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Aspekte der Erzähltextanalyse

Schwundformen des Mythos

Franz Kafka (1883 - 1924) Andere kurze Erzählungen Prometheus

 
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Glossar Literatur
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Franz Kafkas Text "Prometheus", eine Art • Hybridtext, der eine eine parabolische Erzählweise mit einer kontrafaktorischen Schreibweise kombiniert. (vgl. Engel 2010a, S.354) greift in spezifischer Weise auf den Prometheus-Mythos, der  zurück und ersetzt dabei bestimmte konstitutive Merkmale der Prometheus-Erzählung, um eine eigene Botschaft zu gestalten. Dabei ist in dem Text keine vermittelnde Erzählinstanz greifbar, der Text erscheint so, als habe er wie der Mythos ein Eigenleben.

"Kulturentstehungslehre"

Das "Prometheus-Emblem", so sieht es Mathias Luserke-Jaqui (2007, S.180), dient Kafka dabei als "ein kulturelles Deutungsmuster der Moderne":

Wer den Text anders liest, als er in der Edition von Kafkas Freund und Herausgeber seines Nachlasses »Max Brod (1884-1968) vorliegt, kann eine Lesart entwickeln, die von Anfang an die Entwicklung der Erinnerung an den Mythos rekonstruiert und die  Bedeutung der im Text ganz knapp dargestellten vier Versionen des • Prometheus-Mythos im Verlauf der Rezeptionsgeschichte für das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt.

Max Brod hat bei seiner Edition des Textes nämlich darauf verzichtet, die von Franz Kafka in seiner Bearbeitung des Manuskripts gewollte Voranstellung des "Schlusssatzes" "Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden." zu übernehmen. Kafkas Freund und Herausgeber seines Nachlasses »Max Brod (1884-1968), der dem Text den Titel gegeben hat, hat darauf verzichtet, den letzten Satz, der im Manuskript Kafkas mit einem Verweisungszeichen an den Anfang des Textes gestellt werden sollte, nach vorn zu verschieben (vgl. Alt 2005/22008, S.578; vgl. Engel 2010a, S.357).

An den Anfang gestellt wird damit nämlich eine »Allaussage (auch: Allsatz), eine Generalisierung, wie wir sie in unserer Alltagssprache oft mit Wörtern wie "alle/s", "jede/r/s", "immer" und "überall" in Aussagen verwenden, um bestimmte Sachverhalte, Ereignisse, Zustände etc. als universal, d. h. allgemeingültig, zu markieren. Solche Allsätze ähneln dabei auch alltagsweltlichen (auch redensartlichen) Definitionen  ("Übung macht den Meister") oder konventionalisierten und Autorität beanspruchenden Sentenzen ("Ohne Fleiß kein Preis", "Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“). Aber auch beim • logischen Argumentieren können Allsätze wie "Alle Menschen sind sterblich." eine Rolle beim dreigliedrigen Syllogismus spielen. Wer eine Allaussage widerlegen will, muss nur einen einzigen Gegenstand aus dem Bereich finden, auf den sich die  Allaussage bezieht, auf den sie nicht zutrifft.

Stellt man den oben bezeichneten Allsatz aus Kafkas Text an die Spitze, dann soll er durch die nachfolgenden Beispiele, den verschiedenen Versionen der Prometheus-Sage bewiesen werden. (vgl. Engel 2010a, S.357) und der dann verbliebene letzte Satz des Textes "Blieb das unerklärliche Felsgebirge." wird zur Schlussformel, die die im Allsatz formulierte Ausgangsbehauptung in der Art eines »"quod erat demonstrandum" (lat. für "was zu beweisen war") die vorangehende Beweisführung, an verschiedene "Schwundformen des Mythos" (ebd. S.357) geführt wird  abschließt.

Seine Beweisführung erfolgt dabei auf der Grundlage eines, von der Überlieferung her betrachtet, irrigen ätiologischen Verständnisses des antiken Mythos. (vgl. ebd.) Als »Ätiologie bezeichnet man in der Erzählforschung ein Erzählprinzip (Narrativ), das gegenwärtige Gegebenheiten in eine ursächliche Verbindung zu einem ursprünglichen Zustand bringt und damit erklärt.

Am Ende jedenfalls ist das Verbleiben des "unerklärliche(n) Felsgebirge(s)" eben genau so unerklärlich wie alle anderen Elemente des Mythos in den jeweiligen Sagenversionen, auch wenn die Struktur des Textes die Existenz des Felsengebirges erklärt.

Wenn die Sage, wie Kafka bilanziert, das Unerklärliche zu erklären sucht, dann endet sie zwangsläufig im Unerklärlichen. Für Luserke-Jaqui (2007, S.180) kann man diese Aussage als "Kafkas eigenen Deutungsschlüssel" verstehen und wie folgt auf den Text anwenden:

"1. Der Verrat ist die Erklärung für etwas unerklärlich Vorgängiges, das der Mythos nicht berichtet. 2. Die Einswerdung mit dem Felsen ist die Erklärung für etwas unerklärlich Vorgängiges, das der Mythos nicht berichtet. 3. Das allgemeine Vergessen ist die Erklärung für etwas unerklärlich Vorgängiges, das der Mythos nicht berichtet. 4. Das grundlos gewordene ist die Erklärung für etwas unerklärlich Vorgängiges, das der Mythos nicht berichtet. Da die Sage wieder im Unerklärlichen enden muss, enthalten die vier Mikrogramme keine Erklärung, sondern sind selbst das Unerklärliche."

