen, was bedeutet, dass auch jede
Erkenntnis letzten Endes nur ein Resultat dessen ist, was wir
mit den Sinnen wahrnehmen.
Das sehen die
aufklärerischen Hermeneutiker ganz anders: "Auslegung heißt dort
das Verständnis einer Stelle, die ihrerseits als die über die
Sache abgegebene
Erklärung begriffen wird. Der Autor formuliert seine Einsicht in
die Sache. Der Leser bzw. Ausleger versteht versteht die Stelle
richtig, wenn er die Einsicht des Autors in der Sache
nachvollzieht, wenn er dieselbe Einsicht in die Sache gewinnt.
Das Problem, wie ein fremder Geist überhaupt verstanden werden
kann, stellt sich der Aufklärungshermeneutik nicht, weil sie
Verstehen nicht als Verstehen des Autors, sondern als Verstehen
von dessen Verständnis begreift." (Szondi
1975, S.142)
Die
"hermeneutische Wende" im 18. Jahrhundert: Friedrich Schleiermachers
Kunstlehre des Verstehens
Als "Stammvater moderner Hermeneutik" (Bogdal
1996, S.139) gilt der der ▪
Romantik
verbundene Philosoph »Friedrich
Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834), mit dem die
"hermeneutische Wende" beginnt. Dabei fällt auch dessen
hermeneutischer Ansatz ideengeschichtlich nicht vom Himmel, sondern auch
"sein Entwurf ist vielmehr gesättigt mit den Erkenntnissen und
Erfahrungen der vorausgehenden Jahrzehnte" (Szondi
1975, S.135) und einer "geistigen Landschaft, die mit den Namen »Winckelmann
[1717-1768] und »Herder
[1744-1803], »Goethe
[1749-1832] und »Schiller
[1759-1803] , »Schelling
[1775-1854] und »Hegel
[1770-1831] bezeichnet ist." (ebd.,
S.136, Jahreszahlen ergänz d. Verf.) In der "Hermeneutik der Goethezeit"
(ebd., S.139)
dreht sich alles um den "griechischen Geist" als "jener das
Leben verschönernde, jener wohltätige Geist", wie es einer ihrer
Wortführer »Friedrich
August Wolf (1759-1824) 1807 formuliert hat (zit. n.
ebd.), geht
es "um dessen verschönernde und wohltätige Wirkung in einer abschreckend
modernen Welt, um eine der Aufklärung [...] unbekannte idealistische
Synthese von Ästhetik und Ethik, die auf den Namen Humanität hört und an
der immer größer werdenden Entfremdung der Ideen der Geistesfürsten von
der politischen Realität, welche die Autoren der Aufklärung noch sehr
wohl im Blick hatten". (ebd.)
Der Geistbegriff, mit dem die Hermeneutik dieser Zeit operierte,
bestimmte nicht nur das Ziel des Verstehens, hob "in seiner Nebelaura"
zugleich alle Probleme" auf, die etwa mit dem Zeitabstand zwischen Autor
und Leser oder mit der Interdependenz von Text und Kontext gesetzt sind."
(ebd.)
Schleiermacher, das
scheint aber sein Verdienst zu sein, erkennt
zum ersten Mal,
dass auch das wahrnehmende
Subjekt Einfluss auf das Verstehen nimmt und der Verstehensprozess auch
von seinen Entscheidungen abhängt. Dabei basiert seine Hermeneutik auf
der neuartigen, aufklärerischen Sicht auf den Menschen und ihrer neuen
Vorstellungen über den Autor und dass Werk, die in ihrer Anwendung auf
die Texte, zu dessen "Tiefendimensionen" (Bogdal
1996, S.142) führt, "auf die hin Texte gelesen werden
müssten, um adäquat verstanden zu werden." (ebd.)
Da ein solches Lesen nicht ▪
trivial, sondern ▪
aktiv, ▪
informativ und ▪
kritisch zugleich sein
musste, um den Ansprüchen an das ▪
literarische bzw.
interpretierende Lesen zu genügen, verlangte es auch "ein
differenziertes Wissen über das Individuum und seine Psyche, über
Geschichte und die Textualität der Texte." (ebd.)
