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Baustein:
Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden:
Dass einem diese Texte "schräg" vorkommen, ist ganz normal ...
Der jüdische Deutungsansatz musste sich erst einmal aus dem
christlich-religiösen Deutungskonzept als eigenständige Perspektive
lösen, ehe er in den späten 1970er und 1980er Jahren mit vor allem drei,
auch miteinander verbindbaren, Schwerpunkten etablieren konnte.
Auch in
der jüdischen Deutung wird Franz Kafka "nicht durchgängig als ein
›jüdischer‹ Autor" (Lauer
2010, S.50) angesehen und sein Werk gilt deshalb auch "mal mehr, mal
weniger als ›jüdisch‹." (ebd.)
Die drei Schwerpunkte sind nach
Engel
(2010, S.423): Das jüdische Leben,
jüdisches Wissen und die ›westjüdische‹
Selbstdeutung, die Kafka selbst in Abgrenzung von "der ostjüdischen,
noch selbstverständlich in jüdische Glaubenstraditionen, Rituale und
symbolische Ordnungen eingebundenen Lebensweise" (ebd.,
S.423) der so genannten »"Ostjuden".

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Ein orthodoxes jüdisches Leben wurde in
der Familie, in der Franz aufwuchs, nicht gelebt. Jüdische Rituale
wurden im Grunde nur an den drei besonders wichtigen Feiertage des
jüdischen Festkalenders gepflegt. Ihr Umgang mit ihnen in der Familie
Kafka zeigt darüber hinaus, wie vergleichsweise unwichtig •
Hermann Kafka, dem Vater, eine fundierte
Erziehung seiner Kinder im jüdischen Glauben gewesen ist. An »Rosch
ha-Schana (Neujahr), »Pesach/Passah
(Erinnerung an den Auszug aus Ägypten) und »Jom
Kippur (Versöhnungsfest) besuchte Hermann mit seinem Sohn, der dem
Ganzen eher gelangweilt folgte, die Synagoge, die man ansonsten das Ganze
Jahr über nur von außen sah. Hermann Kafka, der ein »aschkenasischer
Jude war, folgte wie die meisten jüdischen Familien keinen
jüdisch-orthodoxen Regeln. Er war, wie viele andere auch, ein "assimilierte(r)
»Dreitagejude«" (ebd.,
S.68) oder "Feiertagsjude" (»Joseph
Roth). Bei den wenigen jüdischen Ritualen, die im Hause Kafka gepflegt
wurden, "fehlte der tiefere reiligiöse Ernst" (ebd.,
S.69). So inszenierte man an Pessach die gemeinsame Mahlzeit am »Sederabend
zwar mit Geschirr, das nur dafür zum Einsatz kam, hielt sich aber wenig an
die zeremonielle Durchführung der Mahlzeit, bei der sich die
Familienmitglieder eigentlich ihrer Ursprungstraditionen versichern, diese
erinnern und neu für sich bekräftigen sollten. Stattdessen ging es bei den
Kafkas dabei immer hoch her. Und auch sonst hielt man sich im Hause Kafka
das ganze Jahr über nicht daran,
koscher zu essen, man kochte am
Schabbat,
trennte Milch und Fleischgerichte nicht voneinander und aß Fisch auch gerne
ohne Schuppen. Das alles zeigt, dass der Vater, der sonst so viel Wert auf
Rituale legte, die jüdischen Rituale nur noch als verpflichtende Elemente
einer entleerten Kulturtradition verstand, zu der er sich und seine Familie
nicht mehr zugehörig fühlte. (vgl.
ebd.)
Für seinen Sohn bedeutete dies einen "tiefgreifenden Verlust der
religiösen Identität" (ebd.,
S.73) und ein Gefühl der "Entwurzelung" (ebd.).
In seinen autobiografischen Texten hat Franz Kafka dieses ›Fehlen des
Judentums‹ in seinem Leben immer wieder thematisiert.
