▪
Perspektiven beim Erzählen
▪ Überblick
▪
Modelle der Perspektiven beim Erzählen
▪
Überblick
▪
Standort des Erzählers (point of
view)
▪
Erzählsituationen (Stanzel)
▪ Erzählformen und Erzählverhalten
(Petersen)
▪
Fokalisierung (Genette)
▪
Aspekte
der narratorialen und figuralen Perspektive (Schmid
▪
Schulische Erzähltextanalyse
Was unter
Perspektive und
Erzählperspektive
zu verstehen ist, ist in der Literaturwissenschaft bzw. ihrem besonderen
Zweig der »Narratologie
umstrittener denn je.
Im Literaturunterricht der Schule dominieren aber aus gutem Grund
bis heute Kategorien der
traditionellen, älteren
literaturwissenschaftlichen Erzählforschung. Dabei richtet sich die
Aufmerksamkeit im Gegensatz zur
neueren Erzähltheorie "auf die
formalen Facetten der Relation zwischen dem Erzähler und der erzählten
Welt" (Schmid
2011, S.138).
So wird
in der Schule vor allem auf die Arbeiten von »Franz
K. Stanzel (geb. 1924) (z. B.
Die typischen
Erzählsituationen im
Roman 1955,
Typische Formen des Romans 1964/1979,
Theorie des
Erzählens 1979) und »Eberhard
Lämmert (1924-2015) (z. B. Bauformen des Erzählens 1952/55) Bezug
genommen.
Was die beiden Literaturwissenschaftler erarbeitet haben, ist
in unterschiedlichem Maße auch bis in heute noch populäre Einführungen in die
Literaturwissenschaft eingegangen.
Wer hingegen ein im
Vergleich zu Stanzels Konzept "weitaus offeneres, programmatisch
dynamischeres und der erzählerischen Praxis in der Tat angemesseneres
Instrumentarium" (Jeßing/Köhnen
22007, S.189) bevorzugt, findet in der ▪
Erzähltextanalyse nach Petersen (1998),
eine kriterienorientierte Alternative zu dem triadischen Konzept von
Stanzel. Dabei kann die etwas ▪
vereinfachte Form der "Kategorientafel" (Petersen
1998, S.8), die Petersen an anderer Stelle (72006,
S.58) zusammengestellt hat, insbesondere für die ▪
schulische Analyse erzählender Texte nicht nur aus didaktischen
Gründen die elementaren Instrumente im "▪Werkzeugkasten"
bereitstellen.
Mittelbarkeit als Ausgangspunkt der Beschreibung eines Erzähltextes
»Franz
K. Stanzel (geb. 1924) hat seine Vorstellungen über das Erzählen vor
allem auf der Basis der sogenannten
Mittelbarkeit
des Erzählens durch einen Erzähler oder eine Erzählinstanz entwickelt
(Gegensatz dazu z. B. Erzählen als
Zustandsveränderung).
Der Erzähler ist für Stanzel ein (Aussage-)Subjekt, so
wie es auch bei den meisten Erzähltexten vom Leser wahrgenommen wird.
Diesen Subjektstatus besitzt der Erzähler selbst dann, wenn er wie z. B.
im Fall der ▪ Tierfabel
mit bestimmten anthropomorphen Eigenschaften ausgestattet ein Tier ist.
Die Mittelbarkeit ist für ihn das wichtigste Gattungsmerkmal
erzählender Text, die
sich im Erzählvorgang und dem erzählten Vorgang zeigt. Der Erzähler
spielt seine Mittlerrolle einerseits zwischen dem Autor und der
erzählten Geschichte, andererseits zwischen der Geschichte und ihrem
Leser.
Der reale Autor kommt in der Geschichte nicht selbst zu Wort.
Stattdessen beauftragt er den Erzähler als eine Art Stellvertreter.
