▪ Leitfragen zur Analyse der
Zeitgestaltung in einer Erzählung
Zeitraffendes Erzählen ist eine Erzählstruktur, die durch die
besondere Gestaltung des Funktionsverhältnisses von
Erzählzeit
und
erzählter Zeit
realisiert wird. Diese Form der
Zeitgestaltung
ist in epischen Texten am häufigsten anzutreffen und entspricht in etwa der
Zeitraffertechnik beim Film.
(vgl.
Vogt 1990, S.103) Damit
leistet die erzählerische Zeitraffung "eine nach Intensität und Art variable
perspektivische Verkürzung der Geschehensdauer." (ebd., S.109)
Zeitraffend wird erzählt,
wenn die
Erzählzeit
(Lesezeit) kleiner ist als die
erzählte Zeit. Das
Verhältnis beider Zeitebenen zueinander bestimmt die
Raffungsintensität des Erzählens. (vgl.
Lämmert 1955, S.83)
Zeitraffung
Erzählzeit <
erzählte Zeit |
Man kann grundsätzlich drei verschiedene Arten erzählerischer Mittel
unterscheiden, mit denen sich Zeitraffung beim Erzählen realisieren lässt:
-
Sprungraffung (ein
Zeitabschnitt wird explizit (=ausdrücklich erwähnt) oder implizit (= nicht
ausdrücklich erwähnt) übersprungen; (Zeit-)"Ellipse)
-
Durative Raffung (ein
bestimmter Zeitabschnitt wird explizit zusammengefasst
-
Iterative Raffung (ein
einmaliger Vorgang wird mehrfach wiederholend erzählt) (vgl.
Fricke/Zymner 1993, S. 145)
Die Aussparung oder ▪ Ellipse (auch: Zeitsprung)
stellt die Extremform der Zeitraffung dar. Sie wird entweder
stillschweigend vorgenommen (implizit) oder ausdrücklich erwähnt (explizit).
Auch wenn die Hauptfunktion der Aussparung, die
Lämmert das "negativ kennzeichnende Prinzip jeden Erzählens" nennt (Lämmert 1955,
S. 83), darin besteht, das für das jeweilige Konzept eines Erzähltextes
Unwichtige auszulassen, kann die Aussparung doch sehr effektvoll eingesetzt
werden, um ein bestimmtes Thema oder Problem zu akzentuieren. Ist es
beispielsweise als ein Verschweigen konzipiert oder werden bestimmte
Geschehnisse damit im Nachhinein nur angedeutet, so wird das Interesse des
Lesers erst richtig für diesen ausgesparten Zeitraum und die Motive für
seine Auslassung geweckt. bewusst nur angedeutet auszulassen. Die
"Grundformel" der Aussparung
lautet: "Einige Zeit später ..."(ebd.)
Die Sprungraffung
Die
Sprungraffung erzählt
zeitausgreifend im Stil des berühmten Zitates von Julius Cäsar: "Veni, vidi,
vici" (=ich kam, sah und siegte). Dabei kann diese Form zeitraffenden
Erzählens natürlich eine unterschiedliche Raffungsintensität aufweisen, in
dem das Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit unterschiedlich
gestaltet wird. (vgl.
Lämmert 1955, S.
84)
Lämmert (1955, S. 83)
fasst die zeitausgreifende Sprungraffung mit der so genannten
Schrittraffung
unter der Kategorie der
sukzessiven Raffung
zusammen. Die Schrittraffung folgt dabei im Unterschied zur
Sprungraffung
dem Geschehen mehr
oder minder kontinuierlich und nähert sich damit dem
zeitdeckenden
Erzählen an.(vgl.
ebd.) Die "Grundformel" sukzessiver Raffung lautet: "Dann
... und dann ...", die nach Lämmert auch als "Grundformel
des Erzählvorgangs" schlechthin gilt. (ebd.)
Die durative Raffung
Bei der
durativen Raffung, bei
Lämmert (1955, S. 83) mit der
iterativen Raffung zur Kategorie der
iterativ-durativen
Raffung kombiniert, werden allgemeine, den ganzen Zeitraum
überdauernde Gegebenheiten zusammengefasst. Die durative Raffung kann mit
unterschiedlicher Raffungsintensität realisiert werden. Ihre Hauptfunktion
besteht wie auch bei der iterativen Raffung darin, "ruhende
Gegenständlichkeit zu veranschaulichen" (ebd.,
S.84) Die
"Grundformel" der durativen Raffung lautet: "Die
ganze Zeit hindurch ..." (ebd.)
