Literaturwissenschaftliche Interpretationsmethoden nähern sich ihrem
Textobjekt auf
unterschiedliche Art und Weise und mit unterschiedlichen
Fragestellungen, die auf bestimmte textinterne Elemente eines Textes
fokussieren oder bestimmte textexterne Kontexte heranziehen, um ein
bestimmtes Textverständnis zu fundieren und zu legitimieren. Sie
bestimmen, "wonach und wie gefragt wird" (Becker/Hummel/Sander
22018, S.191), analysieren "die Machart, Form und
Struktur eines literarischen Textes", stellen "Fragen nach dem Warum und
dem Was, die weit über die Bezugnahmen auf Inhalt, Themen und Motive
sowie Erzählweise und -stil hinausgehen können." (ebd.)
Dabei stehen meisten bestimmte Vorstellungen von Literatur überhaupt,
ihrer Bedeutung im Allgemeinen und ihrem Stellenwert und ihrer Funktion
im Besonderen dahinter.
Dabei ist die Art und Weise, wie sie Bezüge innerhalb eines einzelnen
Textes oder in einem Gesamtwerk herstellen oder Verbindungen zwischen
Text(en) und textexternen Kontexten konstruieren, stets von den
jeweiligen Fragestellungen und den Interessen des jeweiligen Interpreten
abhängig. Wissenschaftliche Ansätze, die in der entsprechenden
Diskursgemeinschaft wahrgenommen und Bestand haben sollen, sind darüber
hinaus "auch durch disziplinäre Konventionen, Entwicklungen und Moden
bestimmt." (Andringa
2008, S.318) Nichtzuletzt deshalb hat
Politzer (1978, S.43) davon gesprochen, dass die Parabeln Kafkas
"›Rorschachtests‹
der Literatur" seien und "ihre Deutung (...) mehr über den Charakter
ihrer Deuter als über das Wesen ihres Schöpfers (sagt)."
Alle wissenschaftlichen Interpretationsansätze zu
den literarischen Werken • Franz Kafkas
zielen darauf, auf der Grundlage einer theoretisch gestützten Analyse
Erkenntnisse über seine Texte zu gewinnen, die über das hinausgeht, was
eine rein subjektiv orientierte Lektüre, die sich vor niemandem
prinzipiell zu erklären hat, als individuelle Lesart zu leisten hat.
Dabei sind wissenschaftliche Interpretationsansätze, nichtzuletzt im
Zusammenhang mit den Werken Franz Kafkas, keine ahistorischen
Zugangsweisen, sondern sind, so wie sie selbst unter bestimmten historischen
Vorzeichen entstanden sind und sich entwickelt haben, Teil der Geschichte und
folgen nicht zuletzt deshalb auch immer wieder Moden, die für eine
bestimmte Zeit in der Konkurrenz verschiedener Methoden die Dominanz
erringen. (vgl. Andringa
2008, S.317)
So machen sich bis
heute unzählige Literaturwissenschaftler immer wieder daran,
Kafkas Texten durch Heranziehung unterschiedlicher
Kotexte, Kontexte
oder Metatexte bislang unbekannte oder vernachlässigte Geheimnisse
zu entlocken. Sie suchen letzten Endes nach dem einen "Schlüssel,
der als Passepartout alle Einzeltexte erschließen"
(Engel 2010,
S.419)
kann. Und genau das ist das Problem.

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Über die Jahre hinweg haben sich eine Reihe von Werkzugängen zu
Kafkas Texten im Allgemeinen und zu seinen Parabeln etabliert, die
in einer Art friedlicher Koexistenz nebeneinander stehen und jedem,
der sich auf die Vielfalt von Interpretationen einlässt, aufzeigt,
dass man seine Texte in sehr unterschiedlicher Art und Weise
verstehen kann.
Wer mit ihnen und ihren jeweiligen Prämissen vertraut ist, wird sie,
entsprechendes Wissen über die sie stützenden Kontexte
vorausgesetzt, über die alle Textdeutungen ausgeführt werden (vgl. Steinmetz 1995, S.482), ohne allzu große Probleme auf einen bestimmten Text
anwenden können, zumal sie ja stets "an Aspekte anknüpfen, die in
Kafkas Texten nachweisbar eine Rolle spielen."
(Engel 2010,
S.425) Zudem sind entsprechende Interpretationen von
namhaften Literaturwissenschaftlern an Beispielen vorexerziert
worden, auf die man zurückgreifen kann.
Das
Problem solcher Deutungsansätze bei der Interpretation ist, •
kognitionspsychologisch gesprochen, die
wissensgeleitete
•
Top-Down-Verarbeitung bei der jeweiligen •
Sinnkonstruktion. So weiß im Grunde jeder, der einem bestimmten
Deutungsansatz folgt, vor jeder Interpretation, "worauf der Text
hinausläuft, hinauslaufen muss – und der Interpretationsakt
besteht hauptsächlich darin, einen (mehr oder weniger) plausiblen
Bezug zwischen der Textoberfläche und dieser ›Bedeutung‹
herzustellen."
(ebd.,
S.424) So finden die jeweiligen "Parteigänger" in der Regel, was sie
suchen und lassen außen vor, was sich ihrem Ansatz nicht fügt.