Ein solches Wissen war
der Mehrheit des allmählich sich erweiternden Lesepublikums natürlich
nicht zugänglich. Es entstand erst mit dem professionellen
Literaturkritiker, der im 18. Jahrhundert aufkam und mit seinem Text-
und Kontextwissen dazu beitrug, dass bestimmte literarische Produkte
auf- und hoch-, während andere abgewertet wurden. Dieses Wissen wurde
quasi institutionalisiert. Die Texte, die von diesem Lesepublikum
rezipiert wurden, waren entweder minderwertig oder zweitrangig.
Schleiermacher ging davon aus, dass das Verständnis solcher Texte keiner
besonderen Anstrengung bedurfte. Für ihn stand fest, dass sich auch mit
hermeneutischen Methoden in ihrem "Innenraum" (ebd.)
keine besondere Gestalt finden lässt, die solchen Werken über ihren rein
oberflächlichen Textsinn hinaus Bedeutung verleihen kann.
Wenn Texte allerdings
über das Alltägliche und das alltägliche Verstehen hinausweisen, dann
ist die "Kunstlehre des Verstehens" (Schleiermacher) gefragt.
Sie versteht sich als "das geschichtliche und divinatorische (profetische)
objektive und subjektive Nachkonstruieren der gegebenen Rede"
(Schleiermacher 1977, S. 93, zit. n.
Köppe/Winko (2013). 3.2.1 Die philologische Hermeneutik
Schleiermachers).
Dabei meint "objektiv"
den Text als konkretes sprachliches Gebilde, "subjektiv" bezieht
sich auf die jeweilige Vorstellung bzw. mentale Repräsentation des
Textes im Bewusstsein seines Rezipienten, "geschichtlich" zielt
hingegen "auf die historisch-rekonstruktive Perspektive des Interpreten,
die sich auf das Erkennen von (sprachlichen wie nicht-sprachlichen)
Sachverhalten und deren Entstehung richtet" (Köppe/Winko
(2013), ebd.) und "divinatorisch" bezieht sich auf jenen
Aspekt des Verstehens, der statt auf Wissen auf Vermutungen und
Hypothesen beruht. Ein solches Vorgehen war vor der "hermeneutischen
Wende" nicht nur undenkbar, sondern musste auch zu einem falschen
Verstehen von Texten führen.
Schleiermachers "Kunst
des Verstehens"
modelliert – auf eine griffige Formel gebracht – "Verstehen [...]
als reproduktive Wiederholung der ursprüngl(ichen) Produktion aufgrund von Kongenialität." (Metzler
Literaturlexion,21990, S.197). Im Kern versucht
Schleiermacher, "sprachliche Äußerungen oder ihre Dokumente aus dem
Textkontext und dem Lebenskontext so zu rekonstruieren, dass nicht nur
intuitives, sondern intersubjektiv begründbares Wissen sein Verständnis
belegt." (Rusterholz
1996, S. 113)
Dabei müssen zwei
Auslegungsprozesse ineinandergreifen: Die "grammatische" und die
"psychologische Auslegung".
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Der Fokus der "grammatischen Auslegung" (Schleiermacher)
liegt auf
der lokalen Textebene mit ihren Kohäsion und Kohärenz schaffenden
Strukturen. Was sich dem Rezipienten auf dieser Ebene nicht unmittelbar
erschließt, kann und muss mit Hilfe von Wörterbüchern, Grammatiken oder,
wenn es um zu klärende historische Sachverhalte geht, mit dafür
geeigneten historischen Darstellungen rekonstruiert werden.
Die "psychologische
Auslegung" geht über die sprachlich-textuelle Basis hinaus. Sie
steht unter der Prämisse, dass "jede Rede immer nur zu verstehen [ist]
aus dem ganzen Leben, dem sie angehört« (Schleiermacher 1977, S. 78,
zit. n.