Insgesamt gesehen können die Kafkas aber "als exemplarische Vertreter einer
jüdischen Übergangsgeneration angesehen werden; sie blieben ihrer jüdischen
Herkunft auf Lebenszeit verbunden, fanden jedoch auch Anschluss an die neuen
liberalen Werte und Entwicklungen ihrer Epoche. Wie für die meisten führte
bei ihnen der Kampf um den sozialen Aufstieg aus dem Ghetto in die Freiheit
– somit aber auch in den Zustand einer ungewissen Schwebe zwischen Observanz
und Assimilation." (Haring
2010, S.1)
Franz Kafka jedenfalls war durch sein Leben in der Familie das Jüdische
"nicht als selbstverständlich überlieferte religiöse Tradition
gegenwärtig." (Lauer
2010, S.50) Wohl aber kannte er sich aus mit gesellschaftlichen
Ausgrenzungen, den radikaler auftretenden Nationalisten und
antisemitischen Ausschreitungen in Prag, die ja auch das
Galanteriewarengeschäft seines Vaters betrafen.
Das jüdische Wissen, das Franz Kafka im
Laufe seines Lebens erworben hat, stammt jedenfalls nicht aus einem in
der Familie gelebten jüdischen Leben. In eine erste nennenswerte
Berührung mit jüdischem Wissen kam Franz in seiner Zeit am Altstädter
Gymnasium, wo ihm sein Mitschüler »Samuel Hugo Bergmann
(1883-1975) mit zionistischem Gedankengut bekannt machte. Bergmann,
der nach dem Ende des 1. Weltkrieges nach Palästina auswanderte, dort
Leiter der Hebräischen Nationalbibliothek in Jerusalem wurde, hat dem
schon schwerstkranken Franz Kafka noch 1923 das allerdings dann mehr
oder weniger zurückgezogene Angebot gemacht, ihn dort in seiner Familie
zunächst einmal aufzunehmen, wenn er sich für die Auswanderung in das seit 1920 unter »britischer
Mandatshoheit stehende Palästina entscheide.
Wichtigere Impulse als die Diskussionen mit dem gläubigen Bergmann waren
die, die Kafka erhielt, seit ihn von Ende Oktober 1902 eine lebenslange
Freundschaft mit »Max
Brod (1884-1968), dem späteren Herausgeber seines Nachlasses,
verband. Über ihn kam er auch in Kontakt mit Autoren wie »Felix
Weltsch (1884-1964), »Oskar
Baum (1883-1941), »Franz
Werfel (1890-1945) und »Paul
Kornfeld (1889-1942), "die ihre künstlerischen und intellektuellen
Interessen mit dem »Zionismus
verbunden haben." (Lauer
2010, S.51)
Auch in der jüdischen Gemeinde Prags verbreiteten sich um 1910
zionistische Vorstellungen "von der ethnischen, kulturellen,
geschichtlichen Besonderheit des jüdischen Volkes, dem die Zionisten
auch politisch durch Ansiedlung in Palästina als Heimatland und damit
Selbständigkeit und Erneuerung nach Jahrhunderten des Exils verschaffen
wollten." (Beicken
1986, S.52)
Als Zuhörer von Vorträgen »Martin
Bubers (1878-1965) erfährt Kafka zudem, dass das »Ostjudentum
mit seiner ultraorthodoxen Orientierung am »Chassidismus
und am ›einfachen ländlichen Leben dem auf Assimilation und auf
städtisches Leben ausgerichteten »Westjudentum
entgegenzuhalten sei. Die im Grunde
noch unzivilisierten Ostjuden seien, ohne dass sie damit
Vorbilder einer künftigen jüdischen Nation darstellten, "in gewissem
Sinne authentischer, ›jüdischer‹ als die westjüdischen, liberalen
Bildungsbürger" (Stach
2011/42015, S.55 Kindle Edition)
Auch wenn Franz Kafka die
Modernisierungskritik Bubers nicht unkritisch aufnimmt (vgl.
Beicken 1986,
S.52), hat wohl auch ihn Bubers "äußerst wolkige, jedoch suggestive
Rhetorik" nicht unberührt gelassen, die mit ihrer Neudefinition des
Zionismus "die nachrückende Generation gebildeter Juden in einen
Taumel versetzt". (Stach
2011/42015, S.53 Kindle Edition)
Wahrscheinlich kommt Kafka, der in seinem Leben mal mehr mal weniger
Sympathien für den Zionismus in unterschiedlichen Varianten entwickelte
(vgl.
