Für »Michel Foucault
(1926-1984) ist • Diskurs im Gegensatz zur •
alltäglichen Verwendung des Begriffs nicht
einfach Diskussion oder eine Ansammlung von Wissen zu einem
bestimmten Themengebiet, sondern eine
"eine Praxis des Denkens, Schreibens, Sprechens und auch Handelns" (Parr
2014, S.234) (ebd.).
Zu dem Bündel von Komponenten, die unter diese Praxis fallen, gehören "Verfahren der Wissensproduktion wie Institutionen,
Sammlung, Kanalisierung, Verarbeitung, autoritative Sprecher, Regelungen
der Versprachlichung, der Verschriftlichung und der Medialisierung."
(Gerhard/Link/Parr
32004, S.118).
Dazu gehören also als diskursrelevant
auch • Gegenstände, die nicht in sprachlicher Form
ausdrücken, worauf es ihnen ankommt. Sie vertreten •
in materialisierter
Form "Wissensordnungen und Wahrheiten, die nicht mehr diskursiv
zirkulieren" (Hoffarth
2012, S.214). Damit sie wirken, müssen sie sich nicht mehr
in diskursiv sprachlicher Form zu Wort melden, d. h. was sie bedeuten,
muss also nicht mehr ausdrücklich gesagt werden.
Mit diesem Ensemble erzeugen und strukturieren sie als soziale
Praktiken die Realität, zu der sie gehören und in der wir leben. Zugleich führen sie
auch dazu, dass wir uns als Teil einer bestimmten Kultur sehen, weil sie uns das Gefühl
geben, zu dem "kulturellen ›Wir‹"
dazuzugehören. (vgl.
Hoffarth
2012, S.214)

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Wenn
Foucault Diskurse »als
Praktiken« (Foucault
1981, S.74) auffasst, hat dies zur Folge, dass neben sprachlichen auch außersprachliche Phänomene (z.B. symbolische Ausdrucksformen und
gesellschaftliche Praktiken) bei der Diskursanalyse berücksichtigt
werden können.
Hinter dem Begriff des Diskurses als
• diskursive
Praxis steht die wissenssoziologische Vorstellung Foucaults,
dass Praktiken, im weitesten Sinn also alles Handeln und Empfinden,
ebenso wie Theorien und Institutionen auf der gleichen Ebene
liegen, wenn man die ›Schicht des konstitutiven historischen
Wissens‹ • ›archäologisch‹ (Foucault)
• "freilegen" will.
In den Fokus rückt damit "das gesamte Ensemble
von Verfahren der Wissensproduktion" (Gerhard/Link/Parr
32004, S.118), wobei Wissen für Foucault im Grunde
"dasjenige (ist), worüber in diskursiven Praktiken gesprochen
werden kann." (Fink-Eitel
1989/42002, S. 58)
Auf Grundlage dieses
Begriffs von "Praxis" können diskursive
und nicht-diskursive
Praktiken voneinander unterschieden werden. Zugleich ermöglicht er
auch, dass die • Diskurs- und die •
Dispositivanalyse
so miteinander verbunden werden, dass gesellschaftliche Machtstrukturen
und -strategien in den Fokus gerückt werden. (vgl. Gille
2012, S.170f.)
In Form solcher Praktiken, mitunter auch als Praxen
bezeichnet, die "individuelle und kollektiv legitimierte
Verhaltensweisen" (Hoffarth 2012,
S.214) umfassen, werden bestimmte Zusammenhänge hergestellt, die unsere
Kultur ausmachen. Wofür sie stehen, setzt sich allerdings
nicht automatisch durch. Damit sie ihre Wirkung entfalten können, müssen
sie als "Formen des ›So-machen-wir-das-hier‹
(vgl.
Hoffarth 2009) immer wieder wiederholt werden.
Wenn man den gleichen Gedanken anders akzentuiert, kann man mit
Keller
(2005/22008, S.250, zit. n.
ebd.)