Köppe/Winko (2013). 3.2.1 Die philologische Hermeneutik
Schleiermachers). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass ein Leser,
der den Text verstehen will, "nicht allein die geschichtliche
Situation, in der der Autor geschrieben hat, die Sprache, über die er
verfügen konnte, und die Art und Weise, auf die ihm sein Gegenstand –
Thema, Gattung, literarische Tradition – gegeben war, als er zu
schreiben begann", sondern auch "die Lebensumstände des Autors zu
berücksichtigen" hat, "soweit sie im Zusammenhang mit der zu
rekonstruierenden ›Eigentümlichkeit‹ seines Schreibens stehen." (Köppe/Winko
(2013). ebd.)
Um dem Werk. seiner
Einheit und die Komposition, beim Verstehen gerecht werden zu können,
reichen indessen nach Auffassung Scheiermachers die genannten
rekonstruktiven Methoden nicht aus. Um sich in den Autor
hineinversetzen und dabei in den Geist des Autors einfühlen und sich von
diesem beim Verstehen und Interpretieren eines Textes inspirieren und
leiten lassen zu können (vgl.
Becker/Hummel/Sander 22018, S.193), muss eine weitere
Methode hinzukommen, die er die "divinatorische"
(Schleiermacher 1977, S. 169, zit. n.
Köppe/Winko (2013). 3.2.1 Die philologische Hermeneutik
Schleiermachers) nennt.
Daher besitzt die
divinatorische Methode auch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung im
Verstehensprozess. Sie muss nämlich das miteinander verbinden, was die
"grammatische" und die "psychologische" Auslegung erbracht haben: "Ohne
divinatorische Auslegung stehen die Ergebnisse unvermittelt
nebeneinander; erst sie integriert das ansonsten Separierte." (Köppe/Winko
(2013). ebd.)
Auch wenn die Forschung
bisher zu keinem einheitlichen Verständnis darüber gelangt ist, was
Schleiermacher genau darunter versteht, herrscht aber doch soweit
Konsens, dass der Terminus Divination
"die Fähigkeit des Interpreten zur Nachschöpfung", einen
"Einfühlungsmodus oder eine korrespondierende Bewusstseinshaltung" (Köppe/Winko
(2013), ebd.) bezeichnet, die einen Rezipienten das "Eigenlebens
eines Textes" (Becker/Hummel/Sander 22018, S.194)
überhaupt erst empathisch nachvollziehen lässt.
Der immanente
Deutungsprozess stellt sich in der "Kunst des Verstehens" von
Schleiermacher daher als eine auf verschiedenen Ebenen und mit
unterschiedlichen Methoden zu organisierende Rekonstruktion dar, die den
Sinnbildungs- bzw. Deutungsprozess "als ein Mit-Konstruieren von
Botschaften seitens des Interpreten und Lesers" (vgl.
Becker/Hummel/Sander 22018, S.193) versteht,
die sich mit der Denkfigur des ▪
hermeneutischen Zirkels beschreiben lässt.
Und: Die Einheit des Werks
entsteht so seiner Vorstellung nach "aus dem eigenen Willen und ist
deshalb nur psychologisch zugänglich" (Baasner
1997/22006, S.161), ohne dass die "Auslegungskunst" damit
ein reiner Willkürakt wird. Sein "kunstgerechtes Auslegen"
berücksichtigt dabei "allgemeine und individuelle Aspekte des Textes und
verbindet rekonstruktive und hypothetische Verfahren" (Köppe/Winko
(2013). ebd.) Dass es dabei sogar auf ein besseres Verstehen des
Werkes ausgerichtet ist, als es dem Autor selbst möglich ist, liegt zum
einen daran, dass Wissen und Informationsbasis des Interpreten und
des Autors unterschiedlich
sind, und zum anderen, dass Auslegungsprozesse von Texten eigentlich nie
abgeschlossen sind.
Die hermeneutische
Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Wilhelm Dilthey im 19.
Jahrhundert
Dem deutschen Philosophen
»Wilhelm
Dilthey (1833-1911) ging es vor allem um "eine philosophische
Grundlegung der Geisteswissenschaften" (Schulte-Sasse/Werner
1977/91997, S.30), die sich mit ihren besonderen
Erkenntnisweisen von denen der Naturwissenschaften abgrenzen sollte.
