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Franz Kafkas
Text •"Prometheus",
eine Art •
Hybridtext, der eine eine parabolische Erzählweise mit einer
kontrafaktorischen
Schreibweise kombiniert. (vgl.
Engel 2010a,
S.354)
greift in spezifischer Weise auf den Prometheus-Mythos,
der
zurück und ersetzt dabei bestimmte konstitutive Merkmale der
Prometheus-Erzählung, um eine eigene Botschaft zu gestalten. Dabei ist
in dem Text keine vermittelnde Erzählinstanz greifbar, der Text
erscheint so, als habe er wie der Mythos ein Eigenleben.
"Kulturentstehungslehre"
Das "Prometheus-Emblem", so sieht es Mathias Luserke-Jaqui
(2007, S.180), dient Kafka dabei als "ein kulturelles Deutungsmuster
der Moderne":
Wer den Text anders liest, als er in der Edition von Kafkas Freund und
Herausgeber seines Nachlasses »Max
Brod (1884-1968) vorliegt, kann eine
Lesart
entwickeln, die von Anfang an die Entwicklung der Erinnerung an den
Mythos rekonstruiert und die Bedeutung der im Text ganz knapp
dargestellten vier Versionen des •
Prometheus-Mythos im Verlauf der
Rezeptionsgeschichte für das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft in
den Mittelpunkt stellt.
Max Brod hat bei seiner Edition des Textes nämlich darauf verzichtet,
die von Franz Kafka in seiner Bearbeitung des Manuskripts gewollte
Voranstellung des "Schlusssatzes"
"Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem
Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden." zu
übernehmen. Kafkas Freund und Herausgeber seines Nachlasses »Max
Brod (1884-1968), der dem Text
den Titel gegeben hat, hat darauf verzichtet, den letzten Satz, der
im Manuskript Kafkas mit einem Verweisungszeichen an den Anfang des
Textes gestellt werden sollte, nach vorn zu verschieben (vgl.
Alt
2005/22008, S.578; vgl.
Engel 2010a,
S.357).
An
den Anfang gestellt wird damit nämlich eine »Allaussage
(auch: Allsatz), eine Generalisierung, wie wir sie in unserer
Alltagssprache oft mit Wörtern wie "alle/s", "jede/r/s", "immer" und
"überall" in Aussagen verwenden, um bestimmte Sachverhalte, Ereignisse,
Zustände etc. als universal, d. h. allgemeingültig, zu markieren. Solche
Allsätze ähneln dabei auch alltagsweltlichen (auch
redensartlichen)
Definitionen
("Übung macht den Meister") oder konventionalisierten und Autorität
beanspruchenden Sentenzen
("Ohne Fleiß kein Preis", "Was du heute kannst besorgen, das verschiebe
nicht auf morgen.“). Aber auch beim
• logischen Argumentieren können Allsätze wie "Alle Menschen sind
sterblich." eine Rolle beim
•
dreigliedrigen Syllogismus
spielen. Wer eine Allaussage widerlegen will, muss nur einen
einzigen Gegenstand aus dem Bereich finden, auf den sich die
Allaussage bezieht, auf den sie nicht zutrifft.
Stellt man den oben bezeichneten Allsatz aus Kafkas Text an die Spitze,
dann soll er durch die nachfolgenden Beispiele, den verschiedenen
Versionen der Prometheus-Sage bewiesen werden. (vgl.
Engel 2010a,
S.357) und der dann verbliebene letzte Satz des Textes "Blieb
das unerklärliche Felsgebirge." wird zur Schlussformel, die die im
Allsatz formulierte Ausgangsbehauptung in der Art eines »"quod
erat demonstrandum" (lat. für "was zu beweisen war") die
vorangehende Beweisführung, an verschiedene "Schwundformen des Mythos" (ebd.
S.357) geführt wird abschließt.
