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Fremdheitserfahrungen thematisieren
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Vanitas-Lyrik: Didaktische und methodische Aspekte
Die ▪
Literaturepoche
des ▪ Barock
bietet trotz ihrer auf den ersten Blick so weit entrückten Zeit
besonders reizvolle didaktische Möglichkeiten für die Arbeit im
Literaturunterricht. Allerdings muss man auch sehen, "dass sich die
Barockzeit durch eine große Fremdartigkeit ihrer Texte und Denkweisen
auszeichnet" (Niefanger
32012, S.1).
Die Literaturdidaktik wird bei der
erforderlichen didaktischen Reduktion daher auch stets bemüht sein, jene
Aspekte, die Poetik, Rhetorik, Politik und Philosophie der Barockzeit
betreffen, mit großer Sorgfalt und Bereitschaft zu umfangreichen
Hilfestellungen mit Hilfe von Übersichten. Übersetzungen und
Worterklärungen zu geben, um unnötige Verständnisbarrieren abzubauen und
eine Vielfalt von Zugängen zu den Texten und den Besonderheiten der
Epoche zu ermöglichen.
Erfahrungen kognitiver
Dissonanz berücksichtigen
Grundsätzlich ist
aber davon auszugehen, dass den Schülerinnen und Schülern barocke
Texte, die barocke Gesellschaft, und das barocke Lebensgefühl, um
nur wenige Aspekte zu nennen, fremd und in vielem unverständlich
vorkommen. Sie können daher oft mit der von solchen Texten
ausgelösten »kognitiven
Dissonanz, d. h. die Erfahrung, dass das, was man gelesen hat,
einfach nicht so kognitiv zu verarbeiten ist, wie man das gewohnt
ist, nicht ohne Hilfe umgehen. Um Frustrationen zu vermeiden und die
Motivation und
volitionale
Bereitschaft, sich auf das Fremdartige einzulassen, zu stärken,
muss der Literaturunterricht der Tatsache bewusst sein, dass den
Schülerinnen* im Umgang mit den literarischen Zeugnissen des Barock
im Allgemeinen die bewährten Muster fehlen, mit denen sie dem
Gelesenem Bedeutung bzw. Sinn zuschreiben.
Dazu
sollten die ▪
Fremdheitserfahrungen thematisiert werden, die von Schülerinnen
gemacht werden und zur "Spurensuche" genutzt werden, um zu einem
vertieften Textverständnis zu gelangen. Dabei muss auch reflektiert
werden, welche Form von Fremdheitserfahrung die Grundlage der
kognitiven Dissonanz darstellt.
Bei Texten aus dem
Barock dürften vor allem die ▪
alltägliche und die ▪strukturelle
Fremdheit von Bedeutung sind.
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Alltägliche Fremdheit erlebt man beim Lesen eines Textes, wenn man spürt,
dass man Wissenslücken hat, von denen man
aber zugleich weiß, wie man sie z.B. durch den Einsatz von Lexika oder mit
Hilfe des Internets schließen kann.
Bei einem fiktionalen oder nicht-fiktionalen Text
aus dem Barock kann es dabei um Dinge gehen wie die Bedeutung und Lokalisierung geografischer Angaben, um
historische Bezüge und Fakten und um die Namen von Figuren u. ä. m., die
in den Texten vorkommen.
Wird die Wissenslücke z. B. bei einem fiktionalen Text
geschlossen, werden durch den Lernzuwachs über die dargebotene
fiktionale Wirklichkeit auch neue Bezüge möglich, die zu einer
möglichen Rekontextualisierung des Textes in
seinen "ursprünglichen" Zeitbezügen bzw. Kontexten beitragen kann. (vgl.
Leskovec 2010,
S. 240)
-
Strukturelle Fremdheit gründet,
so Leskovec (2010,
S.241) im Anschluss an
Waldenfels
(1999, S.91), "auf der Scheidung in 'Heimwelt' und 'Fremdwelt'. Was
einem fremd erscheint, steht dabei "außerhalb der eigenen Ordnung" (ebd.
S.241).
Das unterscheidet sie auch von der alltäglichen Fremdheit, die "innerhalb der eigenen
Wirklichkeitsordnung (verbleibt)" und deren "Lücken" so geschlossen werden
können, dass das Fremde in die eigenen
Schemata des
Denkens
und Fühlens
integriert werden können.
