Traditionelles Erzählen gestaltet eine "Geschichte" meist in
kontinuierlicher Reihenfolge der Geschehnisse, die dem
natürlich-physikalischen Zeitablauf nachgebildet ist.
Die moderne
Literatur hat sich dagegen von dieser starren Fixierung gelöst. Für sie
ist Zeit entgrenzt und ihre Gestaltung kein Nachbilden des
natürlich-physikalischen Zeitablaufs mehr.
Sie lässt Gegenwart,
Vergangenheit und Zukunft häufig ineinander fließen, durchzieht Zeit mit
zahlreichen und unterschiedliche Perspektiven und hebt damit die Zeit im Extremfall als
linear fortschreitendes Kontinuum auf. "Der moderne Erzähler
beobachtet," wie
Edgar Neis (1965, S. 66) resümiert, " das 'Abtropfen der
Zeit' im Alltag und kommt zu der Erkenntnis, dass die Zeit nur scheinbar
mechanisch gleichmäßig abläuft, dass sie im Bereich des Lebendigen sich
ständig verändert, dass die innere, die Erlebniszeit, von der äußeren,
physikalischen Zeit abweicht und dass die Zeit zum Raum und der Raum zur
Zeit wird."
Für
Eberhard
Lämmert
(1955, S.32ff.) verleihen Modifikationen der monotonen Sukzession beim
Erzählen dem epischen Text erst wesentliche Konturen. Die erzählte Zeit
wird dafür durch
gestaltet. Zustande kommt dies im Allgemeinen "durch den Wechsel von
einlässigem und knappen Erzählen, d.h. durch das sich ständig
verschiebende Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit." (ebd.)
Doch nicht diese Tatsache allein ist dabei von Relevanz. Denn: Bedeutung gewinnen solche Einlässigkeit und Knappheit
erst, wenn sie als regelhafte Erscheinungen einem bestimmten
Komplex von Ereignissen und Gegenständen [...] innerhalb größerer
Partien aufgewiesen werden können [...]. In jedem Falle aber bedingt
schon dieser ständige und nicht selten rhythmische Wechsel der
Raffungsintensität das Phänomen der Phasenbildung im
Erzählfluss. [...]". (ebd.)
(aus :
Lämmert
1955, S.32ff.)
Die
neuere Erzähltheorie hat sich vor allem im Gefolge des
strukturalistischen Ansatzes von »Gérard
Genette (1930-2018) mit der "Pseudo-Zeitlichkeit der (schriftlichen) Erzählung"
(Genette, Die Erzählung, 2. Aufl. 1998, S. 213) befasst und
unter dem von ihm als ▪ Erzählgeschwindigkeit
gefassten Begriff für das Verhältnis von
erzählter Zeit und
Erzählzeit die
verschiedenen Grundformen der Zeitgestaltung in
erzählenden
Texten systematisch erfasst.
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Danach kann das Geschwindigkeitsspektrum einer Erzählung bei
Anisochronie
aus Textpartien mit ▪ Zeitdeckung, ▪
Zeitraffung, ▪
Aussparung (Ellipse), ▪
Zeitdehnung
oder ▪ Pausen gebildet werden, muss aber
nicht alle diese Formen aufweisen. Sie weisen ein jeweils eigenes
Verhältnis von
Erzählzeit zu
erzählter Zeit
auf.
Zunächst sind jedoch
Zeitdeckung, Zeitraffung und Zeitdehnung
die wesentlichen Gestaltungselemente, die
sich aus dem Verhältnis der beiden Zeitebenen ergeben.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
20.12.2023