Um zu
verstehen, welche Bedeutung das Konzept der Materialität
besitzt, lohnt es sich einen kurzen Blick in die europäische
Geschichte der Erkenntnis (»Epistemologie)
und des Wissens zu werfen.
Seit »Platons
(428/427- 348/347 v. Chr.)
Ideenlehre und dem Hylomorphismus
von
Aristoteles (384-322 v. Chr.) dominierte "die intelligible
Idee über den sinnlichen Körper, die Repräsentation über die
Präsenz". (Stellmann/
Wagner 2023, S. XXIV) Vereinfacht gesagt: Die Vorstellungen,
die wird uns über die Welt machen haben größeres Gewicht als die
Dinge der Welt selbst.
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Die »Ideenlehre
Platons besagt, dass die wahre Wirklichkeit in einer
transzendenten Welt der Ideen liegt. Platonische Ideen sind
beispielsweise "das Schöne an sich", "das Gerechte an sich"
oder „der Mensch an sich“. Ideen sind ewig, vollkommen und
die Urbilder aller Dinge. Die sinnliche Welt ist nur ein
unvollkommenes Abbild. Wahre Erkenntnis entsteht durch das
Erfassen der Ideen, nicht durch Sinneserfahrung. Die höchste
Idee ist die Idee des Guten. Mit seinem berühmten »Höhlengleichnis
verdeutlicht er den Weg zur rein geistigen Welt des Seins
und der unwandelbaren Ideen als Aufstieg aus einer
unterirdischen Höhle, die als Ort die Sphäre der sinnlich
wahrnehmbaren Welt der vergänglichen Dinge symbolisiert.
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Der »Hylomorphismus
(von griech. »hylē
= Materie, morphē = »Form)
besagt, dass jedes materielle Ding aus »Materie
(hylē) und Form (morphē) besteht. Die Materie ist das
potenzielle Grundmaterial, während die Form die
aktuelle Struktur oder Essenz eines Dings bestimmt. Dieses
Prinzip erklärt, wie physische Objekte existieren und sich
verändern. Form und Materie wurden daher als
Prinzipien des Seienden bezeichnet.
In der christlichen Theologie wurde diese Vorstellung von der Dominanz
der Idee über die Materie noch weiter zugespitzt, indem man z. B.
erklärte, "dass die Materie bzw. der Körper ein 'totes' Substrat [...]
bildet, das erst von der Seele [...] belebt wird." (Stellmann/
Wagner 2023, S. XXIV) Auf diese Weise wurde Fühlen, Denken und
Sprechen, sondern auch Streben, Bewegen und Handeln einzig die Sache von
Körpern, die von einer Seele belebt wurden.
Dagegen geht das Konzept der Materialität an. Es stellt nämlich "die
unbelebten Dinge und Körper epistemologisch (mehr oder weniger)
gleichberechtigt neben die beseelten Lebewesen, und zwar insbesondere
die Menschen". (ebd.)
Insofern vollzieht es den so genannten »material
turn (engl., deutsch etwa Wende zum Material). Diese
transdisziplinäre diskursive Bewegung zielt auf die Zunahme der
Gewichtung der materiellen Kultur in den Geistes- bzw.
Kulturwissenschaften. Dabei wird vermehrt die Frage gestellt, wie Wissen
in kulturell geschaffenen und verwendeten Objekten oder Dingen wirkt.
Der Begriff ist – wie auch derjenige des »iconic
turn – in Analogie zum »linguistic
turn gebildet. (vgl.
Wikipedia)
Das Konzept der Materialität strebt u. a. an, "die Höherrangigkeit der
Form gegenüber dem Stoff, der Seele gegenüber dem Körper sowie des
Rationalen gegenüber dem Sinnlichen zu überwinden. Seinen bekanntesten
Ausdruck findet dieses Ziel in dem Vorschlag, die 'Dinge
zum Leben zu erwecken'." (Stellmann/
Wagner 2023, S. XXIV) ) Insbesondere lehnt es die Vorstellung ab,
die "Dinge" bzw. die Materie oder das Material spielten in der Praxis im
Grunde einen "passiven (und stummen) Part" als Rohstoff oder bloßer
Körper, die Wirkungen ausgesetzt seien und/oder Gestaltungen und
Handlungen durch den aktiven Part (das Subjekt, die Formung, den Geist /
die Seele) zu erleiden hätten. (vgl.
ebd.)
Im Gegensatz zu dieser in die Irre führenden Verknüpfung von
Materialität und Passivität, die der "Handlungspotenz der Dinge" (ebd.)
und dem "Zusammenwirken menschlicher und nicht-menschlicher Aktanten in
sozialen und Praxiskontexten" (ebd.)
ablehnend gegenübersteht, betont das Konzept der Materialität,
dass die materialen Dinge sehr wohl absichtsvoll, handlungsfähig und
womöglich sogar sprachbegabt sein können." (ebd.)
Auch wenn dies eine gewisse Verwunderung auslöst, "mag man sich an den
in den letzten Jahren gehäuft auftretenden Naturkatastrophen vor Augen
führen, die auf den Klimawandel und mithin eine spezifische Aktivität
der 'Naturdinge' – Wassermassen, Feuersbrünste – gerade im Zeitalter des
»Anthropozän
zurückzuführen sind. Tatsächlich verfolgen wichtige Vordenker der
Materialität wie »Jane
Bennett (geb. 1957) oder »Bruno
Latour (1947-2022) mit ihren Ansätzen dezidiert ökopolitische Ziele,
wenn sie den Anteil der Dinge (der Natur) im menschlichen Handeln nicht
nur sichtbar machen, sondern ebendiesen Dingen zugleich politische
Repräsentation [...] erkämpfen möchten, um die [...] Natur zu erhalten.