Die
Naturwissenschaften, so seine Überzeugung, stelle Hypothesen über
kausale Zusammenhänge auf, die verifziert oder falsifiziert werden
können. Damit erkläre sie die Natur. Die Geisteswissenschaften
zielten hingegen auf der Grundlage einer "verstehenden Psychologie" auf
das Verstehen.
"Die Natur erklären
wir, das Seelenleben verstehen wir.", betont
Dilthey (1924,
S,143f., zit. n.
ebd.), und sieht dabei im Verstehen "das nachvollziehende,
nachkonstruierende Erfassen von Sinnstrukturen, von vergangenen oder
gegenwärtigen Sinngebilden auf der Grundlage eines universalen
Lebenszusammenhanges, der sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit
manifestiert und im 'Erleben' und 'Nacherleben' [...] erfahrbar wird.
Im
Erlebnis wird ein einzelner Lebensmoment zur Bedeutsamkeit erhoben und
nachbildender Erfassung zugänglich. Solche nachbildende Erfassung ist
nach Dilthey keineswegs ein bloßer Gefühlsakt, sondern ein besonderer
Erkenntnisvorgang, der ein vergangenes Geschehnis (soweit es sich in
einem geistigen Sinngebilde 'objektiviert', d. h. vergegenständlicht
hat) als einen jederzeit neu zu vergegenwärtigenden Sinn- und
Wirkungszusammenhang erschließt." (Schulte-Sasse/Werner
1977/91997, S.31)
Seine Annahme, dass es
jederzeit möglich ist, sich so in ein geistig-geschichtlicher Gebilde
"hineinzuversetzen", dass dessen quasi objektiver Sinn sich der
verstehenden bzw. erlebenden Anschauung erschließt, überwindet die
hermeneutische Distanz oder Differenz zwischen dem Gegenstand des
Verstehens und dem erkennenden Subjekt. Und genau dies hat seinen Preis:
Indem nämlich damit "Subjekt und Objekt in dasselbe übergeschichtliche
Kontinuum hineingestellt werden", wird die räumliche und zeitliche
Distanz zwischen beiden "als unwichtig hinwegeskamotiert." (ebd.)
Wilhelm Dilthey hat wie
kaum ein anderer die deutsche Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert
mit seiner geisteswissenschaftlichen Methode geprägt hat und ihr lange
"die philosophische bzw. erkenntnistheoretische Legitimation für das
Theorem geliefert, dass ein dichterisches Werk aus sich selbst heraus zu
verstehen ist." (ebd.)
In seiner Texthermeneutik
verzichtet er auf die
Komponente der "grammatischen Auslegung" und reduziert das
hermeneutische Verstehen auf die psychologische Interpretation, die von
der Einbeziehung der Kontexte historischer, gesellschaftlicher oder
politischer Art gänzlich absieht.
Literatur ist für ihn "Ausdruck des
Seelenlebens" (Dilthey
1906/1957, S.320, zit. n.
ebd., S.195). Dass dieses überhaupt verstanden werden
kann, liegt daran, dass sich Autor und Interpret "auf der Grundlage der allgemeinen
Menschennatur gebildet" (Dilthey, zit. n.
Baasner
1997/22006,
S.161) haben. Diese anthropologische Gemeinsamkeit macht das Verstehen
prinzipiell überhaupt erst möglich. Die
Annahme "einer Deckungsleichheit von Leben (des Autors) und Werk (des
Autors)" (Becker/Hummel/Sander 22018, S.195)
sowie die "Idee des nachfühlenden Aufspürens einer vermeintlichen
Einheit von Leben und Werk" (ebd.),
bei der "das Verstehen (...) in die fremden Lebensäußerungen durch eine
Transposition aus der Fülle eigener Erlebnisse ein(dringt)" (Dilthey,
zit. n.
Baasner 1997/22006, S.161), blendet indessen Fragen nach
der "Bedeutung des objektiven Gehalts eines literarischen Textes" (Becker/Hummel/Sander 22018, S.196)
vollständig aus.