Die iterative Raffung
Bei der
iterativen Raffung, bei
Lämmert (1955, S. 83) mit der
durativen Raffung zur Kategorie der
iterativ-durativen
Raffung kombiniert, wird ein mehr oder weniger großer Zeitraum
"durch Angabe einzelner, regelmäßig sich wiederholender Begebenheiten"
zusammengefasst. (ebd.,
S.84) Die mehrfach wiederkehrenden Abläufe können also nur
ein einziges Mal erzählt werden und dabei als "gleichförmig sich
wiederholender und damit typischer Ablauf gekennzeichnet werden." (Vogt 1990,
S.116) Wie die durative Raffung kann die iterative Raffung mit
unterschiedlicher Raffungsintensität realisiert werden. Ihre Hauptfunktion
besteht wie auch jener Raffung darin, "ruhende Gegenständlichkeit zu
veranschaulichen" (ebd.,
S.84) Die "Grundformel"
der iterativen Raffung lautet: "Immer
wieder in dieser Zeit" (ebd.)
Die eklektische Raffung als Kombination
Die dargestellten Formen der Zeitraffung treten in einem epischen Text
meistens nicht durchgehend und auch nicht exklusiv auf, d. h. das
Zeitgerüsts einer Erzählung umfasst meist verschiedene Formen und Formen
unterschiedlicher Raffungsintensität. Sie können aber auch bewusst
kombiniert werden, um "beim Erzählen von fortschreitenden Einzelereignissen
[...] als Beispiel für das Geschehen in einem im Übrigen zuständlich
gegebenen Zeitraum" zu gelten. (Lämmert
1955, S.84) Grundprinzip dieser Raffung ist ein "pars
pro toto" und seine Grundformeln lauten in etwa: "So
geschah es zum Beispiel ..." oder "In
dieser Zeit geschah es einmal ..." (vgl.
ebd.)
In seinem Roman "Der
Untertan" erzählt
Heinrich Mann (1871-1950)
in zeitraffender Art und Weise über die beiden letzten Schuljahre von
Diederich Heßling, seinem Umzug nach Berlin und seiner ersten Zeit dort,
sowie einem Besuch bei der Familie Göppel:
"Seit
seiner Versetzung nach Prima galt seine Gymnasialkarriere für gesichert,
und bei Lehrern und Vater drang der Gedanke durch, er solle studieren. Der
alte Heßling, der sechsundsechzig und einundsiebzig durch das
Brandenburger Tor eingezogen war, schickte Diederich nach Berlin. Weil er sich aus der Nähe der Friedrichstraße nicht fortgetraute, mietete
er sein Zimmer droben in der Tieckstraße. Jetzt hatte er nur in gerader
Linie hinunterzugehen und konnte die Universität nicht verfehlen. Er
besuchte sie, da er nichts anderes vorhatte, täglich zwei Mal, und in der
Zwischenzeit weinte er oft vor Heimweh. Er schrieb einen Brief an Vater
und Mutter und dankte ihnen für seine glückliche Kindheit. Ohne Not ging
er selten aus. Kaum, dass er zu essen wagte; er fürchtete, sein Geld vor
dem Ende des Monats auszugeben. Und immerfort musste er nach der Tasche
fassen, ob es noch da sei. So verlassen ihm um das Herz war, ging er doch noch immer nicht mit dem
Brief des Vaters in die Blücherstraße zu Herrn Göppel, dem
Zellulosefabrikanten, der aus Netzig war und auch an Heßling lieferte. Am
vierten Sonntag besiegte er seine Scheu - und kaum watschelte der
gedrungene, gerötete Mann, den er schon so oft beim Vater im Kontor
gesehen hatte, auf ihn zu, da wunderte Diederich sich schon, dass er nicht
früher gekommen sei. Herr Göppel fragte gleich nach Netzig und vor allem
nach dem alten Buck. "
(Heinrich Mann, Der Untertan, 35. Aufl.,
München: dtb 1993, S. 12f.)