Was einem hingegen strukturell fremd ist, kann man sich nicht mit dem
Rückgriff auf gespeicherte "Wahrnehmungsgestalten und Handlungssituationen"
(Waldenfels
(1999, S.91, zit. n.
ebd.), auf
Schemata aller Art, anverwandeln
und damit ohne weiteres in seine vorhandenen Schemata einpassen.
Entsteht dieses Gefühl im Umgang mit Literatur, so resultiert
dort genauso wie in anderen Zusammenhängen, Unsicherheit, weil
die Sinnfindung erschwert ist.
-
Dazu kommt noch, dass
man das Gefühl struktureller Fremdheit oft gar nicht so
leicht artikulieren und dann darüber kommunizieren kann.
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Statt diese Fremdheitserfahrung also zu thematisieren, geht man
den daraus resultierenden Irritationen und Blockaden lieber
dadurch aus dem Weg, dass man eine Abwehrhaltung einnimmt, die
von der totalen Ablehnung so "doofer" "schräger", ja "sinnloser"
Texte bis hin zu der vehementen Abwehr so "negativer" und
"irgendwie bedrückender" Geschichten reicht. Alles letztlich
nichts anderes als eine "kognitive
Distanzierung", weil wir Fremdheit dem zuschreiben, "was die
Erwartungen auf einen vertrauten Verlauf der Dinge enttäuscht." (
Waldenfels 1999, S.91, zit. n.
ebd.)
Die gute Nachricht: Wer im Umgang mit literarischen Texten häufiger
Erfahrungen mit struktureller Fremdheit macht, kann dies, sofern die nötige
Bereitschaft dafür vorhanden ist, durch Lernen und Umgewöhnung ändern.
(vgl. Waldenfels
(1999, S.92, zit. n.
ebd.)
Dazu gehört aber in jedem Fall, dass man die Tatsache, dass ein fiktionaler
Text strukturelle Fremdheit erzeugen kann (vgl.
Jahraus 2004, S.21) zunächst einmal akzeptiert, ohne die davon
ausgelösten Irritationen prinzipiell abzuwehren. Wer bereit ist, sich
intensiver mit dem Text selbst auseinanderzusetzen und ggf. zusätzliche
Informationen zum Text recherchiert und heranzieht, kann seine Spurensuche
am Ende vielleicht mit neuen, vertiefteren Erkenntnissen über den Text und
seine Bedeutung und positiven Gefühlen beenden. Aber auch die Spurensuche
braucht Frustrationstoleranz: Gerade ▪
moderne Parabeln verweigern sich
häufig allen Formen von Sinngebung und sorgen damit dafür, dass "sich strukturell Fremdes" aller möglichen Kontextualisierungsbemühungen zum Trotz "nur bedingt auflösen lässt." (Šlibar
2005, S.82, zit. n.
Leskovec (2010)
Im Übrigen kann die
fehlende Bearbeitung von Fremdheitserfahrungen bei einer
produktorientierten, individuell anzufertigenden Textinterpretation auch zu ▪
Schreibschwierigkeiten und Schreibstörungen im
▪
Schreibprozess
führen, denen bei der Bewältigung von
Leistungsaufgaben im
Leistungsraum von den Schülerinnen und Schülern auch mit den
herkömmlichen ▪
Gegenstrategien
nicht so ohne Weiteres beizukommen sein dürfte.
Die Spurensuche kann damit beginnen, sich damit zu
befassen, was und warum etwas den Text, mit dem man es zu tun hat,
so fremd erscheinen lässt. Dazu gilt es Inhalte und Strukturen der Fremdheit
zu
thematisieren, die vom Text evoziert werden. (vgl.
Waldenfels 1998,
vgl.
Leskovec 2010.
S.240)
Die Literaturdidaktik wird bei der
erforderlichen didaktischen Reduktion daher auch stets bemüht sein, jene
Aspekte, die Poetik, Rhetorik, Politik und Philosophie der Barockzeit
betreffen, mit großer Sorgfalt und Bereitschaft zu umfangreichen
Hilfestellungen mit Hilfe von Übersichten. Übersetzungen und
Worterklärungen zu geben, um unnötige Verständnisbarrieren abzubauen und
eine Vielfalt von Zugängen zu den Texten und den Besonderheiten der
Epoche zu ermöglichen.
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Fremdheitserfahrungen thematisieren
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Vanitas-Lyrik: Didaktische und methodische Aspekte
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023
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