Gelber 2008,
S.294), darüber aber doch in seiner kritischen Auseinandersetzung mit
der Elterngeneration, "allmählich zu der Einsicht, wie weit er vom
jüdischen Ritus, von Religion und Tradition entfernt" (Beicken
1986, S.52) war und vollzog bis zu einem gewissen Grad, wie
etliche seiner Freunde und andere Angehörige seiner Generation, eine
Rückbesinnung auf seine jüdischen Wurzeln. (vgl. Engel
2010, S.423)
Diese jüdischen Wurzeln begegneten ihm aber auch auf andere Art und
Weise als in der Auseinandersetzungen mit dem Zionismus.

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Besonderes Gewicht hatte dabei seine Auseinandersetzung mit dem so
genannten Ostjudentum. Die Unterscheidung zwischen Ost- und Westjuden
geht auf eine Rede »Max
Nordaus (1849-1923), dem Mitbegründer der
»Zionistischen
Weltorganisation, auf dem »5.
Zionistenkongress in Basel (1901) zurück. Darin grenzte er die
assimilierten und zu Bildung und Wohlstand gelangten westeuropäischen
Juden, Westjuden genannt, von den verarmten und ungebildeten, auf dem
Land lebenden osteuropäischen Juden aus Russland und Galizien mit ihrer
›rohen‹ »jiddischen
Sprache, Ostjuden genannt, gegeneinander ab.
Für Kafka spielte in diesem Zusammenhang das »Jiddische
Theater, das traditioneller Weise besonders in der »jüdischen
Kultur der »Ostjuden
verankert war und in den 1920er und 1930er Jahren »in
Europa und den USA seine Glanzzeit hatte, eine maßgebliche Rolle. Auch in Prag gaben
jiddische Gastspieltruppen in Vergnügungscafés der Stadt Vorstellungen,
von denen Franz Kafka und Max Brod 1910 erstmals eine besuchten. Kafka fand
in den von ihm selbst ›Jargontheater‹ genannten Vorstellungen offenbar
so viel Vergnügen, dass er mehr als 20 Aufführungen besucht hat. (vgl.
Lauer 2010,
S.51) Ihr Repertoire umfasste "neben Solovorführungen, Travestienummern
und Chansons zumal Jargonstücke, die meist aus dem späten
19. Jahrhundert stammten, häufig aber ältere Stoffe der jüdischen
Legendentradition verarbeiteten." (Alt
2005/22008, S. 356 Kindle Edition)
Natürlich war sich auch Kafka im Klaren darüber, dass, was solche
Gastspieltruppen auf die Bühne brachten, ein ganz anderes Niveau hatten,
als das, was die bildungsbürgerlichen Zuschauer ansonsten im Theater
erwarteten und zu sehen bekamen. Es war in deren Augen ein "trauriges
Zerrbild, also Schund, präsentiert in jener schäbigen
Mameloschn (Muttersprache), welche die Brandmale von Armut und
Verfolgung trug: die Sprache des Schtetl." (Stach
2011/42015, S.56 Kindle Edition). Dass sich Kafka trotz
all dieser Vorbehalte dafür begeistern konnte, lag wohl auch daran, dass
er die Wahrhaftigkeit des missionarischen Eifers, mit der jiddische
Theater und ihre exaltierten Schauspieler in einer geradezu "exotische(n)
Sentimentalität" (ebd.