Im siebten
Kapitel seines Romans »"Tadellöser & Wolff"
(1971) lässt der Autor »Walter Kempowski
(1929-2007) den
personalen Erzähler von seinen
Erfahrungen und der ersten Ausfahrt als Pimpf in der Hitlerjugend erzählen.
Dabei kommen verschiedene Formen der Zeitraffung vor. Die Verwendung der
Temporaladverbien "mittwochs"
und "sonnabends"
sind dabei Signale für die
iterative Raffung, der
"Dienst" an diesen Tagen wird damit als ein wöchentlich wiederkehrender
Vorgang ausgewiesen. Die zunächst weiter gestaltete iterative Raffung wird
mit dem Temporaladverb "meistens"
signalisiert und endet mit der Bemerkung "Aber
Oberlehrer Bartels, der blieb stehn und kuckte zu." Der
nachfolgende Abschnitt beginnend mit "»Halt die Hand da nicht so blöd«, sagte Eckhoff"
bis "Und: Hände an die Hosennaht!"
kann als eine eklektische Raffung im Sinne Lämmerts aufgefasst werden, da es
sich bei den erzählten Vorgängen um eine Art Beispiel aus den wöchentlichen
Zusammenkünften handelt. Der folgende Abschnitt, beginnend mit "Abends
probierte Ute meine Kluft an. " lässt sich nicht mit
letzter Sicherheit in gleicher Weise auffassen. Der Einsatz der Erzählung
vom Wochenende in Doberan ("An einem Wochenende ging es auf Fahrt nach Doberan.")
kommt zunächst mit der Verwendung des unbestimmten Artikels in der
temporalen Fügung wie eine eklektische Raffung daher, gewinnt aber
zusehends den Charakter eines im Erzählablauf mit
Sprungraffung und impliziter
Aussparungen gestalteten
zeitlich linearen Fortschreitens der Geschichte.
Mittwochs und
sonnabends gab es keine Schularbeiten auf, da war Dienst. Wenn es hieß: »Sportzeug ist mitzubringen«, wurde geboxt. Für Pimpfe gab es
extra dicke Handschuhe, damit es nicht so weh täte, Aber es reichte.
Da war das Marschieren schon angenehmer. Auf der Reiferbahn, unter Kastanien mit strammen Knospen, da lernten wir den
Unterschied zwischen Kommando und Ankündigungskommando. Wir begriffen, dass
die Kehrtwendung auf dem linken Hacken zu machen ist und dass der Daumen beim
»Still-stan’n!« angewinkelt werden muss. Obwohl es in der Vorschrift über den Jungvolkdienst hieß:
Grundsätzlich sind Ordnungsübungen nicht über die Zeitdauer einer Viertel- stunde auszudehnen…
wurden wir
meistens den ganzen Nachmittag geschliffen. Im nahen Finanzamt schloss man wegen des Lärms die Fenster, alte Frauen setzten sich woanders
hin. Aber Oberlehrer Bartels, der blieb stehn und kuckte zu.
»Halt die Hand da nicht so blöd«, sagte Eckhoff, mein Führer; er legte sie
mir zurecht. (Bartels nickte.) Sie fühle sich an wie ein Stück Klopapier.
Ich sei eine Pissnudel, ob ich das geschnallt hätte? (Mein Koppel stand immer auf halb acht.) Lästig war ihm, dass ständig ein kleiner halbirrer Junge um ihn war. Der
fragte dauernd, ob er nicht auch mitmachen dürfe. (Bartels schüttelte den
Kopf.) Schließlich packten ihn zwei und warfen ihn mit Schwung über einen Zaun. Zu Hause wurde ich von meiner Schwester fotografiert. Die Sonne schien, ich
musste blinzeln. »So ist’s recht!« rief sie, ich solle mal recht fröhlich
dreinschaun. Und: Hände an die Hosennaht!
Abends probierte Ute meine Kluft an. (»Lass das bloß keinen sehn!«) Ich
schloss ihr das Koppel, die Hose saß ziemlich stramm. Sie marschierte ein paarmal auf und ab und machte »Heitler« vor dem Spiegel.
Das Käppi sei pfundig. Dann legten wir uns unter den Tisch. Schön warm war das und mollig. Ob wir
uns bei den Pimpfen hauten, wollte sie wissen, und was ein Muskelreiter ist.