Dieser Erzähler ist in der Regel fiktiv und die Beziehung zwischen
Erzähler und Autor lässt sich vereinfacht auf den Satz bringen: "Der
reale Autor erfindet, der fiktive Erzähler erzählt, was gewesen ist." (Scheffel
2006, S.106) So ist jeder "implizit dargestellte Erzähler ein
Konstrukt" (Schmid
2011, S.131)
Der Erzähler wird vom realen Autor mit bestimmten Fähigkeiten
ausgestattet, die ihm unterschiedliche Möglichkeiten zur Gestaltung der
Geschichte lassen. Es kommt vor, dass man den Erzähler quasi persönlich
zu fassen glaubt, aber genauso gut kann es sein, dass er sich so sehr
hinter das erzählte Geschehen zurückzieht, dass es den Anschein hat, es
gäbe ihn gar nicht.
Die typischen Erzählsituationen nach Stanzel
»Franz
K. Stanzel (geb. 1924) hat seine Vorstellungen über das Erzählen,
bei dem die Mittelbarkeit
des Erzählens durch einen Erzähler oder eine Erzählinstanz im
Mittelpunkt steht als sogenannte ▪
Erzählsituation konzipiert. Mit dieser komplexen Kategorie wird das
jeweils spezifische Zusammenwirken bestimmter Elemente des Erzählens
erfasst und beschrieben.
Sein Konzept der Erzählsituationen
hat Stanzel im
Verlauf von Jahrzehnten immer wieder überarbeitet (z. B.
Die typischen Erzählsituationen im
Roman 1955,
Typische Formen des Romans 1964/1979,
Theorie des
Erzählens 1979) und dabei mal drei, mal vier
▪ idealtypische Erzählsituationen
unterschieden. Ob drei
oder vier Erzählsituationen hängt dabei davon ab, ob den anderen dreien
(▪ auktoriale E., ▪
personale E. und ▪
Ich-Erzählsituation) eine ▪
neutrale Erzählsituation beigeordnet
wird, die sich von jenen unterscheiden lässt.
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Franz K. Stanzel (1964)
verwendet statt des Begriffs Erzählperspektive den der
Erzählsituation und manchmal wird,
meistens mehr oder weniger synonym, Erzählhaltung verwendet. Er tut dies
mit Bedacht, weil erstens sein Konzept sich nicht auf die
Erzählperspektive reduzieren lässt, und zweitens, der Begriff der
Perspektive bei Stanzel eine andere
eingeschränktere Bedeutung besitzt.
Das triadische Konzept Stanzels
Das ▪ Konzept der Erzäxhlsituation beruht bei Stanzel auf einer
Kombination (Triade) von drei Elementen (Konstituenten): Person,
Perspektive und Modus.
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In einem Kreismodell,
oft auch einfach "Erzählkreis" genannt, das diesen triadischen Ansatz ▪
visualisiert,
zieht Stanzel drei Gegensatzpaare als kategoriale Achsen ein, an deren
Ende auf dem Erzählkreis jeweils einer der beiden Pole liegt. Das
Kreismodell soll dabei vor allem den Systemcharakter seines Ansatzes
verdeutlichen.
Dabei werden die
typischen Erzählsituationen von jeweils einem Pol der idealtypischen Konstituenten
Person, Perspektive
und Modus dominiert.
Zieht man, wie Stanzel
es in seinem komplexen Typenkreis zu eine - geometrisch ausgedrückt -
Mittelsenkrechte, die von der Kreismitte zum Kreisrand an beiden Seiten
führt, kommt man zu den den Grenzen, die zwischen den zwei Polen einer
Kategorie liegen und damit eine Übergangszone darstellen. Dies hat
Stanzel in seinem allerdings auch sehr umstrittenen ▪
Typenkreis der
Erzählsituationen umgesetzt.
Person
Eine der drei aus den
Gegensatzpaaren (Binäroppositionen) gebildeten Konstituenten des
Erzählens kann nach Stanzel mit der Kategorie der Person beschrieben
werden. Der Begriff der Person, den Stanzel "wegen seiner Prägnanz" (Stanzel
1989, S.71f.) verwendet, steht dabei für die die Seinsbereiche (bzw.
fiktionalen Welten), denen der Erzähler und die Figuren in einem
erzählenden Text angehören können.