Seine Beweisführung erfolgt dabei auf der Grundlage eines, von der
Überlieferung her betrachtet, irrigen
ätiologischen Verständnisses des
antiken Mythos. (vgl.
ebd.) Als Ȁtiologie
bezeichnet man in der Erzählforschung ein Erzählprinzip (Narrativ), das
gegenwärtige Gegebenheiten in eine ursächliche Verbindung zu einem
ursprünglichen Zustand bringt und damit erklärt.
Am Ende jedenfalls ist das Verbleiben des "unerklärliche(n)
Felsgebirge(s)" eben genau so unerklärlich wie alle anderen Elemente des
Mythos in den jeweiligen Sagenversionen, auch wenn die Struktur des
Textes die Existenz des Felsengebirges erklärt.
Wenn die Sage, wie Kafka bilanziert, das Unerklärliche zu erklären
sucht, dann endet sie zwangsläufig im Unerklärlichen. Für
Luserke-Jaqui (2007, S.180) kann man diese Aussage als "Kafkas
eigenen Deutungsschlüssel" verstehen und wie folgt auf den Text
anwenden:
"1. Der Verrat ist die Erklärung für etwas unerklärlich Vorgängiges, das
der Mythos nicht berichtet. 2. Die Einswerdung mit dem Felsen ist die
Erklärung für etwas unerklärlich Vorgängiges, das der Mythos nicht
berichtet. 3. Das allgemeine Vergessen ist die Erklärung für etwas
unerklärlich Vorgängiges, das der Mythos nicht berichtet. 4. Das
grundlos gewordene ist die Erklärung für etwas unerklärlich Vorgängiges,
das der Mythos nicht berichtet. Da die Sage wieder im Unerklärlichen
enden muss, enthalten die vier Mikrogramme keine Erklärung, sondern sind
selbst das Unerklärliche."
Allerdings macht dies den "Wahrheitsgrund"
des Mythos eben aus, dass auch die Wahrheit seiner Erklärung am Ende
genauso unerklärlich bleibt, wie der Mythos selbst. Ob die literarische Mythos--Erzählung Kafkas mit dem Wachhalten der Erinnerung an den am
Ende namenlosen Schauplatz auch noch Spuren des ursprünglichen Mythos
aufrechterhalten kann und soll (vgl.
Alt
2005/22008, S.578), dürfte hingegen mehr als zweifelhaft
sein.
Kafka entfaltet wohl mit seiner "produktive(n) Anverwandlung" (Engel
2010a, S.354) des Mythos weder eine inhaltliche Programmatik
noch sucht er in ihm eine mehr oder weniger konkrete
politische oder philosophische Lehre (vgl.
Alt
2005/22008, S.574). Unter Umständen steht der Text für
eine "mittelbare Positivierung des Autorbildes" (Engel
2010a, S.358), mit er den hohen Anspruch der »"Zürauer
Aphorismen", einer Gattung von Texten, mit der während seiner nach
seinem Aufenthalt in »Zürau
vom 12.9. 1917 bis Anfang Mai 1918 experimentiert, einlösen will.
Formal gesehen
folgen seine darin zum Ausdruck gebrachten Reflexionen der
Denkfigur des gleitenden
Paradoxon, wobei sie manchmal, wenn sie ein erzählerisches Element
enthalten, auch zum parabolischen Schreiben tendieren. Mit der
Bezeichnung "gleitendes Paradox" hat man eine Schreibweise Franz Kafkas
in seinem späten Werk bezeichnet, bei der "Abweichungen vom
Normalverständnis, von der normalen Denk- und Bilderwartung, vom
normalen logischen Ablauf" zur Darstellung gebracht werden und zwar ohne
dass solche "Schwenkungen" sich zu einem "krassen Widerspruch"
verklammern (Neumann
1968, S.468). Als Verfahren der Entstellung und/oder partiellen
Umkehrung oder Zurücknahme" (Engel
2010a, S.285) zwingt das gleitende Paradox den Leser, "seine
Denkrichtung in Frage zu stellen oder gar zu wechseln."
