▪ Leitfragen zur Analyse der
Zeitgestaltung in einer Erzählung
Vorausdeutungen: Ein Stück Zukunft in die Erzählgegenwart
hereinholen
Die ▪ Zeitgestaltung beim
Erzählen kann so gestaltet werden, dass ein Geschehen deutlich abweichend von
einem "natürlichen", einfachen zeitlichen Nacheinander erzählt
wird. Dies nennt man eine ▪ nicht-lineare Reihenfolge.
Zusammen mit ihrem Gegensatz der ▪
linearen Reihenfolge
nennt man dies auch
Anachronie.
Dabei eröffnet eine
Vorausdeutung, wie schon
Lämmert
(1995/1993, S.139) in seiner
traditionellen Erzähltextanalyse feststellt, "dem Leser (...) nicht nur den Sinn und
die Richtungnahme der augenblicklichen Situation, sondern stellt alles
künftige Geschehen in ein besonderes Licht."
Werden, ausgehend von einem bestimmten Zeitpunkt im chronologischen
Zeitablauf der erzählten Geschichte Vorgänge, Ereignisse oder
Geschehen, das relativ dazu in der Zukunft liegt, erzählt, ehe die
Geschichte sich quasi an dieser Stelle befindet, spricht man von einer
Vorausdeutung. (vgl.
Lämmert 1955, 101f.)
Oft wird dies auch als Vorgriff, in der
Erzähltheorie
von »Gérard
Genette (1930-2018) (1972,
dt. 1994/1998)
Prolepse
genannt.
Der Zeitrahmen der "Basiserzählung" (Genette,
2. Aufl. 1998, S.46) wird dabei von der letzten Szene begrenzt,
die keinen vorausdeutenden Charakter hat.
Grundsätzlich kann man beide Hauptformen anachronischen
Erzählens, die Vorausdeutungen ebenso wie die ▪
Rückwendungen, nach den Kriterien der Reichweite und des Umfangs
unterscheiden (vgl.
Genette, 2. Aufl. 1998, S.31ff.):
-
Mit der Reichweite
bezeichnet man den "zeitliche(n) Abstand zwischen der Zeit, auf die
sich der Einschub bezieht, und dem gegenwärtigen Augenblick der
Geschichte" (Martínez/Scheffel
1999/2016, S.37). Manche Vorausdeutungen "geben (...) nur eine
Strecke weit die Richtung des Handlungsverlaufs an und fallen nach
ihrer Auflösung in Vergessenheit" (Lämmert
(1995/1993, S.141), andere geben damit nur "eine Art
Seitenblick" (ebd.)
auf etwas, was den Leser an dieser Stelle u. U. interessiert, aber
für die weitere Handlung eigentlich unerheblich bleibt.
Vorausdeutungen schließlich, die "bestimmte Auskünfte über die
Zukunft geben" (ebd.),
richten die Aufmerksamkeit des Lesers stärker auf das Was(Was wird
geschehen?) als das Wie (Wie wird es geschehen?) (vgl. (ebd.)
-
Gehört das in der Vorausdeutung (Prolepse)
dargestellte Geschehen zu dem in der Haupthandlung bzw.
"Basiserzählung" (Genette,
2. Aufl. 1998, S.46) erzählten Zeitabschnitt, handelt es
sich um eine interne Prolepse.
(vgl.
ebd.)
-
Gehört es nicht zu diesem erzählten
Zeitabschnitt, handelt es sich um eine
externe Prolepse, die
meistens eine "Epilogfunktion" besitzen "und (dazu) dienen,
diesen oder jenen Handlungsstrang zu Ende zu führen" (vgl.
ebd.)
-
Mit dem
Umfang bezeichnet man "die im Rahmen des
entsprechenden Einschubs erfasste, mehr oder weniger lange Dauer der
Geschichte" (Martínez/Scheffel
1999/2016, S.37)
Unbestimmte Verweise und die
Darstellung allgemeiner Folgen sind keine Prolepsen
Nicht alles, was wie eine Prolepse
aussieht, ist auch eine. So stellen unbestimmte Verweise und die Darstellung
allgemeiner Folgen von Ereignissen keine Prolepsen dar, die erzählen, was
später in der fiktiven Welt der Geschichte sich auch tatsächlich ereignet.
Sprachlich deuten Formeln wie "hin und wieder passiert es" oder "im
Allgemeinen folgt auf ein solches Unglück ein anderes" lediglich Hypothesen
oder Vermutungen über zukünftige Ereignisse. Das Gleiche gilt auch für
Wünsche, Traumvorstellungen oder Fantasien von Figuren, weil sie in der
Erzählgegenwart stattfinden und darin ebenfalls nur Annahmen sind.