S.53) ihre Botschaft unter die Leute brachten, anerkennen konnte. Auch
wenn die "singenden, zappelnden, mauschelnden Haufen" (ebd.)
auf der Bühne, verglichen mit den Standards europäischer Schauspielkunst
"Schmierentheater" (ebd.,
S.49) boten, hielten sie in seinen Augen doch naiv, aber mit großer
Begeisterung daran fest, jüdische Volkskultur zu vermitteln und ihrem
Publikum die eigene Geschichte, die eigenen Wurzeln zu vergegenwärtigen,
"indem sie an die treuherzige, legendenhafte Wiederholung historischer
Ereignisse anknüpften, die den Juden aus ihrem Festzyklus schon vertraut
war." (ebd.,
S.50) Kafka selbst scheute sich selbst offenbar nicht, bei den
Aufführungen, die er besuchte, des Öfteren die Texte auswendig
mitzusingen. Unter Umständen ergriff ihn dabei "das Gefühl, vor einem
Wunder an menschlicher Authentizität zu stehen" (ebd.,
S.49). Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die
Schauspieler*innen, die er kennen lernte, arm und kaum gebildet waren
und an ihrer äußeren Erscheinung auch zu erkennen war, "dass sie auch
den Hunger kannten." (ebd.)
Das gebildete, akkulturierte jüdische Publikum ließ sich auf solchen
Veranstaltungen nicht blicken, aber auch der Kontakt zu den
Schauspieler*innen, so abgerissen sie aufgrund ihrer prekären Lage oft
aussahen, dazu noch den "Jargon", das»
Jiddische, sprachen, war in diesen Kreisen ein No-Go. Die Mehrheit
assimilierter und meist gut gebildeter Jüdinnen und Juden, die in Prag
lebten, suchten Anschluss an die deutsche Hochkultur und hatten wenig
Interesse daran, " sich in die Gesellschaft von Menschen zu begeben,
deren ›mauschelnde‹, ständig zwischen Deutsch und Jiddisch schwankende
Sprechweise den schlimmsten antisemitischen Zerrbildern entsprach." (ebd.,
S.48) Sie sehen in ihnen "erbarmungswürdige »Luftmenschen« (Baioni
1994), barbarisch erzogen, die in unhygienischen Verhältnissen leben
und es nie zum geringsten Wohlstand bringen. Mit diesen bettelarmen,
ungebildeten, ordinären ostjüdischen Schauspielern, die auf der Bühne
Krach und Spektakel machen und dies dann Theater nennen, will man
wirklich nichts zu tun haben." (Prinz
2005/2024 , S.78 Kindle-Edition)
Kafka bekommt dadurch aber "weitere tiefgehende Einblicke in die
Lebenswelt und Geisteswelt der jüdischen Tradition, die vorwiegend
unberührt war von den Assimilationserscheinungen des Westjudentums" und
"erlebt [...] dieses in Prag fast durchweg verachtete Volkstum, das nach
Lebensform und Bildungsniveau für die assimilierten Juden auch wegen der
als Jargon abgewerteten Sprache unannehmbar war, als ein Vorbild
authentischen Gemeinschaftslebens." Mehr noch: "Zunehmend richtet er
seine eigene jüdische Selbstfindung auf dieses idealisierte Ostjudentum
hin aus." (Beicken
1986, S.53) Wenn ihm dabei die "Ostjuden als Paradigma eines
ursprünglichen der Tradition verbundenen lebendigen Judentums" (Hohmann
2004, S.6) erschienen und er in Lebensgefühl und Denkweise der
Ostjuden "sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner eigenen
Lebenseinstellung entdeckte" (ebd.),
ließ er sich davon jedoch nicht gänzlich einnehmen und verharrte in
einer ambivalenten Haltung gegenüber dieser überaus frommen, »chassidischen
religiösen Welt der osteuropäischen Juden. Er selbst verstand sich wohl
auch weiterhin als westeuropäischer Jude, auch wenn er stets mit seiner
bürgerlichen westjüdischen Herkunft gehadert hat.
Was er an den osteuropäischen Juden aus Russland und Galizien
bewunderte, war ihre Naivität und die Authentizität ihrer religiösen
Gemeinschaft, "die eines echten Gottesglaubens und eines
Gemeinschaftsgefühls fähig war, während er seine eigene
gesellschaftliche Gruppe, die assimilierten Juden des Westens,
verabscheute und in ihnen den Inbegriff einer entwurzelten,
gemeinschafts-, traditions- und zukunftslosen Existenz sah."
