In der
Erzähltheorie
hat die Untersuchung der Bedeutung des Erzählerstandorts (point of view)
eine lange Tradition, die bis in das 19. Jahrhundert, ja wenn man will,
bis in die Antike zu dem griechischen Philosophen
»Platon (*428/427 v. Chr.- † 348/347 v. Chr.) zurückreicht (vgl.
Martínez/Scheffel 112019, S.51, S.188).
Spricht man vom Standort des Erzählers
oder seinem point of view, dann ist damit zunächst
einmal die raum-zeitliche Position gemeint, aus der ein Erzähler seine
Geschichte darbietet. Sie bestimmt den Blickwinkel bzw. die
"Sicht" des Erzählers auf die Ebene des
Dargestellten.
Dieser point of view
stellt eine "narrative Perspektive" (Genette
32010, S.118) dar, die im
narrativen Modus einer Erzählung auf der "Wahl (oder Nicht-Wahl)
eines einschränkenden 'Blickwinkels' beruht" (ebd.)
und damit dafür sorgt, welche narrativen Informationen der Leser
bzw. die Leserin eines
erzählenden
Textes über die Ereignisse und Figuren der ▪
dargestellten Welt (Diegesis)
erhält.
Zugleich
perspektiviert der Blickwinkel die Ebene der Darstellung (Exegesis)
in ihrem relativen Verhältnis zum Standpunkt des wahrnehmenden Subjekts
und zu dessen Wissenshorizont. (vgl.
Becker/Hummel/Sander 22018, S.115)
In seiner allgemeinsten
Fassung kann man beim point of view einfach Außen- und
Innenperspektive unterscheiden. Die beiden Begriffe bedeuten dabei nicht
das Gleiche wie die Begriffe ▪
Innen- und Außensicht.
Häufig vermischen
sich die Außen- und die Innenperspektive in einem Text oder wechseln einander ab (fluktuieren).
Außenperspektive |
Innenperspektive |
|
|
Standort des Erzählers, von dem aus die Geschichte
erzählt wird, liegt - mehr oder weniger deutlich - räumlich und
zeitlich außerhalb der
erzählten Welt der Figuren.
Dadurch wird "die Auswahl der Erzählgegenstände, die Festlegung der
Raffungsintensitäten von einem Fluchtpunkt her" festgelegt, "der
außerhalb der Romanfiguren und des erzählten Geschehens liegt." (Graevenitz
1982, S.95) |
Standort des Erzählers, von dem aus die Geschichte
erzählt wird, liegt räumlich und zeitlich innerhalb der erzählten Welt der Figuren.
Der Erzähler ist identisch mit einer oder mehreren einzelnen
Figuren, die das Geschehen aus ihrer Sicht erzählen. |
Im Konzept der ▪
Erzählsituationen von »Franz
K. Stanzel (geb. 1924) ist der Standort, den ein Erzähler zu den
Figuren und Vorgängen
einnimmt,
das zentrale, wenngleich auch nicht das einzige Kriterium, um die ▪
auktoriale von der ▪ personale
Erzählsituation zu unterscheiden. In seinem ▪
triadischen Modell von Person, Modus und Perspektive, das mit dem
sogenannten "Erzählkreis" visualisiert wird, sind sie auf der
Kategorienachse Perspektive an den beiden Enden einander
entgegengesetzt, die von den Polen Außen- und Innenperspektive gebildet
werden. Allerdings gilt auch hier, dass die beiden Perspektiven in ein
und demselben Text, oft auch innerhlab kürzerer Textpassagen, wechseln
können.
-
Erzählt ein
Erzähler aus der Außensperspektive tut er dies in einer ▪
auktorialen Erzählsituation,
die mit dem Status der
Allwissenheit des Erzählers über alles, was mit der erzählten
Geschichte zusammenhängt, verbunden ist.
-
Tritt er hingegen
als die Geschichte vermittelnder Erzähler personal gar nicht in
Erscheinung und steht mitten in der Welt der Figuren, sieht und
erzählt diese Welt aus dem Blickwinkel einer oder auch
verschiedender Figuren ohne räumliche und zeitliche Distanz dazu,
eben aus der "Mitte" des sich vollziehenden Geschehens. Damit, so
Stanzel, wird der Erzähler in der Innenperspektive zum Reflektor,
dessen Erzählen davon abhängt, was er in der Situation wahrnimmt,
wie er die Dinge mitten im Geschehen sieht und bewertet. Anders
gesagt: "Die psychologische Wahrscheinlichkeit, gemessen an den
Bewusstseinsmöglichkeiten des Reflektor-Helden, wird zum
Organisationsprinzip des Erzählten." (Graevenitz
1982, S.95) Damit wird die ▪
Erzählsituation personal gestaltet und das Geschehen entweder in personal perspektiviertem
Erzählerbericht
oder häufig auch in den
Darbietungsformen
erlebte Rede oder
innerem Monolog erzählt.