An einem Wochenende ging es auf Fahrt nach Doberan. »Dschungedi!« rief mein Vater,
»du willst ''auf Fahrt'? Die blauen Dragoner sie reiten?« »Primig«, sagte mein Bruder, ich sei ja direkt ein Hauptkerl. Und meine Mutter sagte: wenn was wär, solle ich mich an Tante Luise wenden,
eine herzensgute Frau, die wohne auch in Doberan. »Mein Peterpump.« Auf dem Dienstbefehl hatte gestanden: »Antreten 14 Uhr, Hauptbahnhof.« Unter
der Normaluhr war Sammeln. Schuhband, ein kleiner blonder Pimpf, marschierte quer über den Platz, als
müsse er Gleichschritt halten. Er machte sogar Schrittwechsel.
Eben stieg Frau Amtsgerichtsrat Warkentin schwerfällig in den Triebwagen der
Linie 11. (Anhänger kam nicht in Frage, da saßen Arbeiter und rauchten.) »Ach wissen Sie«, hatte sie mal zu meiner Mutter gesagt, »der deutschen
Jugend kann heute keiner mehr den Schneid abkaufen.« Alle hatten einen
Affen1, nur ich nicht. Ich trug einen unförmigen Wanderrucksack. Der stammte noch von der Hochzeitsreise meiner Eltern, 1920 Tegernsee. Als Decke hatte meine Mutter mir das italienische
Plaid2 mit den Fransen
rausgesucht, das sonst im Gästezimmer auf der Couch lag. Weil es sich nicht über den Rucksack schnallen ließ, hielt ich das über dem
Arm. »Schreibzeug ist mitzubringen«, hatte es geheißen: ein nach Eau de Cologne
riechendes Notizbuch aus der Handtasche meiner Mutter (Goldschnitt) und ein
Zimmermannsbleistift. Über dem granitenen Hakenkreuz, das am Haupteingang des Bahnhofes angebracht
war, die etwas verblassten, aber noch deutlich sichtbaren olympischen Ringe. Ich rufe die Jugend der Welt! (Jesse Owens lief zehn zwo und Oberleutnant Handrick holte trotz
Schlüsselbeinbruchs eine Goldene.) Eckhoff, unser Führer, sagte, er habe sein Fahrtenmesser angeschliffen. An seinem Koppel hing eine Meldetasche mit sechs angespitzen Bleistiften. Beim Geländespiel sollten wir acht geben, dass wir dem Unterlegenen den
Brustkorb nicht eindrückten. Das sei schon vorgekommen. A - e - i - o
- u So würde Meldung gemacht. Was - wer - wie - wo tut. »Ist das klar?« Als wir noch standen und auf den Pimpf Habersaath warteten, der sich
verspätet hatte »das iss’n richtiger Teepott!« - kamen plötzlich meine Mutter
und Ulla unter den Linden der Bismarckstraße hervorgeradelt. Mit fliegenden Röcken sprangen sie ab, nur eben wollten sie mir auf
Wiedersehen sagen. »Na, Dickerli?« Sie mischten sich mit frohem Blick unter die Pimpfe, und
Ulla legte mir die Hand auf die Schulter und meinte, nun sei ich schon ein
großer Bub. Wer der Führer sei, wollte meine Mutter wissen, der da mit dem
braungebrannten Gesicht? Das sei der Sohn von Studienrat Eckhoff? Fein … Inzwischen war Habersaath herangekeucht. »Wir sprechen uns noch…« Es konnte losgehn. Wegen des Rucksacks, sagte Eckhoff, sollte ich mir keine Sorgen machen. Ich
dürfe hinten gehen, dann dächten die Leute, ich sei der
Furier.3
In Doberan lagen wir in einer Scheune. Man hatte uns Stroh hineingetragen.
Mein Nebenmann, der kleine blonde Schuhband, pfiff vergnügt vor sich hin.
Heute Nacht käm der Heilge Geist, das sei klar. Arsch mit Wichse
einschmieren, durchhauen, unter die Pumpe halten. Mit seinen Latzschuhen, deren Sohlen mit sechseckigen Nägeln beschlagen
waren, ließ er auf dem Hof Funken sprühen.