Allerdings macht dies den "Wahrheitsgrund" des Mythos eben aus, dass auch die Wahrheit seiner Erklärung am Ende genauso unerklärlich bleibt, wie der Mythos selbst. Ob die literarische Mythos--Erzählung Kafkas mit dem Wachhalten der Erinnerung an den am Ende namenlosen Schauplatz auch noch Spuren des ursprünglichen Mythos aufrechterhalten kann und soll (vgl. Alt 2005/22008, S.578), dürfte hingegen mehr als zweifelhaft sein.

Kafka entfaltet wohl mit seiner "produktive(n) Anverwandlung" (Engel 2010a, S.354) des Mythos weder eine inhaltliche Programmatik noch sucht er in ihm eine mehr oder weniger konkrete politische oder philosophische Lehre (vgl. Alt 2005/22008, S.574). Unter Umständen steht der Text für eine "mittelbare Positivierung des Autorbildes" (Engel 2010a, S.358), mit er den hohen Anspruch der »"Zürauer Aphorismen", einer Gattung von Texten, mit der während seiner nach seinem Aufenthalt in »Zürau vom 12.9. 1917 bis Anfang Mai 1918 experimentiert, einlösen will.

Formal gesehen folgen seine darin zum Ausdruck gebrachten Reflexionen der Denkfigur des gleitenden Paradoxon, wobei sie manchmal, wenn sie ein erzählerisches Element enthalten, auch zum parabolischen Schreiben tendieren. Mit der Bezeichnung "gleitendes Paradox" hat man eine Schreibweise Franz Kafkas in seinem späten Werk bezeichnet, bei der "Abweichungen vom Normalverständnis, von der normalen Denk- und Bilderwartung, vom normalen logischen Ablauf" zur Darstellung gebracht werden und zwar ohne dass solche "Schwenkungen" sich zu einem "krassen Widerspruch" verklammern (Neumann 1968, S.468). Als Verfahren der Entstellung und/oder partiellen Umkehrung oder Zurücknahme" (Engel 2010a, S.285) zwingt das gleitende Paradox den Leser, "seine Denkrichtung in Frage zu stellen oder gar zu wechseln."

Inhaltlich vollzieht er damit aber auch einen Neuansatz, da er in dieser Schaffensperiode anthropologische Grundfragen in einer "extremen weltanschaulichen Verallgemeinerung" (ebd, S.345) aufgreift, wie etwa den Sündenfall, die Gegensätze von Wahrheit und Lüge, von Entfremdung und Erlösung, von Tod und Paradies oder den Gegensatz zwischen sinnlicher und geistlicher Welt. (vgl. ebd.)

Es hat den Anschein, als ob diese Texte Kafka zur Selbstvergewisserung über die letzten Dinge sowie zur Rechtfertigung (seiner) der individuellen Existenz gedient haben. (vgl. ebd.) Auch wenn Kafkas •"Prometheus", ebenso wie z. B. "Das Schweigen der Sirenen" keine Aphorismen sind, stehen sie als parabolische Erzähltexte doch mit den »"Zürauer Aphorismen" als Ko-texten in Verbindung. (vgl. ebd., S.346)

Unter Heranziehung des oben genannten Ko-Texts ergibt sich daher auch die Annahme, dass Kafka mit seinem "Prometheus" eben die schon angeführte "mittelbare Positivierung des Autorbildes" (ebd., S.358) anstrebt und der Text als "eine Metareflexion über Kafkas eigenen Umgang mit traditionellen Mythologemen (wie etwa dem des ›Sündenfalls‹, als dessen griechisches Analogon man den Prometheus-Mythos ja ansehen könnte)" (ebd.), verstanden werden kann.

Diesem autobiografischen Ansatz folgend kann man die Mythen-Kontrafakturen Kafkas auch als Versuch lesen, "ein Autoren-Bild zu entwerfen, das dem hohen Anspruch der Zürauer Aphorismen auf weltanschaulich-anthropologische Grundsatzreflexionen im literarischen Medium entspricht." (ebd.)

Die parabolische Deutung des Textes kann zur • Sinnkonstruktion allerdings andere Aspekte heranziehen. Hier könnten die verschiedenen "Schwundformen des Mythos" in den verschiedenen Versionen des Mythos, die für verschiedene Stadien bzw. zeitliche Stufen des Überlieferungsprozesses des antiken Mythos stehen, als zusehende Auflösung des Geltungsanspruchs des Mythos gesehen werden, über seine Ursprungsbedingungen hinaus Richtschnur für menschliches Handeln in der Welt zu sein.