Inhaltlich
vollzieht er damit aber auch einen Neuansatz, da er in dieser
Schaffensperiode anthropologische Grundfragen in einer "extremen
weltanschaulichen Verallgemeinerung" (ebd, S.345) aufgreift, wie etwa den Sündenfall, die Gegensätze von
Wahrheit und Lüge, von Entfremdung und Erlösung, von Tod und Paradies
oder den Gegensatz zwischen sinnlicher und geistlicher Welt. (vgl.
ebd.)
Es hat den Anschein, als ob diese Texte Kafka zur Selbstvergewisserung
über die letzten Dinge sowie zur Rechtfertigung (seiner) der
individuellen Existenz gedient haben. (vgl.
ebd.) Auch
wenn Kafkas •"Prometheus",
ebenso wie z. B. •"Das
Schweigen der Sirenen" keine Aphorismen sind, stehen sie als
parabolische Erzähltexte doch mit den »"Zürauer
Aphorismen" als Ko-texten in Verbindung. (vgl.
ebd.,
S.346)
Unter Heranziehung des oben genannten Ko-Texts ergibt sich daher auch die Annahme, dass Kafka mit seinem •"Prometheus"
eben die schon angeführte "mittelbare Positivierung des Autorbildes" (ebd.,
S.358) anstrebt und der Text als "eine Metareflexion über Kafkas eigenen Umgang mit traditionellen Mythologemen (wie etwa dem des ›Sündenfalls‹, als dessen griechisches
Analogon man den Prometheus-Mythos ja ansehen könnte)" (ebd.),
verstanden werden kann.
Diesem autobiografischen Ansatz folgend kann man die Mythen-Kontrafakturen Kafkas auch als Versuch
lesen, "ein Autoren-Bild zu entwerfen, das dem hohen Anspruch der Zürauer
Aphorismen auf weltanschaulich-anthropologische Grundsatzreflexionen im
literarischen Medium entspricht." (ebd.)
Die parabolische Deutung des Textes kann zur •
Sinnkonstruktion
allerdings andere Aspekte heranziehen. Hier könnten die verschiedenen
"Schwundformen des Mythos" in den verschiedenen Versionen des Mythos,
die für verschiedene Stadien bzw. zeitliche Stufen des
Überlieferungsprozesses des antiken Mythos stehen, als zusehende
Auflösung des Geltungsanspruchs des Mythos gesehen werden, über seine
Ursprungsbedingungen hinaus Richtschnur für menschliches Handeln in der
Welt zu sein.
Indem der Mythos selbst "Objekt eines komplexen
Überlieferungsgeschehens" (Alt
2005/22008, S.576) wird, kann er auch keinen
zeitübergreifenden Anspruch auf Wahrheit erheben, sondern ist selbst
"Interpretationsgeschichte" (ebd.),
die beim Wiedererzählen nur solange nachwirken kann, solange die
Erinnerung an ihre Elemente wach gehalten werden kann. Doch indem die
Erinnerung an die Ursachen der Handlungen, die dem Mythos zugrunde
liegen (1. Version) mehr und mehr hinter der Betrachtung der Leiden von
Prometheus verblassen (2. Version), geht die Erinnerung an beides im
Laufe von Jahrtausenden gänzlich verloren (3. Version), so dass am Ende
niemand mehr weiß, warum und wozu das Ganze überhaupt existiert und
dementsprechend die Kraft des Mythos vollständig zum Erliegen kommt (4.
