Die Geschichte, die in ▪
Franz
Kafkas
Parabel
"Der Aufbruch" erzählt wird, ist gerade mal 14 Sätze lang. Wer sie
liest, spürt schnell, dass das banale Geschehen, das ihr zugrundeliegt,
nicht den Sinn ausmacht, den er/sie der Leser dem Text zu geben versucht.
Zu
spärlich sind die raumzeitlichen Koordinaten vorgegeben, zu wenig über die
handelnden Personen ausgesagt, als dass man deren Handeln mit den einem
Leser vertrauten Schemata aus seinem Alltagshandeln wirklich (be-)greifen
kann. So stellt sich nach der Lektüre wohl im Allgemeinen ein gewisses
Befremden ein verbunden mit der Frage, was das Ganze denn bedeuten soll.
Häufig kann man im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern dabei beobachten,
dass sich ihnen eine "positive Leseart" des Textes aufdrängt. Sie verstehen
den Text dann quasi appellativ als Aufforderung, ohne Angst und Sorge
aus den Zwängen des Alltags zu entfliehen.
Wer den Text so liest, mag darin
die Botschaft "Der Weg ist das Ziel lesen", das allemal mehr wert zu sein
scheint, als sich - im Vergleich zum Text mit umgekehrtem Vorzeichen -
»immerfort« Zwängen des Alltags zu unterwerfen, in dem man sich mit
vorhandenen »Fressvorrat« eingerichtet hat.
Was so manchem Deutschlehrer
dabei die Haare zu Berge stellt, hat indessen seine Berechtigung.
Unter
poststrukturalistischer Perspektive betrachtet, gibt es einen
dem Text innewohnenden Sinn nicht, findet Sinngebung eben nur als intrapsychischer Prozess im Bewusstsein des Betrachters statt.
Dies gilt
umso mehr, wenn man es mit Texten wie diesem zu tun hat, der sich aller
postulierten Eindeutigkeit oder gar Wahrheit der Interpretation vollkommen
verweigert.
Eine fiktionale Welt wie in diesem Text mit ihrer für Kafka so
typischen "strukturell angelegte(n) Geschichts- und Ortslosigkeit", die ihre
Welt "durch die an die Figuren gebundenen Perspektiven und die damit
zusammenhängende Desorientierung von einer konkreten Raumvorstellung
losgelöst" entfaltet (Andringa
2008, S.333), lässt eben auch wenn sie zunächst in individuell
unterschiedlicher Weise "den Effekt der Befremdung" (ebd.)
hervorrufen mag, "eine unendliche Vielfalt von Konkretisierungen, wobei das
Werk mit Vorstellungen und Ideen aus den verschiedensten Zeiten, Welten und
Kulturen verbunden und analogisiert werden kann." (ebd.)
Die Konsequenz für den Literaturunterricht ist, wenn man dem folgt,
natürlich mehr als umwerfend und stellt manche "kafkalogisch" begründete
Deutungsperspektiven in Frage, seien es die Bezüge zum Leben des Autors,
Bezüge zum sozial-historischen Lebenskontext, literarisch-kulturelle
Traditionen, religions- und existenzphilosophische Kontexte.
In Frage
gestellt sind aber auch textorientierte und rezeptionsbezogene
Betrachtungen, da auch diese "implizit oft Leseerwartungen und -wirkungen"
voraussetzen (ebd.
S.327).
Der Vorwurf der "Beliebigkeit" jeglicher Interpretation, den man
sich als Antwort darauf gefallen lassen muss, greift indessen nach
Andringa (2008,
S.333) nicht, der am Ende seines Aufsatzes unmissverständlich betont, dass
das Werk Kafka "nicht einmal aktualisiert oder (re-)kontextualisiert" zu
werden brauche.
"Es bietet", so fährt er fort, "ein der Geschichte und dem
Raum enthobenes Gerüst, dass immer wieder anders ausgefüllt werden kann. Die
eigenartige geschichtslose Zeit ermöglicht einen Transfer über die Zeiten
und Räume hinweg."
Um keinen Missverständnissen Vorschub zu leisten: Unbestritten bleibt, dass
die zahlreichen, oben aufgeführten Deutungsperspektiven einen Text unter dem
Blickwinkel ihres jeweils herangezogenen Kontextes betrachten lassen. Nur
die Kanonisierung solcher Ansätze und ihr Geltungsanspruch, sowie die
Wertung, dass sich nur so ein "vertieftes" Textverständnis erzielen lasse,
sind mit Fug und Recht in Abrede gestellt. Und damit hat auch die oben
"positiv" genannte Konkretisierung des Textes ihren Platz, wenn sie sich auf
entsprechende Kontexte stützt.
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Bausteine
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
13.03.2024