Ein Aufbruch um
seiner selbst willen oder der Weg ist selten das Ziel
Gert Egle
Das Geschehen, das vom Ich-Erzähler in
dem kurzen fiktionalen Erzähltext »Der
Aufbruch« von ▪
Franz Kafka dargeboten wird, ist von seinen
äußeren Handlungsmomenten auf wenige Handlungen und Sprachhandlungen
beschränkt.
Ein Mann, der als Herr offenbar
legitimiert ist, einem Diener Anweisung zu erteilen, befiehlt diesem,
sein Pferd aus dem Stall zu holen. Da der Diener, wie sein Herr mutmaßt,
ihn nicht verstanden hat, geht er selbst in den Stall, sattelt sein
Pferd und steigt auf. In diesem Moment vernimmt er aus der Ferne das
Blasen einer Trompete und will von seinem Diener wissen, was es damit
auf sich habe. Doch der Diener, der angibt, das Geräusch nicht gehört zu
haben, kann sich das Ganze auch nicht erklären. Ehe der Ich-Erzähler
davonreiten kann, wird er vom Diener am Tor aufgehalten und direkt
gefragt, wohin er reite. Er antwortet ihm, er wisse es nicht, wolle aber
in jedem Fall weg von dem Ort, und zwar immerfort, an dem sich beide
befinden. Nur, wenn er dies tue, könne er sein Ziel erreichen. Als der
Diener nachfragt und wissen will, ob er sein Ziel den wirklich kenne,
bejaht er dies und wiederholt, dass das "Weg-von-Hier" für ihn Ziel sei.
Als der Diener offenbar erkennt, dass sein Herr keinen Proviant mit sich
führt, macht er ihn darauf aufmerksam. Doch dieser bedeutet ihm,
angesichts der Länge der Reise, die ihm nun bevorstehe, könne der Essensvorrat
gar nicht so groß sein, um ihn letzten Endes vor dem Hungertod zu
bewahren. Er
müsse unterwegs etwas zu essen bekommen, mitgeführter Proviant
jedenfalls könne ihn nicht retten. Es sei schließlich, wie er betont,
eine wahrhaft ungeheure Reise.
Die Geschichte lässt wie alle
literarischen Texte eine Mehrzahl von Lesarten und Konkretisationen zu.
Es ist ein Leichtes, den Sinn des Textes in dem schon durch den Titel
ausgedrückten Aufbruch ins Ungewisse zu sehen. Ein Aufbruch, der mit
konzeptionellen Deutungsmustern, die uns unser Alltagswissen anbietet,
verknüpft werden kann.
Die dem Text dabei zugeschriebene, überwiegend positiv
verstandene Botschaft, Neues zu wagen, indem man das Alte hinter sich
lässt, ist legitim, weil der Text selbst darauf verzichtet, eine
explizite Sinngebung anzubieten. Ohne Heranziehung weiterer Kontexte, z.
B. dem biografischen Hintergrund, das Wissen um die thematischen
Besonderheiten moderner Parabeln, Textmusterwissen und entsprechender
Leseerfahrung im Umgang mit solchen Texten kann einem ein solches
Verständnis des Textes also durchaus angemessen erscheinen. Man kann
dabei stehen bleiben, oder aber in einem hermeneutischen Prozess des
fortschreitenden Textverstehens aber auch andere Deutungen, selbst auf
der Grundlage eines solchen Vorverständnisses, entwickeln. Wenn: Ja,
wenn, das konzeptionelle Deutungsmuster als Vorverständnis und nicht als
endgültiges Textverstehen aufgefasst wird.
Dabei bestimmen natürlich auch bei
einem solchen Verständnis des Textes die Kontexte ganz entscheidend, wie
und in welche Bedeutungsrichtung der Text verstanden wird. Das geschieht
zum Beispiel, wenn, wie nicht selten bei Interpretationen von
Schülerinnen und Schülern vorkommt, eine Übertragung per Analogieschluss
auf den Ablöseprozess eines Jugendlichen vom Elternhaus vorgenommen
wird, der sich daran macht, die Welt auf eigene Faust kennen zu lernen und
ein sein "eigenes Leben" ohne Unterstützung der Eltern in Angriff zu
nehmen. Wie alle Jugendlichen, so das mentale Modell,
sehnt sich der Ich-Erzähler nach etwas Neuem. Dabei sind solche
Deutungen im Zusammenhang mit Kafkas Text auch dem herkömmlichen
Verständnis der Parabelinterpretation geschuldet, die einen engen
Verweisungszusammenhang zwischen Bildhälfte (Bildbereich) und Sachhälfte
(Sachbereich) unterstellen, der für die modernen Parabeln, zu denen
Kafkas "Aufbruch" ohne Zweifel gehört so nicht mehr vorhanden ist,
selbst wenn eine darauf fußende Darstellung manchmal auch überzeugend,
im Sinne intersubjektiver Plausibilität, gelingt.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
13.03.2024
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