Dabei sieht Dilthey,
der sich "in Überbietung des »Individuellen« Schleiermacherscher
Konzeption" (Bogdal
1996, S.142) beim Verstehen einen "höhere(n)
Allgemeinheitsgrad" (ebd.)
an, die Literatur statt als Ereignis als "Schrift–Dokument" versteht,
"dessen Sinn ihm von der Geschichte vor-geschrieben ist." (ebd.,
S.143) Dadurch wird auch das Ziel der Interpretation vorgegeben.
Statt sich auf die Suche nach der Bedeutung eines Textes
schlechthin zu machen, geht es um seinen "Sinn in der Geschichte, der
allein Bedeutung zukommt." (ebd.)
Dieser Gedanke
impliziert allerdings keine Sinnkonstruktion über die allgemeine
historische oder sozialgeschichtliche Kontexte. In seiner Vorstellung,
"die die Endlichkeit und Einzigartigkeit des Individuellen in der
Totalität der geschichtlichen Bewegung aufgehen lässt" (ebd..
S.142f.), "entzeitlicht" (ebd.,
S.143) sich die Diltheysche Historisierung von Texten in
geradezu paradoxer Weise wieder, weil sie "mit Blick auf eine
vorgegebene Totalität [...] seine konkrete Gegenwärtigkeit entwertet" (ebd.),
indem sie die Kontexte des Verstehens ausblendet.
Dilthey grenzt die
Hermeneutik und damit die Geisteswissenschaften ganz entschieden von den
analytisch-empirisch vorgehenden Naturwissenschaften ab, will aber
zugleich vermeiden, dass die Texthermeneutik von "dem beständigen
Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität" (Dilthey,
zit. n.
Baasner 1997/22006, S.161) beschädigt und die
Geisteswissenschaften und ihre Methoden dem Vergleich mit anderen
Wissenschaften nicht standhalten können. Daher ist er bemüht, seine
Texthermeneutik im "Zusammenhang von Erkenntnistheorie, Logik und
Methodenlehre der Geisteswissenschaften" (Dilthey, zit. n.
ebd.)
zu begründen.
Die historische
Bedingtheit allen Verstehens in der philosophischen Hermeneutik
Hans-Georg Gadamer im 20. Jahrhundert
Der deutsche Philosoph
und Begründer der philosophischen Hermeneutik »Hans-Georg
Gadamer (1900-2002), der den "universalen Anspruch der
Hermeneutik außer allem Zweifel " (Gadamer
1984, S. 24, zit. n.
Bogdal
1996, S.144) postuliert, setzt in seiner Texthermeneutik auf
den "methodisch–reflexiven) Dialog zwischen Werk und Leser" (ebd.).
Der Einfluss, den
Gadamer auf die weitere Entwicklung der
Texthermeneutik genommen und darüber auf die Literaturwissenschaft
genommen hat, erklärt sich auch aus seinem Verständnis der "Kunst als
einem privilegierten Ort der Wahrheit und der Wahrheitsfindung" (Becker/Hummel/Sander 22018, S.196)
und seiner Vorstellung von der Symbolhaftigkeit der Kunst und Dichtung,
die in jedem ihrer Objekte "ein sich selbst gefestigtes autonomes
Gebilde" (Gadamer
1986, S.6 zit. n.
Bogdal
1996, S.144) sieht. Dabei bekommt jeder Interpret von dem
Text eine Frage gestellt und "einen Text verstehen, heißt" für Gadamer,
"diese Frage verstehen." (Gadamer
1960/31972, S.351, zit. n.
Bogdal
2000, S.145)
Hinzukommt seine klare Berücksichtigung der historischen Bedingtheit des
hermeneutischen Verstehens. Wer literarische Werke verstehen will, muss
danach die Bedeutung von Vorurteilen anerkennen, mit denen jeder Leser
an das Verstehen herangeht. Diese (positiven) Vorurteile bestehen aus wirkmächtigen
vorstrukturierenden und präformierenden Denkstrukturen, die sich als
"Sinn- und Einheits- und Wahrheitserwartung des Lesers an den Text" (Kammler
2000, S.15) beschreiben lassen. Sie ergeben sich aus der
"Tradition" bzw. dem "Überlieferungsgeschehen" (Gadamer
1960/31972, S.275, zit. n.