Zukunftsungewisse
Vorausdeutungen, wie sie für bestimmte Gattungen üblich sind, wenn z. B.
WahrsagerInnen, Hexen oder Zauberer die Zukunft voraussagen, bilden dabei
eine Ausnahme. (vgl.
LiGo -
Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe online, abgerufen am: 18.08.19)
Der reale Leser ist an die Reihenfolge des Erzählten nicht gebunden
Ob der reale
Leser, der einen Text in seiner eigenen Zeit liest bzw.
"konsumiert", der "Sukzessionsordnung" (ebd.,
S.21) folgt oder diese mit "einer sprunghaften, repititiven oder
selektiven Lektüre außer Kraft" setzt (ebd.),
ist dabei eine andere Frage.
Formen der Vorausdeutung (Prolepse)
Bei der Vorausdeutung wird auf ein Ereignis, das erst später stattfindet als zu
dem Zeitpunkt, an dem sich das erzählte Geschehen gerade befindet, vorgegriffen.
Oder, so definiert
Genette (2. Aufl. 1998, S.25) die Prolepse als "jedes narrative
Manöver, das darin besteht, ein späteres Ereignis im voraus zu erzählen
oder zu evozieren".
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Im Vergleich zu ihrer "umgekehrten Figur", der ▪
Rückwendung (Analepse) scheint die
Vorausdeutung in der abendländischen Erzähltradition hingegen viel
seltener vorzukommen, auch wenn z. B. die »antiken
Epen wie die »Ilias,
die »Odyssee
oder auch die »Aeneis
"mit einer Art anzipierter Zusammenfassung beginnen." (ebd.,
S.45)
Die wichtigsten Formen der Vorausdeutungen in einem erzählenden Text
lassen sich in drei Gruppen unterscheiden:
Von diesen drei Typen
sind die zukunftsgewisse und die zukunftsungewisse die beiden
Vorausdeutungen, denen bei einer Erzähltextanalyse gewöhnlich die
Hauptaufmerksamkeit geschenkt wird.
Zukunftsgewisse
Vorausdeutungen
Zukunftsgewiss werden
Vorausdeutungen dann genannt, wenn ein allwissender Erzähler (auktorialer
bzw.
heterodiegetischer Erzähler) ein sicher eintretendes Ereignis
ankündigt, indem er darauf vorgreift.
Damit ein Erzähler in Bezug auf die Erzählung zukunftsgewiss
vorwegnehmen kann, was sich unter Beibehaltung einer chronologischen
Sukzession beim Erzählen erst später ereignet, muss er außerhalb des
zeitlichen Rahmens der erzählten Welt Überblick und Wissen über die
ganze Geschichte haben.
Allerdings ist auch ein auktorialer bzw. heterodiegetischer Erzähler
nicht darauf festgelegt, nur solche Vorausdeutungen zu machen, die sich
an einem späteren Zeitpunkt der Erzählung auch tatsächlich erfüllen. Es
kann nämlich auch sein, dass er den Leser bewusst in einer Ungewissheit
über den weiteren Verlauf der Geschichte halten will und mit
unterschiedlichen Vorausdeutungen nur bestimmte Dinge andeuten will,
ohne dabei dafür wirklich einzustehen.
Zukunftsungewisse Vorausdeutungen
Zukunftsungewiss werden Vorausdeutungen dann genannt, wenn ein Erzähler sich auf den Wahrnehmungshorizont einer Figur der erzählten
Geschichte beschränkt und/ oder sich Figuren über ein aus ihrer
Sicht später mögliches Ereignis äußern.
Solche Vorausdeutungen
sind die eines
personalen Erzählers oder
homodiegetischen Erzählers, weil sie allein an deren
Wahrnehmungsperspektive gebunden sind, insofern immer "subjektiv" keinen
Gültigkeitsanspruch auf ihr späteres Eintreten in der erzählten
Geschichte erheben können.
"So gesehen", betonen
Martínez/Scheffel (1999/2016, S.40), ist der 'natürliche' Ort dieser
Form der Vorausdeutung die Rede oder das Denken von Figuren, d. h. zu
diesem Typ der
Anachronie zählen Prophezeiungen von problematischer
Gewissheit, scheinbar zukunftsweisenden Träume und alle möglichen Arten
von Wünschen oder Ängsten, die sich auf die Zukunft beziehen."
Dabei ist es aber durchaus auch möglich, dass in der erzählten Welt
wie sie z. B. im mittelalterlichen Heldenlied oder in Feenmärchen
gestaltet sind, "eigentlich" zukunftsungewisse Vorausdeutungen als
zukunftsgewisse Vorausdeutungen verstanden werden. (vgl.
ebd.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
22.01.2024
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