"Praxen" auch verstehen als "sozial
konventionalisierte Arten und Weisen des Handelns, also
typisierte
Routinemodelle für Handlungsvollzüge, die von unterschiedlichsten
Akteuren mit mehr oder weniger kreativ-taktischen Anteilen aufgegriffen,
›gelernt‹, habitualisiert und ausgeführt werden“.
-
Als
diskursive Praktiken
werden z. B. wissenschaftliche Aussagen, philosophische,
moralische oder philanthropische Lehrsätze, Gesetzestexte, literarische
Texte etc. bezeichnet.
-
Als
nicht-diskursive Praktiken
werden hingegen symbolische Ausdrucksformen, gesellschaftliche,
technische, institutionelle, ökonomische oder politische Praktiken z. B.
in Form von Institutionen, Parteien, Medien, architekturale Elemente wie
z.B. bestimmte Raumordnungen einschließlich der großräumigen
Städteplanung. Es kann aber, räumlich kleinformatiger gedacht, im
Klassenzimmer die Art der Aufstellung der Schülerarbeitstische sein, in
Unternehmen die Lage und die Größe der Büros, die die betriebliche
Hierarchie ausdrücken, es kann aber genau so die Kleidung sein (Anzug
vs. Blaumann, weißer Arztkittel vs. grüne Arbeitskleidung des
Pflegepersonals), die PS-Zahl des Firmenwagens u.ä.m.
Um sich den Unterschied zwischen
diskursiven und
nicht-diskursiven Praktiken zu verdeutlichen, deren begriffliche
Grenzen nicht so einfach zu ziehen sind, kann man z. B. darauf zurückgreifen, was uns
das Gefühl gibt eine Frau oder ein Mann zu sein vermittelt, ohne dass wir es sprachlich
ausdrücken müssen.
Dieses, den
meisten so ganz und gar selbstverständlich erscheinende "Gefühl des ›Frau- oder Mann-Seins‹“ (Gille
2012, S.174.) ist uns, ohne dass dazu offensichtlich noch
irgendetwas zu sagen ist, anscheinend so "›in Fleisch und
Blut‹ übergegangen", dass es "nicht mehr diskursiv verhandelbar"
(ebd.)
erscheint.
Allerdings handelt es sich, was die Analyse des
Diskurses über das menschliche Geschlecht •›archäologisch‹ "freilegt", lediglich "um sedimentierte Diskurse einer
diskursiv-performativ konstruierten Geschlechterbinarität, die
normativ über eine entsprechende
Performanz und beständige
Wiederholung der zugrunde liegenden Normen hergestellt werden
muss." (ebd.)
Einfach
reformuliert: Im Zusammenhang mit •
nicht-diskursiven Praktiken geht es nicht mehr um kontrovers
erörternde Gespräche und alternative Verhaltensweisen im
Zusammenhang mit Geschlechterrollen, deren Komponenten quasi
ungesagt durch bestimmte Handlungen und die ständige
Wiederholung dieser Handlungen aufrechterhalten werden.
Die Normen und
Ideale, die diesen Vorstellungen von einer vermeintlich
"natürlichen" Existenz von zwei Geschlechtern zugrunde liegen,
sind allerdings "lediglich Phantasmen, Vorstellungen, zu denen
kein Original existiert (vgl.
Butler 2003: 155-159). Das
ständige Zitieren und Wiederholen der zweigeschlechtlichen Norm
ist dabei bereits ein Indiz für die Brüchigkeit des Konstrukts."
(Gille
2012, S.174) Wie es kommt, dass wir der als das "Normale"
internalisierten Vorstellung von der Geschlechterbinarität
dennoch folgen und die Frage, welche Mächte dabei im Spiel sind,
darum geht es, wenn Dispositive, ebenso ein Konstrukt wie der •
Diskurs oder die Zusammenhänge von •
Macht und das Wissen
untersucht werden.