Bogdal
1996, S.145) und prägen damit die Horizonte des Autors und des Interpreten.
Dieses "Bewusstmachen der jeder verstehenden Aneignung zugrundeliegenden
Bedingungen" (Lang, in:
Metzler Philosophen Lexikon, 21995, S.299) "z.B. des
Wechselspiels von Vorverständnis und Textsinn im hermeneutischen Zirkel,
der geschichtlichen Gebundenheit jeder Interpretation oder der
Möglichkeit der Verschmelzung verschiedener historischer Horizonte im
wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein" (ebd.)
ist, was die Literaturwissenschaft geprägt hat.
Gadamer setzt voraus,
dass sämtliche Gegensätze, die sich aus der sogenannten
hermeneutischen Differenz
ergeben, der Tatsache nämlich, dass sich der Gegenwartshorizont des
Interpreten und der historische Horizont des Interpreten unterscheiden,
aufheben lassen. In einem von der Vernunft gesteuerten Prozess gelingt
danach die "historisch adäqate Aneignung durch den jeweiligen
Gegenwartshorizont." (Bogdal
2000, S.16).)
Diese Vernunftorientiertheit des Verstehens unterscheidet Gadamers
Position auch von der Diltheys, wenn es darum geht, auf welche Weise die
hermeneutische Differenz überwunden werden kann. Während Dilthey diese
Differenz in einem Akt der Einfühlung überbrücken wollte, sah Gadamer in
dem zeitlichen Abstand der Horizonte eine grundsätzlich positiv
bewertete und produktive Möglichkeit dafür Texte zu verstehen."
Wilhelm Dilthey glaubte noch, in einem Akt der Einfühlung die
hermeneutische Differenz überspringen und unmittelbares Verstehen
gewinnen zu können. Seit Gadamer hat sich jedoch eine Auffassung
durchgesetzt, die den "Abstand der Zeit als eine positive und produktive
Möglichkeit des Verstehens" (Gadamer
1960/31972, S. 280 f.) nutzbar zu machen, weil sie
gebietet, auch stets "die geschichtliche Situation des Interpreten" zu
reflektieren" und damit zur "Einsicht in diese historische Gebundenheit
nicht nur des zu verstehenden Textes, sondern auch des jeweiligen
Verstehens selbst" führt. (ebd.)Wer einen Text
verstehen will, muss ihn, das ist eine seiner zentralen Thesen,
"unter
den Bedingungen seiner eigenen historischen Situation – d.h. in der
ihm zur Verfügung stehenden Sprache und vor dem Hintergrund seiner
eigenen Überzeugungen"
(Köppe/Winko 2013. 3.2.2 Literaturwissenschaftliche Adaptionen der
philosophischen Hermeneutik Gadamers) beschreiben und dabei
zwischen dem
Horizont des verstehenden Rezipienten und dem des den Text
produzierenden Autors unterscheiden.
Wer so vorgeht, muss
sich zwar zunächst mit dem Entwerfen eines "historischen Horizonts"
(Gadamer) befassen, der die Distanz zwischen dem Text und dem
verstehenden Subjekt erfasst. Allerdings darf das Verstehen dabei nicht
haltmachen, denn genau diese Distanz (= hermeneutische Differenz) gilt
es letzten Endes wieder im Verstehen zu überwinden.
Gelingendes Verstehen nähert die beiden
Horizonte von Autor und Rezipient in einer die historische Distanz
reflexiv kontrollierten Art und Weise so einander an, dass es im ▪
Idealfall, wenn die
historisch-zeitgenössischen Horizonte des Autors und der jeweils
aktuelle des Lesers übereinstimmen zu einer "Horizontverschmelzung"
(Gadamer 1990, S.312 zit. n.
ebd.) kommt. Diesen Prozess beschreibt
Gadamer
(1960, S.290, zit. n.