Dabei geht es darum, ob
der Erzähler als Mittlerfigur und die von ihm dargestellten Figuren in
einem identischen oder nicht-identischen Seinsbereich "unterwegs" sind.
Daher die Kategorien der Binäropposition: Identität vs. Nicht-Identität
der Seinsbereiche.
In dem einen
(idealtypischen) Fall teilen sich Erzähler und die Figuren dieselbe
Welt, "innerhalb der Zeitspanne, die vom Anfangs- und Endpunkt der
Geschichte begrenzt wird" (Eicher
32001, S.92). Erzähler und Figuren gehören dann beide der
▪ Ebene des Dargestellten (Diegesis)
an und agieren darin innerhalb der Grenzen der
erzählten Zeit.
Die davon bestimmte Erzählform zeigt sich als Erzählen in der ersten
oder der dritten, also der Ich-Erzählung bzw. der Er/Sie-Erzählung), selten auch in der zweiten Person
(Du-Erzählung). Entscheidend bei der Zuordnung ist allerdings "nicht die
relative Häufigkeit des Vorkommens einer der beiden Personalpronomina
Ich oder Er/Sie" (Stanzel
1989, S.71f.). Und auch die Verwendung des Pronomens sagt im Grunde
nicht alles darüber aus, ob die Seinsbereiche identisch oder
nichtidentisch sind. So ist z. B. bei einem Ich-Erzähler, der
rückblickend aus seinem eigenen Leben erzählt, der Seinsbereich solange
identisch, solange er nicht auf seine außerhalb dieser erzählten Zeit
liegenden, augenblicklichen Ist-Situation als Erzähler zu sprechen
kommt. (vgl.
Eicher 32001, S.93)
Im anderen
(idealtypischen) Fall steht der Erzähler in einem anderen Seinsbereich
als die von ihm dargestellten Figuren und deren Welt. Steht er
außerhalb, gestaltet sich die Erzählung zu einer Er-Erzählung, weil der
Erzähler die von ihm dargestellten Figuren in ihrem eigenen Seinsbereich
nicht mit den Pronomen der ersten Person (ich, wir) ansprechen
wird. (vgl.
ebd.)
Perspektive
Mit dieser Kategorie, die sich in Stanzels Modell der
Erzählsituation als Pole von ▪ Innen- vs. Außenperspektive
gegenüberliegen, wird der ▪ Standort
des Erzählers bzw. der Erzählinstanz (▪
point of view) als
"Wahrnehmungsinstanz gegenüber der dargestellten Wirklichkeit" (Eicher
1996/32001, S.93) erfasst und beschreibbar gemacht.
Außenperspektive
Wenn der Erzähler die
Außenperspektive einnimmt, wird die Auswahl der Erzählgegenstände, die Festlegung der
wie und mit welcher Intensität das erzählte Geschehen in zeitlicher
Raffung oder eben nicht erzählt werden soll, "von einem Fluchtpunkt her"
(Graevenitz
1982, S.95) festgelegt, der
außerhalb der Welt der Romanfiguren und des erzählten Geschehens
liegt.
Zugleich weist die
Außenperspektive dem Leser auch den
"»Tribünenplatz«" (ebd.)
zu, der ihn aus zeitlicher und räumlicher Distanz auf die Figuren
und Vorgänge blicken lässt, während die "Innenperspektive eben nicht
mehr nur ein unbeteiligtes Zuschauen erlaubt." (ebd.)
Die Außenperspektive
dominiert dabei bei der ▪
auktorialen , die Innenperspektive bei der ▪
personalen Erzählsituation. Allerdings vermischen
sich aber auch beide Perspektiven in einem Text häufig oder wechseln einander ab (fluktuieren).
