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Barock (1600-1720)
▪
Lyrik des Barock
▪
Lieder
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Liederbücher
▪
Venus-gärtlein (1656)
▪
Textauswahl
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Bausteine
▪
Petrarca und die
Überbietungspoetik des Barock
▪
Petrarkismus und barocke Liebesauffassung
▪
Petrarkismus, Manierismus und galanter Stil
Die Schönheit, aber auch
die Hässlichkeit von Frauen wurde in den Liedern der frühen Neuzeit immer
wieder thematisiert, gehörte doch das Aussehen einer Frau auch stets zu den
Faktoren, die die Partnerwahl beeinflusst haben. So waren Lieder, die die
Schönheit von Frauen, aber auch Männern priesen "voll von Lobeshymnen au die
schmucke Figur und die strahlenden Augen des oder der Geliebten, auch wenn
körperliche Anziehungskraft als trügerisch dargestellt wurde." (Hufton
1998, S.179)
Dabei hatte man wohl in der
Realität, ganz im Gegensatz zu den idealisierten Überhöhungen weiblicher
Schönheit in der ▪
petrarkistischen Barocklyrik, keineswegs so hohe Ansprüche, denn in den
Gesellschaften der frühen Neuzeit "galt eine Person schon als schön, wenn
sie, ob Mann oder Frau nicht pockennarbig war und nicht an
Vitaminmangelkrankheiten, Geburtsfehlern oder Missbildungen durch
Arbeitsunfälle litt." (ebd.)
Aber dessen ungeachtet spielte die Aussicht auf ein gesichertes Einkommen
und das Vermögen überall in Europa bis zum 20. Jahrhundert die entscheidende
Rolle dabei, wer wen heiratete. Anziehungskraft und Zuneigung der Partner
waren dem also im Allgemeinen immer untergeordnet. (vgl.
ebd.)
Erotischer Petrarkismus und Antipetrarkismus
Die beiden Lieder ▪
An eine vortreffliche schöne und Tugend begabte Jungfraw (Nr. 131)
und ▪
Gegen=Satz. An eine sehr häßliche Jungfraw (Nr. 132) aus
dem ▪
Venus-Gärtlein (1656) sind in
dialektischer Weise thematisch aufeinander bezogen.
Sie
stehen in der ▪
Tradition der
Bildsprache beim ▪
petrarkistischen Schönheitspreis
und antipertrakistischen Hässlichkeitslob
von Frauen. Ihre Motive und Topoi prägen beide Gedichte. Der ▪
erotische
Petrarkismus malt die Liebeswerbung zum Teil sehr detailreich aus und
überhäuft die Geliebte in der Regel mit Komplimenten, frivolen Angeboten und
Aufforderungen (z.B. ▪
Christian
Hofmann von Hofmannswaldau (1616-1679). Der sog.
Antipetrarkismus,
dreht das Motiv der aussichtlosen Liebe zu der unerreichbaren Geliebten so ironisch
um wird, dass nicht mehr die Schönheit der Geliebten, sondern,
angesichts nicht erwiderter Liebe, deren Hässlichkeit oder ▪
Vergänglichkeit
der Schönheit (▪
Hofmannswaldau)
besungen wird.
Im Antipetrarkismus hat der Petrarkismus jedenfalls seinen
kritisch-parodierenden Antipoden gefunden, der zwar den stilistischen
und rhetorischen Vorgaben des petrarkistischen Systems folgte, zugleich
aber z. B. dessen Liebes- und Schönheitsideal umwertete, ohne dabei die
"petrarkistische(n) Gegenstände in einem niederen, spöttisch-derben
Stil" burlesk-travestierend zu behandeln. (vgl.
Borgstedt 2007,
S. 59) Beispielhaft dafür ist auch ▪
Paul Flemings (1609-1640) Parodie
▪ Wie? ist die Liebe
nichts? auf das Mustersonett Francisci Petrarchae
( ▪
Sonnet. Aus dem Italienischen Petrarchae), das ▪
Martin Opitz
(1597-1639) der Nachwelt zur Nachahmung und zum Übertreffen mit
eigenen Umdichtungen in seiner Übersetzung/Umdichtung der Vorlage von »Francesco
Petrarca (1304-1374) anpries.
Ebenso können die von ▪
Hans Assmann von Abschatz (1656-1699) übersetzten ▪ "Schertz-Sonette"
(1704) als thematisch besonders herausragende Beispiele des
antipetrarkistischen Hässlichkeitslobes
gelten.
Eine ▪
Auswahl seiner Texte
finden Sie hier.