Diskursive und nicht-diskursive Praktiken,
manchmal auch einfach als Praxen oder soziale Praktiken
bezeichnet, unterscheiden sich nicht
nur voneinander, sondern stehen auch in einer bestimmten Beziehung
zueinander.
Die diskursiven Praktiken bestimmen und erzeugen als •
Aussageformationen/Aussagesysteme (•
Episteme) eben auch die nicht-diskursiven Praktiken und beide
zusammen schaffen unsere soziale Realität.
Wie die Beziehungen diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken aussehen,
hat Foucault immer wieder beschäftigt und so hat er sie an verschiedenen
Diskursen analysiert und dabei stets die •
Macht (Machtstrukturen,
Machtbeziehungen) bzw. eine Art unsichtbar wirkende •
Instanz im
Auge gehabt, die sich mit dem diskursspezifischen
Wissen zu •
Macht-Wissens-Komplexen bzw. •
Dispositiven der Macht verbinden.
So hat er z. B. auch die diskursiven
Beziehungen zwischen diskursiven Praktiken bzw. Aussageformationen oder
• Aussagesystemen
(Beispiel: Psychopathologie) und nicht-diskursiven Praktiken bzw.
"Inhaltsformationen" (z. B. Irrenanstalt)" (Fink-Eitel
1989/42002, S. 59) untersucht.
Diese zeichneten sich
dadurch aus, dass sie in sich dadurch "gedoppelt"
seien. So hätten sie selbst eigene diskursive Ordnungen wie die
nicht-diskursiven z. B. die Anstaltsordnungen, und die diskursiven, z. B.
die hierarchisch angeordnete Krankenvisite. (vgl.
ebd.)
Diskurse sind
keine bloßen Äußerungen vorhandenen Wissens unter bestimmten
Rahmenbedingungen, sondern
erzeugen und strukturieren mit unterschiedlichen Praktiken die
Realität, zu der sie gehören, insofern besitzen sie eine
produktive Seite.
Diskurs- oder
Formationsregeln bestimmen darüber, welche Aussagen gemacht, mit
welchen Worten und Begriffen und in welcher Art und Weise sie
vorgebracht gemacht werden und legen fest, ob sie zu einem
bestimmten Diskurs zugelassen werden. Entscheidend ist dabei
also nicht mehr der Mensch bzw. das •
Subjekt, das frei über das
entscheiden kann, was es wann wie oft und wie sagen will,
sondern die Formationssysteme, die eben nicht nur Diskurse
prägen, sondern auch unser inneres und äußeres Leben als
Subjekt.
Ganz praktisch
gedacht, können wir "als einzelne Subjekte zwar unsere Meinungen
(äußern), aber wir können es nur in der Weise tun, wie es der
Funktion im herrschenden Diskurs entspricht. Wir können immer
nur das sagen, was sich innerhalb der Grenzen des
vorherrschenden Diskurses sagen lässt." (Ziegler
2019, S.26)
Das geht so weit
– und hier scheiden sich oft die Geister – dass selbst die völlige
Meinungsfreiheit, die in modernen Demokratien
verfassungsmäßig garantiert ist, nach Foucault nicht mehr als eine Illusion darstellt.
Schließlich "erfolgt jeder
individuelle Diskursbeitrag", so Ziegler weiter, "nur innerhalb bestimmter
gesellschaftlich konstituierter Strukturen, wie der Grammatik
unserer Sprache, den Sitten und Gepflogenheiten unseres Landes,
dem politischen System, der gelernten Moral, der gängigen
Überzeugungen, der pädagogischen Erziehungsstile, der
vorherrschenden Ästhetik und somit all der Axiome, die wir
gerade für wahr halten – kurzum innerhalb der Struktur des
›konstituierenden Wissens‹ unserer Zeit."
(ebd., S.27f.) Hinzukommt, dass das jeweils vorhandene
Wissen den Anspruch auf absolute Wahrheit erheben kann. So gelte
eben nur das und das könne auch gar nicht anders sein, was in
einer bestimmten Zeit für wahr gehalten werde.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
22.03.2025
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