Innenperspektive
Liegt der Standort des
Erzählers, von dem aus die Geschichte erzählt wird, dagegen räumlich und zeitlich innerhalb der erzählten Welt der Figuren,
ist der Erzähler identisch mit einer oder mehreren einzelnen Figuren,
die das Geschehen aus ihrer Sicht erzählen. (personaler
Erzählerstandort, vgl. ▪
personale
Erzählsituation)
Dabei hat die "Festlegung des personalen Erzählers auf die Innenperspektive
eines Stellvertreter-Mediums, eines Reflektors", auch zur
Folge, dass das Erzählen zunehmend von psychologischen
Kriterien des wahrnehmenden Erzählers bestimmt wird. Und damit wird
auch "die psychologische Wahrscheinlichkeit, gemessen an den
Bewusstseinsmöglichkeiten des Reflektor-Helden, [...] zum
Organisationsprinzip des Erzählten." (Graevenitz
1982, S.95)
Modus
Die Kategorie des Modus,
die für Stanzel mit seiner von der Mittelbarkeit
des Erzählens. ausgehenden Theorie von zentraler Bedeutung ist,
repräsentiert mit ihren beiden Polen Erzähler und Reflektor im Kern das,
was Erzählen überhaupt ausmacht. Zwischen den beiden
Polen Erzähler und Reflektor gibt es eine Vielzahl von möglichen Abstufungen und Abwandlungen.
Erzähler
Der Erzähler ist für Stanzel keine depersonalisierte Erzählinstanz,
wie es
Käte Hamburger (1957) vorschwebt, sondern ein (Aussage-)Subjekt, so
wie es auch bei den meisten Erzähltexten vom Leser wahrgenommen wird.
Die
Mittelbarkeit ist für ihn das wichtigste Gattungsmerkmal
erzählender Texte, die
sich im Erzählvorgang und dem erzählten Vorgang zeigt. Die Mittlerrolle
wird dabei vom Erzähler
wahrgenommen, der sie einerseits zwischen dem Autor und der erzählten
Geschichte, andererseits zwischen der Geschichte und ihrem Leser spielt.
Der reale Autor kommt in der Geschichte nicht selbst zu Wort.
Stattdessen beauftragt er den Erzähler als eine Art Stellvertreter.
Dieser Erzähler ist in der Regel fiktiv und die Beziehung zwischen
Erzähler und Autor lässt sich vereinfacht auf den Satz bringen: "Der
reale Autor erfindet, der fiktive Erzähler erzählt, was gewesen ist." (Scheffel
2006, S.106) So ist jeder "implizit dargestellte Erzähler ein
Konstrukt" (Schmid
2011, S.131)
Der Erzähler wird vom realen Autor mit bestimmten Fähigkeiten
ausgestattet, die ihm unterschiedliche Möglichkeiten zur Gestaltung der
Geschichte lassen. Es kommt vor, dass man den Erzähler quasi persönlich
zu fassen glaubt, aber genauso gut kann es sein, dass er sich so sehr
hinter das erzählte Geschehen zurückzieht, dass es den Anschein hat, es
gäbe ihn gar nicht.
Der Pol des Erzählers ist
also mit der Vorstellung verbunden, die ein Leser hat, wenn er meint,
einem persönlichen Erzähler gegenüberzustehen, der ihm die Geschichte
erzählt.
Reflektor
Wird hingegen vom Pol des
Reflektors aus erzählt, kommt einem das so vor, als gäbe es ein
"scheinbar unmittelbar(es) Wahrnehmungszentrum des soeben Geschehenden"
(Eicher
1996/32001, S.92) wie eine Art Kamera oder Rekorder,
der innerhalb einer Figur "mitläuft" und alles, was passiert, soweit es
in ihre begrenzten Aufnahmebereiche fällt, aufnimmt und quasi distanzlos
registriert. Was die technischen Apparaturen allerdings von einer Figur
als Reflektor unterscheidet, ist die Tatsache, dass diese natürlich auch
mit einem eigenen Bewusstsein ausgestattet ist, und ihre eigene Sicht
der Dinge dadurch präsentiert, dass sie bestimmtes wahrnimmt und anderes
nicht, auf seine Weise kommentiert und eben alles, was um sie herum und
was in ihr vorgeht, personal einfärbt. Dennoch gewinnt der Leser beim
Reflektormodus des Erzählens den Eindruck, er sehe, höre und denke
gemeinsam mit der Reflektorfigur, und das "scheinbar distanzlose,
während der Zeit, in der die Handlung abläuft." (ebd.)