Sie lauten u. a.: ▪
Die Schöne Blattende,
▪ Die Schöne
Hinkende, ▪ Die
Schöne Gelbsüchtige, ▪
Die Schöne Schielende,
▪ Die Schöne
Zerrissene, ▪ Die
Schöne Zahnlückige, ▪
Die Schöne Einfältige,
▪ Die Schöne Groß-Nase,
▪ Die Schöne
Pockengrübigte,▪
Die Schöne Unfruchtbare, ▪
Die Schöne Magere,
▪ Die Schöne Fette,
▪ Die schönen grauen
Haare, ▪ Die
Schöne Lange-Geliebte, ▪
Die Schöne Häßliche,
▪ Die Schöne Alte
...
Auch das "Überzwerche Lob einer
schönen Dame", das
▪
Grimmelshausen (1622-1676) in seinem Roman ▪
Simplicissmus Teutsch
(1668) gestaltet hat, stellt dabei, allerdings in der oben
bezeichneten burlesk-travestierenden Art und Weise eines
spöttisch-derben Stils, eine Parodie des ▪
petrarkistischen Schönheitspreises dar (vgl.
Willems 2012,
Bd. I. S.235), ist aber i. e. S. keine antipetrarkistische Gestaltung,
die es ästhetisch mit einem bestimmten
Prätext aufnehmen und
diesen gar noch übertreffen will, sondern dient
satirischen Zwecken.
Erotischer Petrarkismus und
der auf ihn bezogene Antipetrarkismus stützen sich dabei auf ein gemeinsames
Reservoir fester Stereotypen und klischeeartiger Vorstellungen und
rhetorischer Strategien, die insbesondere in die ▪
barocke Liebeslyrik Eingang gefunden
haben.
Bei
der Frauenbeschreibung bzw. dem sogenannten Schönheitspreis zeigenn sich
solche Rollenstereotype zur Frauen- und Männerrolle in besonderer Weise als
Kernelemente petrarkistischer Bildsprache. Ihre stets mehr
oder weniger gleichen Stereotypen sind u.
a.folgende: "Das Antlitz ist Diamant, die Wangen sind Rosen, die Haare Gold,
die Brüste Marmorbälle" (Szyrocki
1968b, S.18f.) und auf die Röte der Lippen verweisen Korallen, weißer Schnee auf die Haut,
Bäche auf Tränen und Marmor und andere Steine auf die Herzenskälte und
Unnahbarkeit der Geliebten. (vgl.
Niefanger
2006, S.109)
Und "die überschönen, blind machenden, tötenden Augen" (Szyrocki
1968b, S.18f.)
der Angebeten und Begehrten werden mit Edelsteinen oder Quellen verglichen. (vgl.
Niefanger
2006, S.109)
Solche stereotype Vorstellungen über das Äußere von Frauen
sind dabei begleitet von Vorstellungen, die bestimmte Metaphern
repräsentieren, wenn z. B. die "Liebe als Kampf, Feuer, Leben und Tod"
dargestellt wird. (Meid 2000.,
S.28)
Eine sich ständig selbst überbietende
Naturmetaphorik, die der unerhörten Liebe
eine geradezu kosmische Dimension verleiht, gehört ebenso zum
petrarkistischen System wie verschiedene
Trostmotive (Träume und Erinnerungen an die Geliebte) oder die
Darstellung von Rückzugsmöglichkeiten
für den Sänger, der weit weg von der Geliebten, meistens in Einsamkeit, Ruhe
und Besinnung erlebt. (vgl.
Niefanger
32012,
S.119)
Ihre Bildlichkeit und die Technik ihrer Verknüpfung ist dem
kompetenten, d. h. entsprechend gebildeten, barocken Hörer/Leser jedenfalls im Grundsatz vertraut und erscheint ihm - das
scheint ihr eigentlicher Reiz für ihn zu sein -
aber durch die Vielfalt der kombinatorischen Möglichkeiten stets auch wieder
verfremdet (vgl.
Herzog 1979, S.52)
Der dialektische Bezug von Petrarkismus und
Antipetrarkismus
Das in der
Tradition des petrarkistischen Schönheitspreises stehende Lied ▪
An eine vortreffliche schöne und Tugend begabte Jungfraw (Nr. 131)
ist zugleich ein Beispiel für einen ▪
manieristischen Stil, der einen klaren Hang zu überzogener "Artistik"
der Darstellung aufweist, von von regelrecht gesucht wirkenden Bildern und
rhetorischen Gestaltungsmitteln und allerlei Chiffren strotzt, die sich nur
einem kompetenten zeitgenössischen, in dieser Bildsprache und ihrer Rhetorik
bewanderten Leser erschließen. Es schickt damit seinen Sänger und die
Zuhörer*innen quasi auf eine Art einer Entdeckungsreise mit eingebauten
Wiedererkennungseffekten, bei der sie genussvoll den Sinn von
Hyperbeln,
Synästhesien oder
Oxymora, die Bedeutung von Fremdwörtern
erkennen, gelehrte
Anspielungen auf die
antike Mythologie entschlüsseln und oft noch lateinische Satzfragmente
übersetzen soll.