Indem der Mythos selbst "Objekt eines komplexen Überlieferungsgeschehens" (Alt 2005/22008, S.576) wird, kann er auch keinen zeitübergreifenden Anspruch auf Wahrheit erheben, sondern ist selbst "Interpretationsgeschichte" (ebd.), die beim Wiedererzählen nur solange nachwirken kann, solange die Erinnerung an ihre Elemente wach gehalten werden kann. Doch indem die Erinnerung an die Ursachen der Handlungen, die dem Mythos zugrunde liegen (1. Version) mehr und mehr hinter der Betrachtung der Leiden von Prometheus verblassen (2. Version), geht die Erinnerung an beides im Laufe von Jahrtausenden gänzlich verloren (3. Version), so dass am Ende niemand mehr weiß, warum und wozu das Ganze überhaupt existiert und dementsprechend die Kraft des Mythos vollständig zum Erliegen kommt (4. Version). Was übrig bleibt, in Kafkas Text, das unerklärliche Gebirge, existiert letzten Endes grundlos und kann nur mehr als allgemeine Erklärung für etwas herhalten, was sich von Anfang an als "Sage" menschlicher Erkenntnis entzogen hat. Am Ende steht "eine Welt jenseits aller Erklärungen" (ebd., S.577) und die Natur erscheint als "Ursphäre, die kein Verstehen mehr aufhellen kann." Und: "mit dem Vergessen wächst der Grad der Unverständlichkeit, steigert sich seine Dunkelheit." (ebd., S.578)

Ob das unerklärliche Felsengebirge dabei, wie die ätiologische Stuktur des Erzählens nahe legt, noch die Kraft besitzt, den Mythos dadurch wieder abzurufen, dass es irgendwie die Erinnerung an den Schauplatz für den Schmerz des Prometheus wach hält (ebd.), erscheint hingegen mehr als zweifelhaft.

Das namenlose Gebirge erzählt nämlich am Ende überhaupt nichts mehr, sondern ist nur noch "grundlos" da, sein Existenzgrund erschließt sich einer Suche nach ihrem "Wahrheitsgrund" genauso wenig wie der Mythos als solcher. Denn "wenn Prometheus mit dem Felsen ›eins‹ geworden ist, dann ist er auch nicht mehr auszumachen, es gibt keine Differenz mehr zwischen Prometheus und dem Naturobjekt Fels. Also hat es auch keinen Sinn mehr, wenn die Adler kommen und und seine Leber zerstückeln wollen, also ist damit auch der Sinn der Bestrafung durch die Götter verloren gegangen. Der Fels symbolisiert die Sinnlosigkeit göttlichen, menschlichen und kreatürlichen Handelns, der Fels bleibt am Ende der Zeiten als Zeichen der Differenzlosigkeit, Subjekt (Prometheus) und Objekt (Felsen) sind verschmolzen." (Luserke-Jaqui 2007, S.181) Da der Beobachtungspunkt dieser Differenzlosigkeit nur innerhalb dieser Differenz liegen könne, dies aber ein erkenntnistheoretisches Paradoxon darstelle, seien nur die Literatur bzw. die Kunst in der Lage, sich darüber hinwegzusetzen. (vgl. ebd., S.182)

Der Mythos, der im Grunde genommen eine der "Erinnerungsfiguren" (Jan Assmann 1992, S.52) des kulturellen Gedächtnisses darstellt, ist damit nicht nur aus dem individuellen und dem sozialen, sondern auch aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht. Weil er nicht mehr in der Kommunikation stabilisiert, d. h. weitererzählt wird (kommunikatives, soziales Gedächtnis) und offenbar auch in keine "transferierbaren und tradierbaren kulturellen Objektivationen" wie Symbole, Artefakte, Medien und Praktiken sowie deren Institutionen  (Assmann 2006a, S.36, Kindle-Version) gefasst worden ist oder, im Falle von Gesellschaften ohne schriftliche Überlieferung, von sozial privilegierten "Gedächtnisspezialisten" und "Wissensbevollmächtigten " (Jan Assmann 1992, S.54) wie z. B. Schamanen, Barden, »Griots, Priester, Lehrer, Künstler, Schreiber, Gelehrten als spezielle Träger des kulturellen Gedächtnisses bewahrt worden ist, ist ihm auch keine noch längere Geltung gegeben. Dementsprechend können sich die Menschen diesen als Teil des kulturellen Gedächtnisses auch nicht mehr aneignen.

Seine zeitenthobene Geschichte, die von Generation zu Generation weitergegeben hätte werden können, wird im Laufe der Zeit eben bedeutungslos, weil das Weltmodell, das der Mythos anbietet, schlicht nicht (mehr) gebraucht wird. Es leistet keinen Beitrag mehr zu dem gewünschten Selbstbild der sich historisch ebenso ändernden Gruppen, die daraus Orientierung beziehen könnten. Das Licht des Mythos, der als "eine fundierende Geschichte" angetreten ist, um eine Geschichte zu erzählen, die "eine Gegenwart vom Ursprung her" (ebd. S.52) erhellen soll, ist erloschen und damit dysfuktional geworden.

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 21.12.2024

 
 

 
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