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Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden:
Dass einem diese Texte "schräg" vorkommen, ist ganz normal ...
Dass Kafkas Werke "mit religiösen Themen wie Schuld, Gnade, Gericht,
Urteil und Erlösung" (Andringa
2008, S.326), konnotiert worden ist, liegt
zunächst einmal an seinem Freund und Herausgeber seines Nachlasses, »Max
Brod (1884-1964). Dieser sah in Kafka nämlich eine religiösen
Menschen, einen "Erneuerer der altjüdischen Religiosität" (Brod
1974, S. 279) und beeinflusste mit Äußerungen in seinem Nachwort zu
Kafkas zu dem fragmentarischen Roman "Das Schloss", wonach die darin
vorkommenden rätselhaft wirkenden Instanzen ›Gericht‹ und ›Schloss‹ für
›Erscheinungsformen Gottes‹ und zwar im Sinne der kabbalistischen Lehre
stehen. (vgl. Brod 1973 (1926), S.41, vgl.
Engel
2010, S.422) Kabbala ist, wie auf der Internetseite • "Jüdische
Info" zu lesen ist "die erhaltene Weisheit, die angeborene Theologie
und Kosmologie des Judentums". Der jüdische Kabbalismus, auch »»Kabbala
genannt, ist eine mystische und spirituelle Tradition des Judentums. Sie
beschäftigt sich mit der inneren Dimension der
Tora,
der hebräischen Bibel, und dem Verhältnis zwischen Gott, dem Universum
und der menschlichen Seele.

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Mit seiner
allegorischen
Auslegung bestimmte Max Brod in entscheidender Weise mit, dass der religiöse
Ansatz über Jahre hinweg Richtschnur für viele andere Interpreten wurde,
die mit solchen
Allegoresen, auch wenn sie noch so weit hergeholt waren, mehr oder
weniger eindeutige Antworten auf Fragen finden wollten und gaben, die
von den rätselhaft und fremd wirkenden Texten Franz Kafkas aufgeworfen
wurden. (vgl.
Müller 2008a, S.528)
Der existenzialistische Interpretationsansatz hat bis in die 1950er Jahre die wissenschaftliche
Kafka-Interpretation maßgeblich geprägt, ist aber, wie
Manfred Engel
(2010, S.422) betont, "heute (...) gründlich aus der Mode
gekommen." Dies betrifft aber wohl vor allem seine
christlich-religiöse Variante.
Grundsätzlich ist der »Existenzialismus
eine der wichtigsten und einflussreichsten philosophischen Strömungen
des 20. Jahrhunderts. Vereinfacht und pointiert gesagt, versteht man
heute unter Existenzialismus vor allem eine
atheistische, nicht deterministische Sicht auf das menschliche Dasein,
die ihm auf der einen Seite eine grundsätzliche, zwangsläufige und
alternativlose Freiheit der Daseinsgestaltung zuspricht, aber auf der
anderen Seite auch die Verantwortung aufbürdet, die Gesamtheit seiner
Entscheidungen und Handlungen selbst zu verantworten und seinem a priori
sinnlosen Leben einen Sinn zu geben.
Im
Allgemeinen werden religiöse und existenzialistische Ansätze aufgrund
der Tatsache, dass sie von ähnlichen Prämissen ausgehen und die
Sinnsuche in einer sinnlos erscheinenden Welt zum wesentlichen Problem
der Daseinsbewältigung machen, gemeinsam betrachtet. Dafür sprechen
sicher etliche Gründe, aber auch manches dagegen. Was sie grundlegend
voneinander unterscheidet, ist ihr Verständnis des menschlichen Daseins
und die Richtung, die sie diesem geben wollen.
Während religiöse,
christlich-existenzialistische Ansätze
den Menschen auffordern, ihr
Schicksal in die Hände Gottes zu legen, religiösen
Normen zu folgen und sich in einem Leben mit einem eindeutigen »eschatologischen
Daseinsbezug einzurichten, entlässt der
atheistisch
fundierte Existenzialismus den Menschen in die volle und ganze
Verantwortung für sein Handeln und bürdet ihm allein die Suche nach und das
Finden von Sinn in einer durch keine andere Instanz irgendwie sinnhaft
gemachten Welt auf.