Kammler 2000,
S.16 wie folgt:
"Das historische
Bewusstsein ist sich seiner Andersheit bewusst und hebt daher den
Horizont der Überlieferung von dem eigenen Horizont ab. Andererseits
aber ist es selbst nur [...] wie eine Überlagerung über einer
fortwirkenden Tradition, und daher nimmt es das voneinander Abgehobene
sogleich wieder zusammen, um in der Einheit des geschichtlichen
Horizontes, den es sich so erwirbt, sich mit sich selbst zu vermitteln."
Dabei orientiert
sich dieser Horizont bei literarischen Werken an deren "Vollkommenheit", was dazu führt, dass Texte, die ihrer Formensprache
und ihren Inhalten nicht entsprechen, weil sie eher von "Irritationspunkte(n),
Widersprüchlichkeiten, Doppeldeutigkeiten" (Fingerhut
1995, S. 52) nicht nur als fremd wahrgenommen werden, sondern auch
den Rand gedrängt werden.
Wer einen Text liest,
tut dies, das ist die wichtigste Erkenntnis für die hermeneutische
Interpretationspraxis, mit "Vorurteilen", die stets seine Rezeption und
Lesart beeinflussen. Dass sie allerdings insgesamt zu einer
"Rehabilitierung des Vorurteils, der Autorität und der Tradition als
geschichtlichen Bedingungen des Verstehens" (Lang, in:
Metzler Philosophen Lexikon, 21995, S.299) führen konnte,
wurde Gadamer nicht nur in der Debatte um Hermeneutik und
Ideologiekritik in den 1960er Jahren von »Jürgen
Habermas (geb. 1929), einem der wichtigsten Vertreter der »ideologiekritisch
ausgerichteten »Frankfurter
Schule, vorgeworfen.
Entscheidend für das
Verstehen ist für Gadamer, das richtet sich vor allem gegen die
"Prämisse, dass der Textsinn mit dem vom Autor intendierten Sinn
identisch sei" (Hirsch
1972, S.303), dass man sich der historischen Voraussetzungen
und der daraus resultierenden Distanz beim Verstehen bewusst ist, diese
Aspekte reflektiert und damit die wirkmächtigen vorstrukturierenden und präformierenden
Denkstrukturen, die sich aus der Tradition ergeben, so in Frage stellen
kann, dass sie der Horizontverschmelzung nicht mehr im Wege stehen:
"Gelungen ist die Interpretation, wenn ein Interpret die rekonstruierte
geschichtliche Überlieferung und die »Gegenwart seines eigenen Lebens«
(Gadamer 1990, S. 346, zit. n.
Köppe/Winko 2013. 3.2.2 Literaturwissenschaftliche Adaptionen der
philosophischen Hermeneutik Gadamers) miteinander vermitteln kann.
Die Grundlegung
einer spezifisch literarischen Hermeneutik durch Peter Szondi in den
1970er Jahren
»Peter
Szondi (1929-1971) versteht unter literarischer Hermeneutik "die
Lehre von der Auslegung, interpretatio, literarischer Werke" (Szondi
1975, S.9) und will dabei auch die Philologie mit ihrer an der
grammatischen Auslegung orientierten Methode mit der ästhetischen
Auslegung verbinden. (vgl.
ebd., S.25)
und will sie "historisch bedingt und nicht zeitlos-allgemeingültig" (ebd.)
verstanden wissen.
Szondis Ziel war es u.
a., neben der Mitte der 1970er Jahre vorherrschenden philosophischen, z.
B. an Gadamers Vorstellungen, orientierten Hermeneutik eine spezifisch
literarische Hermeneutik zu etablieren. Dazu hat er sein Konzept
mit der ▪ Rezeptionsästhetik
verknüpft. Zugleich gingen von der von ihm inspirierten verstärkten
Rezeption der Hermeneutik Schleiermachers "wesentliche Impulse für die
Ausbildung einer spezifisch literarischen Hermeneutik in der Nachfolge
Schleiermachers" aus. (Becker/Hummel/Sander 22018,
S.197)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.08.2024
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