Was Stanzel mit seinem
Gegensatzpaar von Erzähler und Reflektor beschreibt, wird in anderer
Terminologie, zum Teil mit anderen Akzenten, als
telling und showing oder
Diegesis,
diegetischer Modus
bzw.
Mimesis,
mimetischer Modus
beschrieben.
In den Kategorien des
triadischen Konzepts lassen sich die drei Erzählsituationen auktorial,
personal und Ich-Erzählsituation noch der Dominanz der Kategorien wie
folgt beschreiben:
-
Auktoriale
Erzählsituation: primär bestimmt durch die Dominanz der
Außenperspektive (Allwissenheit),
sekundär durch die greifbare Existenz einer Erzählerfigur (Modus)
und durch die Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und
Figuren (Person) (Beispiele: Fontane Effi Briest, Thomas Mann Der
Zauberberg) ▪ Innen- vs.
Außenperspektive
-
Personale
Erzählsituation: primär bestimmt durch die Dominanz des
Reflektors (Modus), sekundär durch das Überwiegen der
Innenperspektive (Perspektive) und durch die Nichtidentität der
Seinsbereiche (Person), d. h. den Er-Bezug auf den Reflektor
-
Ich-Erzählsituation:
primär bestimmt durch die Dominanz der Identität der
Seinsbereiche von Erzähler und Figuren, sekundär durch das
Überwiegen der Innenperspektive (Perspektive) und durch die
Erzählerfigur (Modus)
(vgl. (Eicher
1996/32001, S.98-100)
Stanzels Konzept lässt sich nicht auf den Begriff der Perspektive
reduzieren
Man hat Stanzel immer
wieder vorgehalten, dass er seine Typologie der Erzählsituationen allein
auf die vom ▪ Standort des Erzählers
(point of view) abhängige Perspektive stütze (z. B.
Genette
2. Aufl. 1998, S.129). Zumindest diese Kritik geht hingegen
fehl. Stanzels Konzept der Erzählsituationen lässt sich eben nicht auf den
Begriff der Perspektive reduzieren lässt. Bei genauerem Hinsehen lässt
sich das Konzept sogar als
"Modellierung" der folgenden Faktoren
auffassen (vgl.
Wolf 2013, S.186)
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Die Betonung des
Systemcharakters der Erzählsituationen Stanzels bedeutet indessen nicht,
dass es auch eine Vielzahl von Einwänden dagegen gibt, die sich wie
Vogt
(2014, S. 85) verdeutlicht, in drei Gruppen einteilen lässt: "eine
erste, doe Stanzels Typenbildung als analytisch unzureichend tadelt,
eine zweite, die im Rahmen der Typologie Veränderungen vorschlägt, und
eine dritte, die ihre Einmbettung in eine übergreifende historische
Dimension einklagt."
Auch ohne diese
systematische Ordnung der Kritik an Stanzel sollen hier die wichtigsten
Einwände hinsichtlich ihrer theoretischen Fundierung und Stringenz kurz
erwähnt werden.
-
Auch entgegen des von
ihm selbst erhobenen Anspruchs eine
"Theorie des Erzählens" (1989) zu entwickeln, ist sein
Konzept der Erzählsituationen und vor allem seine späteren
Überarbeitungen mit ihrer "ganze(n) Komplexität
(und manchmal auch Unentwirrbarkeit)" (Genette
2. Aufl. 1998, S.270) keine systematische und analytische
Erzähltheorie im strengen Sinne, die x-beliebige Erzähltexte bis ins
letzte Detail dekonstruiert, sondern eher "eine Art
Beschreibungssystem zur Erfassung erzählender Dichtung" (Petersen
1993, S.2).