Der christliche
Existenzialismus glaubt, dass der Mensch im Universum grundsätzlich verloren
ist und diesen Zustand nur dadurch beenden kann, wenn er im Glauben
an Gott einen Sinn des Daseins finden kann. Sich stattdessen im
Glauben auf Antworten auf diese Frage immer mehr und immer weiter um
Erkenntnis zu bemühen, verbaut ihm genau diese fundamentale Einsicht in die Grundbedingungen seiner Existenz. (z. B. »Blaise
Pascal 1623-1662).
Ausgehend von
solchen Überlegungen stützten christlich-existenzialistischen Deutungen
der Werke Kafkas immer wieder rein religiösen
Perspektiven und unterzogen Kafkas Texte oft einer sehr vereindeutigenden
allegorisierenden
Interpretation unterzogen. Allerdings steuerten sie damit aber auch den religiösen Ansatz
allmählich ins Abseits, da eine derart verengende Sicht im
literaturwissenschaftlichen Diskurs gerade auch für Franz Kafka mehr
und mehr als unangemessen erschien.
In seinem "moderneren" Gewand
ist der Existenzialismus hingegen atheistisch. Diese Richtung wird vor allem
von
den Philosophien »Martin
Heideggers (1889-1976), »Jean-Paul
Sartres (1905-1980) und »Maurice
Merlau-Pontys (1908-1961) begründet.
So
glaubt »Jean-Paul
Sartres (1905-1980) nicht daran, dass sich die
existenziell prekäre Lage des Menschen, der einfach in die Welt "geworfen"
ist, durch die Ausrichtung auf ein von der subjektiven
Erkenntnisfähigkeit und dem individuellen Handeln des Menschen
unabhängiges, absolut gesetztes Prinzip, durch eine höhere Macht
oder durch eine vorgegebene "Wahrheit" oder Moral verändern lässt.
Stattdessen müsse sich der Mensch als einzigartiges Subjekt
seine eigene Bedeutung und seine Werte in der Welt schaffen. Daher
müsse der Mensch auch danach streben, ein authentisches Leben zu
führen, das auf der Akzeptanz der Tatsache beruhe, dass er letzten
Endes "zur Freiheit verdammt" sei, darüber zu entscheiden, was ihm
als Sinn seines Daseins Orientierung geben soll.
Die Kehrseite
dieser prinzipiellen Wahlfreiheit, die dem Menschen aber auch die
volle Verantwortung für seine Entscheidungen und Handeln aufbürdet,
ist aber auch die Angst, die den Menschen dabei als Existenzangst
begleitet.
Der (authentische) Mensch lebt
nämlich unter dieser Perspektive im
Bewusstsein dafür, dass alles, was er denkt, fühlt und tut, immer
nur etwas Vorläufiges, ein bloßer (Lebens-)Entwurf sein kann.
Die
davon erzeugte "Ungewißheit seiner Existenz" ist dabei, wie Traugott
König (21995,
S. 776) betont, "Ursache für das grundlegende Gefühl der
›Verlassenheit‹, der ›Angst‹." Der Mensch ist, das ist die
Quintessenz des atheistischen Existenzialismus für immer ›zur
Freiheit verurteilt›, sich seine Welt zu entwerfen und
Entscheidungen darüber zu fällen, wie er in seiner Welt zu leben
gedenkt. Erkennt er dies, so fährt, König fort, "befindet er sich im
Zustand der ›Authentizität‹."
Die atheistische,
existenzphilosophisch fundierte Perspektive auf Kafkas Werke hat
heute im Vergleich zu der Zeit bis etwa 1970 zwar in der
Literaturwissenschaft etwas an Bedeutung verloren, ist aber bis
heute, insbesondere als Interpretationsansatz in der Schule, immer
noch stark vertreten.
Die in diesem
Zusammenhang immer
wieder betonte "kosmologische Obdachlosigkeit" (Yun
Mi Kim 2012, S.22) des "modernen" Menschen, die auf
unterschiedliche historische und gesellschaftliche Prozesse
zurückgeführt werden kann, ist auch heute noch ein zentraler
Begriff dieses Diskurses.
-
Er verweist auf
die prinzipielle Unsicherheit menschlicher Existenz und die
Fragen, die diese aufwirft, ohne dafür gesellschaftliche oder
individuell verbindliche Antworten zu liefern.