Während für Stanzel die Kategorie der Perspektive, eingeteilt in Außen-
und Innenperspektive, ein zentrales wie auch ausreichendes Kriterium für
seine Unterscheidung der drei Erzählsituationen ist, wird von seinen
Kritikern immer wieder betont, dass der "Blickwinkel" des Erzählers
weitaus komplexer ist, und sich nicht nur auf die herkömmliche point
of view-Betrachtung reduzieren lässt.
So wird immer wieder betont, dass dieses Konzept der Perspektive die
Elemente der
▪ "Sichtweise"
eines Erzählers bzw. dessen ▪
Erzählverhalten
miteinander vermenge (Petersen
1993, S.65), weil er die Erzählsituationen unter Einschluss der
Kategorie der Perspektiven "in ihrer Komplexität" stehen lasse (Vogt
2014, S. 88), statt sie analytisch in ihre konstruktiven Elemente zu
zerlegen. Das ist allerdings auch nicht verwunderlich, denn die
raum-zeitliche Position des Erzählerstandorts berührt natürlich auch
"den Aspekt des Perspektivischen, der allerdings ▪
mit etlichen anderen Kategorien sowie
mit den Kategorien der
▪
Erzählhaltung und der
▪ Darbietungsform funktional
zusammenhängt." (Petersen
1993, S.65)
Solche "Zerlegungen" nehmen eigentlich alle Vertreter*innen der neueren
Erzähltheorie vor, die mit kriteriengeleiteten Ansätzen die vermengten
Parameter wie z. B. die Teilhabe des Erzählers an der Geschichte (»Er«-
vs. »Ich«-Erzählung) und die Erzählperspektive (»auktorial« vs.
»personal«) (vgl. Schmid
2011, S.132) auseinanderhalten und für sich betrachten. Damit soll
wie Genette betont, das "kombinatorische Prinzip selbst, dessen
Hauptverdienst darin besteht, die verschiedenen Kategorien in eine freie
und keinem Apriori unterworfene Beziehuhg zu setzen" (Genette
32010, S.253) als "bloße Konstellationen, in denen
a priori jeder Parameter mit jedem zusammentreten kann". (ebd.)
Dabei wird also nicht auf die Kategorie der Perspektive im Sinne des
point of view verzichtet, auch wenn sie für das Erzählen als Ganzes
nicht mehr die Bedeutung besitzt. Immerhin stellt auch Genettes Konzept der
▪ Fokalisierungen "eine Verallgemeinerung des klassischen Begriffs
des point of view" (Genette
32010, S.225) dar, allerdings in seiner spezifischen
Terminologie.
Für
Wolf Schmid lässt sich das ▪ Phänomen der
Perspektive in erzählenden Texten nicht einfach nur als Blickwinkel
oder oder ▪ Standort des Erzählers
betrachten. Dies verkürzt nämlich in grober Weise, was in einem
Erzähltext überhaupt
perspektiviert
werden kann. Neben dieser vom Standort des Erzähl ers abgeleiteten ▪
räumlichen
Perspektive kann man das Phänomen der Perspektive noch unter vier
weiteren "Parametern, Aspekten oder Facetten" (Schmid
2005, S.127) betrachten. Dazu zählen noch die
▪ perzeptive,
die ▪
ideologische, die ▪
zeitliche und
die sprachliche
Perspektive, die in der ▪
narratorialen oder
der ▪ figuralen Perspektive
▪ kompakt, ▪
distributiv
oder in gewissem Sinne ▪ "neutral"
gestaltet werden können, ohne dass allerdings in einem konkreten Text
stets alle alle Möglichkeiten (Parameter) der Perspektive ausgeschöpft
werden. Sein ▪
vereinfachtes Verfahren zur Analyse der Perspektiven in einem
erzählenden Text, das er mit entsprechenden Leitfragen versehen hat,
stellt in dieser Form auch für die ▪ schulische Analyse und Interpretation erzählender Texte
ein rundum empfehlenswertes Modell dar, sich mit dem Thema der
Perspektiven und Erzählperspektiven auseinanderzusetzen. Es gehört als
Grundwerkzeug in den "begriffliche(n)
Werkzeugkasten" (Köppe/Kindt
2014, S.33), den Schülerinnen und Schüler "im Rahmen
unterschiedlich ausgerichteter interpretativer Erschließungen von
Erzähltexten" sinnvoll einsetzen können.
Einen synoptischen Überblick über einige verschiedene Begriffe im
Zusammenhang mit dem Standort des Erzählers gibt die nachfolgende
Dasrstellung.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023