Als "Interpretationshilfe" (Stanzel
1964/1979, S,10), das ein "bestimmendes Gestaltungsgefüge
sichtbar" (ebd.)
machen will, stützt sich Stanzels Konzept dabei auf "die
unbezweifelbare empirische Beobachtung, "dass sich die
überwältigende Mehrzahl der literarischen Erzählungen auf diese drei
Situationen verteilt, die er zu Recht 'typisch' nennt." (Genette
2. Aufl. 1998, S.269) Da er sein Konzept "nun einmal
empirisch, das heißt aus der Beobachtung vielfältiger Erzähltexte" (Vogt
2014, S.84) gewonnen hat, könnte man es statt analytisch besser als synthetisch
(Cohn 1981) oder u. U. auch "synkretistisch" (Genette
2. Aufl. 1998, S.269) bezeichnen. Es vermengt verschiedene Elemente des
Erzählens miteinander und belässt sie "in ihrer Komplexität":
er zerlegt sie nicht analytisch in ihre konstruktiven Elemente.
Dementsprechend sind auch die verschiedenen Erzählsituationen
zusammengesetzte (synthetische) Kategorien" (Vogt
2014, S. 88).
-
Dies wiederum führt
zum zweiten Kritikpunkt an Stanzels Konzept der Erzählsituationen.
Dabei wird immer wieder betont, dass die "Erzählsituationen" Stanzels
zwei Parameter miteinander kombinieren, die eigentlich
auseinanderzuhalten seien: die Teilhabe
des Erzählers an der Geschichte (»Er«- vs. »Ich«-Erzählung) und die
Erzählperspektive (»auktorial« vs. »personal«) (vgl.
Schmid
2011, S.132)
Aus diesem Grund spricht auch manches dafür, statt "irgendwelche
komplexe »Erzählsituationen«" zu beschreiben (ebd.),
für eine Typologie des Erzählers nur "elementare Kriterien zugrunde (zu)
legen, ohne sie mit anderen zu kombinieren." (ebd.)
(s. dazu: ▪ Kriteriengeleitete
Beschreibung von Erzählertypen (Dichotomien)
Wer nicht
zu den sehr detaillierten Kriterien strukturalistischer Theorien
tendiert, kann dabei zumindest für die ▪
schulische Analyse und Interpretation erzählender Texte, an, auf das
Konzept der ▪ Erzähltextanalyse von
Jürgen H. Petersen
(geb. 1937) (1993,
72006)
zurückzugreifen, das bestimmte Widersprüchlichkeiten in Stanzels Konzept
überwindet und auch "die geschlossene Typologie durch einen
offeneren Merkmalskatalog ersetzt, der mehr (wenn auch nicht alle)
Kombinationsmöglichkeiten und damit eine feinere Klassifizierung
ermöglicht." (Jahraus
2009, S.228)
Wenn man bedenkt, dass "das literarische
Erzählen (...) ohnehin so vielgestaltig (ist), dass es sich empfiehlt,
es nicht nur mit einer Minimaldefinition zu beschreiben, sondern ein
möglichst breites Spektrum seiner Erscheinungsformen zu erfassen." (Martínez
2011a, S.11), ist es wohl auch auch angeraten, globale Betrachtungen
von Texten mit einer gewissen Skepsis zu begegnen.
Trotzdem: Die Erzählsituationen Stanzels, gegen die immer wieder berechtigte
▪
Einwände hinsichtlich ihrer theoretischen Fundierung und Stringenz
erhoben wurden, sind dessen ungeachtet ein weitgehend anerkanntes
Instrumentarium zur Interpretation erzählender Texte, bei der eben nicht
die vollständige analytische "Zerlegung" des Textes bzw. seine
Dekonstruktion im Vordergrund steht.
Erzählsituationen im Literaturunterricht
Am weitesten verbreitet
- und das insbesondere im Literaturunterricht bei der ▪
schulischen Erzähltextanalyse - hat sich dabei aus verschiedenen Gründen
das
in dem kleinen Buch
"Typische
Formen des Romans" aus dem Jahr 1964 entwickelteKonzept Stanzels, indem er
nur von drei Erzählsituationen (auktorial, personal,
Ich-Erzählsituation) ausgeht und damit die vormals (1955) vertretene
neutrale Erzählsituation als Variante der personalen Erzählsituation
"ohne weitere Begründung eliminiert" (Vogt
2014, S.52, Anmerk.7) bzw. sang- und klanglos "völlig fallengeĺassen"