In der
dialektisch aufeinander bezogenen Bildsprache beider Gedichte liegt dabei
auch der besondere Reiz der Lieder, wenn sie von ihren Sängern nacheinander
präsentiert wurden. Zugleich ist auch ein ironisierender Grundton schon beim
petrarkistischen Schönheitspreis zu erkennen. Die Häufung von Diminutiven
wie z. B. Münd-lein, Zähn-lein, Züng-lein, Hälß-lein, Aermlein oder
Brüstlein, sowie die z. T. sehr gekünstelt wirkenden Vergleiche wie
z. B. "Brüstlein wie zween Zucker-Ballen",
machen den Schönheitspreis selbst zu einem bloß der Unterhaltung dienenden
Spiel, das den Kontrast zu dem nachfolgenden Hässlichkeitslob in dem Lied
▪
An eine sehr häßliche Jungfraw (Nr. 132)
verstärken soll, indem jedes Element des Schönheitspreises antipetrakistisch
umgedeutet erscheint.
An eine
vortreffliche schöne vnd Tugend begabte Jungfraw (Nr.131) |
An eine sehr häßliche Jungfraw
(Nr. 132) |
Gelbe Haare, güldne
Stricke |
Grawes Haar voll Läuß vnd
Risse |
Tauben-Augen, Sonnenblicke |
Augen von Schablack1,
von Flüsse |
schönes Mündlein von Corallen, Zähnlein, die wie Perlen fallen |
blawes Maul voll kleiner
Knochen, halt verrost vnnd halb zerbrochen |
Lieblichs Zünglein in dem
Sprachen |
Blatter=Zunge2, kranck zu
sprachen, |
süsses Zörnen |
Affischs=zörnen3 |
süsses Lachen |
Narren=lachen |
Schnee- und Lilgen weisse Wangen,
die voll rohter Rosen hangen |
Runtzel volle mager Wangen, die wie
gelbe Blätter hangen |
Weisses Hälßlein, gleich
den Schwanen |
Halß=Haut gleich den
Morianen4 |
Aermlein, die mich recht gemahnen,
wie ein Schne, der frisch gefallen |
Arme, die mich recht gemahnen, wie ein
Kind ins
Koth5 gefallen, |
Brüstlein wie zween Zucker-Ballen |
Brüste wie zween Drucker=Ballen6
|
Lebens voller Alabaster |
Du bist so ein Alabaster7,
als en wohlberegntes Pflaster |
grosse Feindin aller Laster, frommer Hertzen schöner Spiegel |
aller Ungestalt ein Spiegel |
aller Freyheit güldner Zügel |
aller
Schönen Steigebügel8 |
Außbund
aller schönen Jugend |
Schimpff der Jungfern vnd
der Tugend |
auffenthaltung aller Tugend, |
Unhuld aller lieben
Tugend |
Hoff=statt aller edlen Sitten |
Einöd aller plumpen Sitten |
jhr habt mir mein Hertz bestritten |
lästu dich zum freyen bitten |
Worterklärungen
1
Schablack: Zum Restaurieren von alten
Möbeln wird Schellack verwendet. Lackharz bezeichnet, ist
eine harzige Substanz, die aus den Ausscheidungen der Lackschildlaus
Kerria lacca (Pflanzenläuse, Familie Kerridae) nach ihrem Saugen an
bestimmten Pflanzen gewonnen wird.
2
Blatter-Zunge:
Zunge, die von den Pocken entststellt ist; Pocken sind eine für den Menschen äußerst gefährliche und
lebensbedrohliche, sehr ansteckende Infektionskrankheit, die von
Pockenviren (Orthopox variolae) verursacht wird; das für die
Erkrankung typische und namensgebende Hautbläschen wird als
Pocke oder Blatter bezeichnet; typischer Krankheitsverlauf:
"Nach einer anfänglichen Fieber-phase, der eine Inkubationszeit
von durchschnittlich zwölf Tagen vorausgeht, zeigen sich kleine
bis linsengroße rötliche Flecken, die sich vom Kopf ausgehend
über den ganzen Körper ausbreiten. Diese entwickeln sich im
Verlauf weniger Tage zu Knötchen (Papeln) und dann zu
perlmutterartig glänzenden Bläschen (Vesikeln). Die zunächst mit
klarer, eiweißhaltiger Flüssigkeit (Lymphe) gefüllten Blattern
beginnen um den achten Krankheitstag herum zu vereitern."