(ebd.,
S.7). Wie Ursula
Hohmann (2004,
S.6) betont, hätten die westjüdischen assimilierten Juden nach Ansicht
Kafkas ihre Bindungen an die jüdische Gemeinschaft zerschnitten, ohne
von der europäischen akzeptiert zu werden. Somit sind sie von der Welt
des Gesetzes abgeschnitten, ohne irgendwo anders Wurzeln schlagen zu
können.
Dabei spielten aber auch persönliche Beziehungen zu den Schauspielern
eine außergewöhnlich große Rolle. So lernte er den Schauspieler »Jizchak
Löwy (1887-1942, ermordet im »Vernichtungslager
Treblinka) kennen und freundet sich mit ihm an und zieht zum
Entsetzen seiner eigenen Eltern und zum Erstaunen seiner Freunde
wochenlang mit diesem "abgerissenen und gewiss auffälligen" (Stach
2011/42015, S.248 Kindle Edition) nahezu gleichaltrigen
jungen Mann wochenlang durch die Prager Gassen.
»Wer sich mit Hunden zu Bett legt, steht mit Wanzen auf«,
lautete der bissige, noch heutigem Sprachgebrauch geradezu rassistische
Kommentar von •
Hermann Kafka, der die Kontakte seines
Sohnes zu der in seinen Augen ›unreinen‹ jüdischen Bevölkerungsgruppe
der Ostjuden (ebd.,
S.59) aufs Schärfste missbilligte.
Die Auseinandersetzungen mit ihm und
die Behandlung, die Löwy bei seinen wenigen Besuchen im Elternhaus der
Familie Kafka erfuhr, hat Franz offenbar so nachhaltig empört, dass er
in seinem zehn Jahre später verfassten •
Brief an den Vater
mit schweren Vorwürfen gegen seinen Vater noch einmal darauf
zurückgekommen ist. So hält er ihm vor, er sei, wie sie oft, ohne jede
Rücksicht auf sein Gefühl und ohne Achtung vor seinem Urteil mit
Beschimpfung, Verleumdung, Entwürdigung gegen diese Verbindung
aufgetreten und habe einen unschuldigen und kindlichen Menschen wie Löwy
als Ungeziefer diffamiert.
»Jizchak
Löwy (1887-1942), dessen Eltern
als strenggläubige »chassidische Juden seine Begeisterung für das Theater
ablehnten, musste sich seinen eigenen Weg bahnen. Im Alter von 17 Jahren brach der Sohn eines Rabbiners gegen
deren Willen die Talmud-Schule ab, ging nach Paris und schloss sich 1905
einer Amateurtheatergruppe an, mit der er durch Europa tourte und
1911/1912 auch in Prag gastierte. Kafka sah in ihm wohl "sein anderes
Selbst" (vgl.
Lauer 2010,
S.51), da dieser mit der Welt seiner Väter gebrochen hatte, um sich
seinen eigenen Überzeugungen folgend einer nicht besonders angesehen
Kunst zu widmen.
Und Kafka, der Löwy anfangs wohl sehr idealisierte, hörte ihm begeistert
zu, wenn er Anekdoten aus seinem Leben erzählte und "bescheinigte dem
Freund die Vitalität, die er selbst entbehrte". (Stach
2011/42015, S.51Kindle Edition) In einem Prosafragment
mit dem Titel »"Vom
jüdischen Theater", das im Jahr 1917 entstanden ist, nachdem Kafka
Löwy in Budapest zufällig wieder getroffen hatte, enthält von Kafka
niedergeschriebene Erinnerungen seines Freundes. (»Text
im Internet)
Von der 30-jährigen verheirateten Mania Tschissik, die ebenfalls zu der
Theatertruppe zählte, fühlte sich Kafka erotisch angezogen, das Ganze
ging aber über Formen einer eher spielerisch wirkenden Annäherung nicht
hinaus.
Außer der Auseinandersetzung mit dem Zionismus, dem Jiddischen Theater
und der ostjüdischen Tradition näherte sich Franz Kafka aber auch auf
anderen Wegen dem Judentum, das in seiner Familie ja weitgehend abhanden
gekommen war. Seit dem Spätherbst 1914 nimmt er Hebräisch-Unterricht und
wird von seinem orthodoxen Lehrer »Jiří
Mordechaj Langer (1894-1943) mit den
chassidischen Gebräuchen und der vom »Talmud,
einem der wichtigsten jüdischen Schriftwerke, geprägten Lebenswelt der
jüdischen Orthodoxen vertraut gemacht. Bis zu seinem Tod lernte Kafka
die Sprache immer weiter.