Mitunter feilt man auch so lange an dem Schloss herum, bis der
eigene vermeintliche Universalschlüssel letzten Endes passt. (vgl. ebd
)
Dies gilt für eine ganze Reihe "stereotype(r) Deutungsvarianten" (ebd.,
S.361).) wie z. B. den
• • biografischen, •
psychoanalytischen,
• sozialgeschichtlichen,
• religiösen und existenzialistischen,
• jüdischen oder auch •
postrukturalistischen Ansatz.
Sie werden heute
auch von Künstlicher Intelligenz (KI) auf entsprechende Anfragen
(Prompts) hin immer wieder die gleichen stereotypen Ansätze heruntergebetet und sollen wohl dem
Verständnis von der literarischen Werke auf die Sprünge helfen. Beispiele
lassen sich leicht selbst generieren, sind aber auch in den
entsprechenden teachSam-Arbeitsbereichen zu verschiedenen ▪
Parabeln Franz Kafkas dokumentiert (z. B.
• "Gibs auf!", • "Der
neue Advokat".
Hier kann und soll dabei der Erkenntniswert dieser
Interpretationsansätze nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden,
wohl aber für einen flexiblen Umgang mit ihnen plädiert werden. Es geht in der Praxis der
Interpretation ohnehin darum, die Gräben zu überbrücken, die die
literaturwissenschaftliche Kafka-Forschung und ihre
"Theorieavantgarde"
(Engel 2010,
S.424) ausgehoben hat, um mehr oder wenige klare Trennlinien
zwischen dem eigenen und den "anderen" zu schaffen und sich
eine bestimmte Position im Wissenschaftsbetrieb zu
erobern und/oder diese zu verteidigen.
Der "Mainstream
literaturwissenschaftlicher Interpretationspraxis" (ebd.),
wie sie Engel auch in den Kafka-Monographien von
Alt
(2005/22008) und
Jahraus
(2006) repräsentiert sieht, habe mit ihrer Deutungspraxis
"die Verfahren und Theoreme der Theorieavantgarde (in deutlich
abgeschwächter, ›verwässerter‹ Form) in buntem Eklektizismus" (ebd.)
immer wieder aufs Neue zu assimilieren, dazu beigetragen,
dass Mischformen verschiedener Ansätze m Verhältnis zu lupenreinen
Ausprägungen bestimmter Interpretationsschulen heute deutlich überwiegen.
Letzten
Endes aber kennen die meisten Vertreterinnen und Vertreter der einen
oder anderen Literaturtheorie und Interpretationsmethode die Antwort auf
die Frage, welche Methode die "richtige" ist, sehen
sie im Grunde auch ähnlich.
Sie wissen, dass
das "Gespenst der so genannten richtigen Interpretation" (Steinmetz 1995, S.476)
in der literaturwissenschaftlichen Praxis nicht nur erkenntnislogisch
irreführend ist, sondern auch in der literaturwissenschaftlichen Praxis
weder weiter- noch zielführend ist. Was eine zeitgemäße Interpretation heute kennzeichnet, ist
ein "bewusst praktizierter Methodenpluralismus und ein ›synthetisches
Interpretieren‹ (Jost Hermand)" (Becker/Hummel/Sander
22018, S.192) und damit "die bewusste und vielfach auch
sinnvolle Verschränkung verschiedener methodischer Fragen, theoretischer
Ansätze und Erkenntnisinteressen" (ebd.)
Zuallererst, und dies gilt im literaturdidaktischen Umfeld, um so mehr,
sollten auch literaturwissenschaftliche Deutungsansätze, die zur Analyse
und Interpretation der Werke Kafkas verwendet werden, keine "absolute
Deutungskompetenz" (Allkemper/Eke
22006, S. 155) beanspruchen, sondern "die Vieldeutigkeit
literarischer Texte durch Analyse von Form und Inhalt erkennbar machen."
(ebd.)
Wenn also heutzutage allgemein zu beobachten ist, dass die Zeiten, in
denen die Vertreterinnen und Vertreter der verschieden
Interpretationsansätze und -schulen versuchen, "dem Leser den goldenen
Schlüssel auszuhändigen, der ihm den einen oder anderen Text oder sogar
das Gesamtwerk Kafkas erschließt" (Müller
1994/2003b, S, 9)
Diesem Gedanken hat sich auch der • Ansatz
einer historisch-hermeneutischen Literaturwissenschaft von Manfred
Engel (2010,
S.425) verschrieben. Engels Ansatz
(ebd.,
S.425) verzichtet auf der Grundlage seines Lektüremodells darauf,
sich auf einen bestimmten Interpretationsansatz festzulegen, der
dann mit mehr oder weniger überzeugenden Kotexten und Kontexten
unter Vernachlässigung anderer Aspekte durchgezogen wird.
Stattdessen greift er bestimmte Textelemente auf – er
bezeichnet sie als Codes –, die Kafkas Texte einzeltextübergreifend kennzeichnen und
auch in den verschiedenen gängigen Interpretationsansätzen eine
tragende Rolle spielen.
Ob man, hier nur angefügt, dabei • zwischen Textanalyse und
Textinterpretation unterscheiden will, ist dabei eher Ansichtssache.