(Genette
2. Aufl. 1998, S.270, Anm. 3) hat.
Vielleicht etwas "voreilig", wie Jochen
Vogt
(2014, S.90, auch S.51ff.) meint und dabei auf das ▪
Fokalisierungkonzept von Gerard
Genette
(2. Aufl. 1998, S.134ff.) verweist, in dem mit der sogenannten
externen
Fokalisierung die neutrale Erzählsituation wieder eingeführt wird. Zur begrifflichen Verwirrung über die neutrale Erzählsituation hat Stanzel
also selbst erheblich beigetragen.
Von bestimmten
Vertretern der
neueren Erzähltheorie
wird diese Vorstellung, aber auch andere ein quasi erzählerloses
Erzählen unterstellende Konzepte ohnehin
abgelehnt, weil Perspektive eine basale Grundeigenschaft allen Erzählens
darstellt. (z. B.
Schmid 2005, S.133).
Als Idealtypen können die Stanzelschen Erzählsituationen aber aller
Einwände zum Trotz flexibel angewendet werden und haben "sich
instrumentell -
als eine Art erzähltheoretischer Werkzeugkasten - in
zahllosen Einzeluntersuchungen und Interpretationen bewährt" (Vogt
2014, S.84).
Aber natürlich bleibt auch ein solches Urteil über
Stanzels Konzept nicht unwidersprochen. So beklagt
Petersen
(1993, S.161), dass Stanzels "systemlose Deskriptionsordnung" und
sein "für die detaillierte Beschreibung erzählerischer Textschichten
schlechterdings untauglich(es)" literarisches Beschreibungsmodell
"verheerende Folgen" nach sich gezogen habe, wie man bei der Lektüre
vieler Interpretationen feststellen müsse.
Dabei bezieht sich Petersens Verriss von "StanzeIs
sogenannte(r) »Theorie des Erzählens«" dabei vor allem auf die
"systemlogischen Fehler" in Stanzels Konzept des "systemlogisch
unhaltbaren ▪Typenkreises von epischen Texten". (ebd.,
S.161) Damit schließt sich Petersen der verbreiteten Stanzel-Kritik an, die
immer wieder die ▪
mangelnde theoretische Stringenz und Vermischung analytischer Kategorien
in Stanzels Konzept unterstrichen hat.
Dass das Konzept der
Erzählsituationen von seiner ganzen Anlage her, der Vielfalt aller heute
existierenden und morgen möglichen erzählenden Texte nicht gerecht
werden kann, liegt vor allem auch daran, dass es "die Gegenstände seiner
Typologie in ihrer Komplexität (belässt)" (Vogt
2014, S.88) und die unterschiedlichen Erzählsituationen in Gestalt
"(synthetischer) Kategorien" (ebd.)
erfasst, statt sie "analytisch in ihre konstruktiven Elemente" (ebd.)
zu zerlegen.
Dies gereicht dem
Konzept auch unter dem Blickwinkel seiner Praktikabiltät
gegenüber (moderaten) Kriterienkatalogen wie z. B. der ▪
Erzähltextanalyse nach Petersen (1998)
zum Nachteil, muss indessen, das zeigt seine breite Verwendung im
Literaturunterricht, seinen Wert bei einer auf die Interpretation eines
Erzähltextes ausgerichteten Erzähltextanalyse in keiner Weise. Dies gilt
in besonderem Maße für die ▪
schulische Erzähltextanalyse und didaktischen Ziele, die mit der
Anschlusskommunikation über literarische Texte verfolgt werden.
▪
Perspektiven beim Erzählen
▪ Überblick
▪
Modelle der Perspektiven beim Erzählen
▪
Überblick
▪
Standort des Erzählers (point of
view)
▪
Erzählsituationen (Stanzel)
▪ Erzählformen und Erzählverhalten
(Petersen)
▪
Fokalisierung (Genette)
▪
Aspekte
der narratorialen und figuralen Perspektive (Schmid)
▪
Schulische Erzähltextanalyse
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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