Version). Was übrig bleibt, in Kafkas Text, das unerklärliche Gebirge,
existiert letzten Endes grundlos und kann nur mehr als allgemeine
Erklärung für etwas herhalten, was sich von Anfang an als "Sage"
menschlicher Erkenntnis entzogen hat. Am Ende steht "eine Welt jenseits
aller Erklärungen" (ebd.,
S.577) und die Natur erscheint als "Ursphäre, die kein Verstehen mehr
aufhellen kann." Und: "mit dem Vergessen wächst der Grad der
Unverständlichkeit, steigert sich seine Dunkelheit." (ebd.,
S.578)
Ob das unerklärliche Felsengebirge dabei, wie die
ätiologische
Stuktur des Erzählens nahe legt, noch die Kraft besitzt, den Mythos
dadurch wieder abzurufen, dass es irgendwie die Erinnerung an den
Schauplatz für den Schmerz des Prometheus wach hält (ebd.),
erscheint hingegen mehr als zweifelhaft.
Das namenlose Gebirge erzählt nämlich am Ende überhaupt nichts mehr,
sondern ist nur noch "grundlos" da, sein Existenzgrund erschließt sich
einer Suche nach ihrem "Wahrheitsgrund" genauso wenig wie der Mythos als
solcher. Denn "wenn Prometheus mit dem Felsen ›eins‹ geworden ist, dann
ist er auch nicht mehr auszumachen, es gibt keine Differenz mehr
zwischen Prometheus und dem Naturobjekt Fels. Also hat es auch keinen
Sinn mehr, wenn die Adler kommen und und seine Leber zerstückeln wollen,
also ist damit auch der Sinn der Bestrafung durch die Götter verloren
gegangen. Der Fels symbolisiert die Sinnlosigkeit göttlichen,
menschlichen und kreatürlichen Handelns, der Fels bleibt am Ende der
Zeiten als Zeichen der Differenzlosigkeit, Subjekt (Prometheus) und
Objekt (Felsen) sind verschmolzen." (Luserke-Jaqui
2007, S.181) Da der Beobachtungspunkt dieser Differenzlosigkeit nur
innerhalb dieser Differenz liegen könne, dies aber ein
erkenntnistheoretisches Paradoxon darstelle, seien nur die Literatur
bzw. die Kunst in der Lage, sich darüber hinwegzusetzen. (vgl.
ebd.,
S.182)
Der Mythos, der im Grunde genommen eine der "Erinnerungsfiguren" (Jan
Assmann 1992,
S.52) des kulturellen Gedächtnisses darstellt, ist damit nicht nur aus dem individuellen und dem sozialen,
sondern auch aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht. Weil er nicht mehr
in der Kommunikation stabilisiert, d. h. weitererzählt wird
(kommunikatives, soziales Gedächtnis) und
offenbar auch in keine "transferierbaren und tradierbaren kulturellen Objektivationen" wie Symbole, Artefakte, Medien und Praktiken sowie
deren Institutionen (Assmann
2006a, S.36, Kindle-Version) gefasst worden ist oder, im Falle von
Gesellschaften ohne schriftliche Überlieferung, von sozial
privilegierten "Gedächtnisspezialisten" und "Wissensbevollmächtigten "
(Jan Assmann
1992, S.54) wie z. B. Schamanen, Barden, »Griots, Priester, Lehrer,
Künstler, Schreiber, Gelehrten als spezielle Träger des kulturellen
Gedächtnisses bewahrt worden ist, ist ihm auch keine noch längere
Geltung gegeben. Dementsprechend können sich die Menschen diesen als
Teil des kulturellen Gedächtnisses auch nicht mehr aneignen.
Seine zeitenthobene Geschichte, die
von Generation zu Generation weitergegeben hätte werden können, wird im
Laufe der Zeit eben bedeutungslos, weil das Weltmodell, das der Mythos
anbietet, schlicht nicht (mehr) gebraucht wird. Es leistet keinen Beitrag mehr
zu dem gewünschten Selbstbild der sich historisch ebenso ändernden
Gruppen, die daraus Orientierung beziehen könnten. Das Licht des Mythos,
der als "eine fundierende Geschichte" angetreten ist, um eine Geschichte
zu erzählen, die "eine Gegenwart vom Ursprung her" (ebd.
S.52) erhellen soll, ist erloschen und damit dysfuktional geworden.