Allgemein gesehen verschlang Kafka auf der Suche nach seiner jüdischen
Identität eine Vielzahl unterschiedlicher »"Judaica",
Schriften von Juden, aber auch Nichtjuden über das Judentum. Diese Texte
entwarfen dabei ein durchaus heterogenes Bild vom Judentum und
widersprachen sich nicht selten in ihren Auffassungen. So standen sich
z.B. die Schriften der Zionisten, die die hebräische Sprache
propagierten, und die Anhänger ostjüdischer Traditionen, die "im
Jiddischen die wahre Sprache der Juden sahen" (Lauer
2010, S.53), unversöhnlich gegenüber, nachdem schon »Theodor
Herzl (1860-1904), der Begründer des politischen Zionismus, im
Jiddischen einen «verkümmerten und verdrückten» Jargon sah, den er als
Reflex der babylonisch gewordenen «Ghettosprachen» rundum ablehnte und
im neuen Staat Palästina nicht haben wollte. (vgl.
Alt
2005/22008, S. 357 Kindle Edition). Genauso standen die
grundsätzliche Verklärung der Lebensweise der osteuropäischen Juden und
die "zionistisch-sozialistischen Koloniepläne" in einem klaren Gegensatz
zueinander. (Lauer
2010, S.53)
So bilden Judentum, Zionismus und Jiddisches einen sehr heterogenen
Hintergrund für Kafkas Werke. Als Stoffe, Motive und Themen kommen sie
in den Texten, die zu Lebzeiten des Autors veröffentlicht worden sind,
praktisch nicht vor und auch im posthum publizierten Nachlass lassen
sich diese kaum eindeutig identifizieren. Allerdings sind seine
Tagebücher, Briefe etc. voller Bemerkungen, Erfahrungen und Reflexionen
über alle Fragen, die ihn im Zusammenhang mit dem Judentum beschäftigt
und interessiert haben. Da sich sein literarisches Werk, wie
Lauer (2010,
S.54) resümiert, über die Frage ausschweige, ob diese autobiografischen
Zeugnisse zum Werk zu zählen sind, bleibt seiner Ansicht nach auch die
Frage strittig, ob ein so "schwach manifester Kontext" (ebd.)mit
seinen "vergleichsweise geringen skalierenden Varianzen" (ebd.),
den Stellenwert beanspruchen könne, der von jüdischen Deutungsansätzen,
die das "Jude-Sein" als "Zentrum der Existenz Kafkas und seines Werkes"
(Hohmann 2004,
S.11) ansehen. Für
Lauer (2010,
S.56) steht damit auch außer Frage, dass "Judentum, Zionismus und das
Ostjudentum (...) ein, aber kein zwingender Kontext für ein angemessenes
Verständnis von Kafkas Werk (ist), noch gar der allein bestimmende",
zumal eines derartige Position der Mehrdeutigkeit seiner Texte in keiner
Weise gerecht werde. Problematisch sind solche jüdischen Deutungen aber
vor allem dann, wenn ihre allegorischen Deutungen, "in Kafka-Texten
überall die Geschichte des jüdischen Volkes oder – die zunehmend
dominante Tendenz – die Assimilationsproblematik gestaltet finden
wollen" (Engel
2010, S.424) und beanspruchen, damit einen
"Universalschlüssel" für seine Texte gefunden zu haben
Kafka sei, so hält
Hohmann (2004,
S.11) dagegen, sei in vielerlei Hinsicht jüdischer als manche Leser
glaubten und als er selber geglaubt habe. Schließlich sei Kafka ein Kind
seiner Zeit gewesen und der Vertreter einer modernen, aber schwer
verständlichen, einer aufgeklärten, aber unübersichtlichen Welt, für die
er jüdische Vorstellungen gebraucht habe.