"(ebd.)
In seinem Buch "Parlament der Dinge" (2001/2010) hat der französische
Wissenssoziologe Bruno Latour gefragt, "ob und wie man nicht-menschliche
– wie soll man sagen: Wesen oder Akteure, er nennt sie Aktanten – in
demokratische Aushandlungsprozesse einbinden kann und ihnen damit – im
übertragenen wie wörtlichen Sinne – eine Stimme gäbe. Das wäre ein auf
die Natur erweiterter Gesellschaftsvertrag." (Leggewie
2024)
In die Diskurs- und Dispositivforschung ist das Konzept der
Materialität, ebenso wie in andere kultur- und sozialwissenschaftliche
Disziplinen eingegangen.
Sie hat dabei die von »Michel Foucault
(1926-1984) vorgenommene analytische Unterscheidung von •
diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken
aufgegriffen "und mit einem besonderen Fokus auf die materiellen
Elemente von Diskursen und Dispositiven (z. B. Aufschreibesysteme wie
Schreibmaschinen und Computer, Architekturen, Instrumente) zu einer
materiell orientierten Untersuchungsperspektive weiterentwickelt" " (Buhr
2022)
So gibt es diskursrelevante Gegenstände, die nicht in sprachlicher Form
ausdrücken, worauf es ihnen ankommt. Sie vertreten in ihrer materialisierten
Gestalt "Wissensordnungen und Wahrheiten, die nicht mehr diskursiv
zirkulieren" (Hoffarth
2012, S.214).
Damit sie wirken, müssen sie sich also nicht mehr
in diskursiv sprachlicher Form zu Wort melden, d. h. was sie bedeuten,
muss also nicht mehr ausdrücklich gesagt werden. Das Ungesagte ist dann schon nicht-diskursiv in
Gegenstände, d. h. die
(materialen) Körper eingeschrieben bzw. ist in diesen "verkörpert".
Solche Gegenstände stellen "materialisierte Facetten (des Ungesagten,
des nicht mehr Aussprechbaren) der Diskurse, welche quasi ihren
Aggregatzustand geändert haben" (Hoffarth
2012, S.214), dar.
Dieser Gedanke, versteht, um es salopp zu
sagen, auch "tote" Gegenstände als soziale Praxen/Praktiken.
Sie repräsentieren im Unterschied zum "Gesagten", dem in Gesetzestexten, Normen,
Verhaltensregeln u. v. m. sprachlich Fixierten, Nicht-Gesagtes in einem
Diskurs.
Was auf den ersten Blick etwas verwirrend erscheint, zeigt aber bei genauerem Hinsehen die Relevanz der Auffassung, dass ein Diskurs
• diskursive und nicht-diskursive Praktiken
vereint.
Dabei wird davon ausgegangen, dass neben sprachliche Aussagen auch Gegenstände als Materialisierungen
des Diskurses Geltungsansprüche erheben können. Wie jene können sie
"eine quasi-normative
Autorität (besitzen), da sie nicht allein die Wahrheit ihrer Erscheinung behaupten,
sondern darüber hinaus die Legitimität ihrer Anwesenheit selbst
(optisch, akustisch, olfaktorisch, haptisch wahrnehmbar)
repräsentieren." (ebd.)
Auf diese Weise entwickelt die Materialisierung eines Diskurses
ein erzieherisches Potential, das darauf beruht, dass es
"seinen Legitimierungserzählungen qua räumlich-körperlicher Erscheinung
'Platz hält'." (ebd.)
Wenn wir mit Gegenständen umgehen, sie nutzen oder physisch erleben,
werden damit schon bestehende, "vorherrschende Wissens- und
Erkenntnispraxen“ (Bührmann/Schneider
2008, S28, zit. n. (ebd.)
geformt.
Indem die materialisierten Gegenstände den Diskurs bzw. Themen und
Perspektiven des jeweiligen Diskurses quasi zu einem bestimmten
historischen Zeitpunkt und in einer bestimmten historischen Situation
"einfrieren" und konservieren, verdeutlichen sie auch die
historische
Bedingtheit des Diskurses, den sie als Gegenstände repräsentieren.
Die Materialität der Aussage besteht dabei nicht allein darin, dass sie
einen medialen Träger (z. B. Schrift, Buch, analoge oder digitale
Aufzeichnung) hat oder ein einmaliges raum-zeitlich situiertes
Artikulationsereignis ist.
Kennzeichen ihrer Materialität ist auch, dass
Aussagen wiederholbar sind und
dies
von
bestimmten institutionellen Bedingungen garantiert wird. Zudem
werden sie
von Anwendungsschemata und Regeln stabilisiert, die festlegen,
wie von den Aussagen Gebrauch gemacht werden soll. Zudem bestimmen sie
auch die Position einer Aussage im Verhältnis zu anderen Aussagen. Das
heißt: "Die Materialität, d. h. die Wiederholbarkeit einer Aussage,
manifestiert sich also in einem variablen Zusammenspiel von stofflichen
bzw. medialen, institutionellen und diskursiven Bedingungen." (Vogl
2014, S.227)
Nimmt man z. B. den Satz »Die Erde ist
rund«, dann weist dieser "vor und nach Kopernikus eine jeweils
andere materielle Konsistenz auf –
und das nicht, weil sich der Sinn seiner Wörter geändert hätte, sondern
weil der Bezug zu anderen Behauptungen, Beweisverfahren,
Beobachtungsverhältnissen ein anderer geworden ist." (ebd.)