(Jütte
(2013): Krankheit und Gesundheit in der Frühen Neuzeit,
Kindle-Version); wenn die Krankheit besonders schwer und
meistens tödlich verläuft (variola haemorrhagica), kommt es zu
heftigen Blutungen, die auf der Haut als blauschwarze Flecken in
Erscheinung treten (volkstümliche Bezeichnung: »Schwarze
Blattern«); Erkrankte starben dabei meistens binnen einer Woche;
bei der häufigsten Form der Pocken (variola major) lag die
Sterblichkeit, als es noch keine Immunisierung durch eine
Schutzimpfung gab, bei 20 bis 40 Prozent; Pocken galten
jahrhundertelang neben der Pest als die Hauptgeißel der
Menschheit, weil die Sterblichkeitsrate ziemlich hoch war und
die Krankheit insbesondere unter Kindern wütete; wer die
Krankheit überlebte, war oft für das ganze Leben entstellt. Der
englische Geschichtsschreiber Thomas Macaulay (1800–1859)
liefert eine dramatische Schilderung dieser Seuche: »Die Pocken
waren immer da, füllten die Kirchhöfe mit Leichen, peinigten den
Verschonten mit ständiger Angst, hinterließen an dem mit dem
Leben Davongekommenen die scheußlichen Spuren ihrer Macht,
verwandelten den Säugling in einen Wechselbalg, vor dem die
eigene Mutter zurückprallte und ließen die Wangen der Verlobten
dem Bräutigam zur Abscheu werden.« (zit. n.
Jütte 2013, ebd.); es waren neben den für jeden sichtbaren
Spätfolgen vor allem der schnell eintretende Tod, den die
Menschen früher besonders fürchteten; das einzige wirksame
Mittel gegen die Pocken ist bis heute die »Pockenimpfung;
Menschen, die in der Frühen Neuzeit ein wegen einer früheren
Pockenerkrankung von zum Teil kraterförmigen Narben (= sog.
"Blattersteppen") entstelltes Gesicht hatten, gab es viele, und
die anderen Menschen bekamen sie oft zu sehen; wer ein
pockennarbiges Gesicht hatte, besaß sowohl als Frau als auch als
Mann geringere Heiratschancen; verringerte übrigens nicht nur
bei Frauen, sondern auch bei Männern die Heiratschancen;
im Übrigen wütete die Krankheit unter allen
Bevölkerungsschichten.
3
Affischs=zörnen: affisch = affenartrig, läppisch; zörnen = mürrisch,
beleidigt sein
4
Morianen: Moriane = von Mohr (= Menschen mit schwarzer bzw.
dunkler Hautfarbe); im 16. Jahrhundert in Gelehrtenkreisen verwendete
Weiterbildung des Wortes Mohr
5 Koth: h.
wohl im Sinne von: Dreck, Modder
6
Drucker-Ballen:
»Druckerballen
sind mit glattem Leder überzogene Ballen, mit welchem die Drucker
die aufgestrichene Farben auf die Formen, besonders beim Buch- und
Kupferdruck, bringen;
7
Alabaster:
»Alabaster:
ist eine sehr häufig vorkommende, mikrokristalline Varietät
des Minerals Gips, je nach Fundort weiß, hellgelb, rötlich, braun
oder grau; besitzt optisch eine gewisse Ähnlichkeit mit Marmor,
fühlt sich aber als schlechter Wärmeleiter im Gegensatz zu diesem
warm an; außerdem ist er im Unterschied zu Marmor nur bedingt
wetterfest, zersetzt sich also witterungsbedingt schnell und wird
dann unansehnlich; in der Bildhauerei ausschließlich für
Innenraumobjekte genutzt.
8
Steigebügel:
»Steigbügel
(Reiten) die Fußstütze für einen Reiter, die in Höhe der Füße
seitlich vom Reittier (z. B. einem Pferd) herabhängt; als Rolle (»Steigbügelhalter),
Bezeichnung für eine Person, die einem anderen die Steigbügel
festhält, um es diesem zu erleichtern, in den Sattel zu kommen.
heute in der Politik häufig abwerten verwendet für Politiker, die
selbst eine geringere Rolle spielen, aber der als Gegner angesehenen
Partei helfen, an die Macht zu kommen;
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023
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