-
Er
unterstreicht, dass das, was früher jedenfalls einfach geglaubt
wurde, um dem Leben einen Sinn zu geben, heute in den modernen
westlichen Gesellschaften kaum oder nur noch eine geringe Geltung
hat.
-
Er macht deutlich, dass die Prinzipien und
Normen, nach denen gehandelt und/oder das Leben eingerichtet wurde
und damit die Art und Weise, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt
geschaffen wurde, heute zusehend erodieren, ohne dass diese
"Sinnreservoire" mit neuen, irgendwie gesellschaftliche
Verbindlichkeit schaffenden Inhalten wieder aufgefüllt wurden.
So nimmt der
existenzialistische Ansatz auch weiterhin auf jene Kontexte Bezug,
die ihm die Möglichkeit eröffnen, seine besondere
Auslegungsstrategie zu rechtfertigen und auf seine Weise plausible
"sinnvolle" Lesarten für die Texte Kafkas zu ermöglichen.
In
der entzauberten Welt der säkularisierten Moderne haben sich die Bezugspunkte
einer zeitgemäßen, zugegebenermaßen aktualisierenden existenzialistischen Deutung
verändert.
Heutzutage sind es
nämlich nicht mehr die historischen Veränderungen
und Verwerfungen, die mit der Säkularisierung menschlichen Daseins
zu tun haben, sondern gesellschaftliche Prozesse und Veränderungen,
die im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Prozessen der •
Individualisierung und
der •
Singularisierung
zu sehen sind.
In
Metaprozessen wie der ▪
Individualisierung, der Globalisierung, Kommerzialisierung,
Mediatisierung sowie der "Singularisierung"
(Reckwitz
2017/2019) wurden werden die lange vorhandenen "kollektiven oder
gruppenspezifischen Sinnreservoire" verbraucht. (vgl. ▪
Ulrich Beck 1993). Einfach gesagt: Was früher geglaubt, nach
welchen Prinzipien gehandelt oder wie das Leben eingerichtet wurde
und auf welche Weise gesellschaftlicher Zusammenhalt geschaffen
wurde, ist zusehend erodiert.
In
den hochdifferenzierten pluralistischen Gesellschaften, in denen wir
leben, gibt es heute kein gemeinsames weltanschauliches globales
Dach mehr (Stichworte:
•
Enttraditionalisierung, Globalisierung und Individualisierung),
das die existenziell verunsichernden Folgen der "kosmologischen
Obdachlosigkeit", wenn nicht verhindern, so doch abfedern könnte.
Religionen sind schon längst auf dem Rückzug, allerdings setzen
andere Ideologien oder Konglomerate von Ideologien alles daran, die
leergelaufenen Sinnreservoire mit populistischen Heilsversprechen
und »Verschwörungstheorien
so zu fluten, dass in diesen Containern wieder eine Art
Heilsgewissheit entsteht.
Aber
auch diese Entwicklung rückt letzten Endes jene Sinnkonstruktionen
des Sozialen in den Blick, mit denen sich die Menschen von heute
miteinander vergesellschaften, sei es durch die Teilhabe oder
Nichtteilhabe am Konsum oder auch durch ihr auf gesellschaftlichen
Erwartungen beruhendes Streben nach dem Besonderen, dem
Einzigartigen. (vgl. (Reckwitz
2017/2019 (Stichworte: •
Singularisierung,
•
Wiederaufleben des romantischen Ideals nach Selbstverwirklichung und
Selbsteinfaltung)
Die Werke Kafka
können und wollen ihren Lesern keine Antworten auf Probleme des
alltäglichen Lebens und auf existenzielle Fragen geben. Sie stellen
zwar auf ihre Weise die Frage nach dem Sinn des Lebens. Grundsätzlich lassen sie solche Fragen aber unbeantwortet.
Kafka als Autor, aber auch seine Erzähler haben keine solchen
Konzepte für das richtige Leben parat. Wer sie sucht, wird bei Kafka
nur eine von Tradition und Ideologie geprägte Welt in Auslösung
und Widersprüchen finden.
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Baustein:
Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden: Dass einem diese Texte "schräg" vorkommen, ist ganz normal ...
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.03.2025
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