Das Münster mit den alten Klostergebäuden. Eckhoff führte uns hinüber.
Vorher noch mal schnell die Schuhe putzen. Auf der Wiese vor dem Münster ein weißer Holzschwan auf einer Säule. Der
habe »Doberan! Doberan!« gerufen, daher der Name »Doberan«. An solchen
alten Sagen sei immer was Wahres dran, das könnten wir uns mal merken. Die Klostermauer habe man im vorigen Jahrhundert als Steinbruch benützt. So
etwas gäbe es unter dem Führer nicht.[...] (aus: Walter Kempowski,
Tadellöser & Wolff, 4. Aufl., o. O.: Goldmann Verlag 1984, S. 51 -
31) Worterklärungen:
1Affe:
Tornister
2Plaid:
Reisedecke, großes wollenes Umhangtuch
3Furier:
Der für Verpflegung und Unterkunft eine Truppe sorgende Unteroffizier
Im ersten Kapitel des Romans
»"Das Parfüm"
(1985) von
»Patrick Süskind
(geb. 1949) breitet der Erzähler aus, wie Grenouille im 18. Jahrhundert in der von
Gestank gekennzeichneten Stadt Paris geboren wird. In diesem Roman, der
zunächst mit einer äußerst detaillierten Beschreibung dieses Gestanks in
allen seinen Facetten einsetzt, schildert der Erzähler zunächst mit geringer
Raffungsintensität, die man unter Umständen noch als
Schrittraffung
auffassen kann, von den Umständen der Geburt. Dann - mit den
Auslassungspunkten
signalisiert - erzählt er in einer zusehends sich der
Zeitdeckung
annähernden Weise
den Geburtsvorgang selbst. (tendenziell
szenische Darstellung: "Was
ihr geschehen sei?" bis "»Von
den Fischen.«" ).
Im Anschluss daran erhöht sich das
Erzähltempo
zusehends, indem die Raffungsintensität implizit erhöht wird ("Von
Amts wegen wird es ..." bis "[...]
macht man ihr den Prozess"). Die
Aussparung mit der expliziten
Angabe "ein
paar Wochen später" macht die Hinrichtung von Grenouilles Mutter
zu einem letztlich unbedeutenden Randphänomen für den weiteren Fortgang der
Geschichte.
"[...]
Hier nun, am allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs, wurde am 17.
Juli 1738 Jean Baptiste Grenouille geboren. Es war einer der heißesten
Tage des Jahres. Die Hitze lag wie ein Brei über dem Friedhof und
quetschte den nach einer Mischung aus fauligen Melonen und verbranntem
Horn riechenden Verwesungsbrodem in die benachbarten Gassen. Grenouilles
Mutter stand, als die Wehen einsetzten, an einer Fischbude an der Rue aux
Fers und schuppte Weißlinge, die sie zuvor ausgenommen hatte. Die Fische,
angeblich erst am Morgen aus der Seine gezogen, stanken bereits so sehr,
dass ihr Geruch den Leichengeruch überdeckte. Grenouilles Mutter aber nahm
weder den Fisch- noch den Leichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen
Gerüche im höchsten Maße abgestumpft, und außerdem schmerzte ihr Leib, und
der Schmerz tötete alle Empfindlichkeit für äußere Sinneseindrücke. Sie
wollte nur noch, dass der Schmerz aufhöre, sie wollte die die eklige
Geburt so rasch als möglich hinter sich bringen. Es war die fünfte. Alle
vorhergehenden hatte sie hier an der Fischbude absolviert, und alle waren
Totgeburten oder Halbtotgeburten gewesen, denn das blutige Fleisch, das da
herauskam, unterschied sich nicht viel von dem Fischgekröse, das da schon
lag, und lebte auch nicht viel mehr, und abends wurde alles mitsammen
weggeschaufelt und hinübergekarrt zum Friedhof oder hinunter zum Fluss. So
sollte es auch heute sein, und Grenouilles Mutter, die noch eine junge
Frau war, gerade Mitte zwanzig, die noch ganz hübsch aussah und noch fast
alle Zähne im Munde hatte und auf dem Kopf noch etwas Haar und außer der
Gicht und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keine ernsthafte
Krankheit; die noch hoffte, lange zu leben, vielleicht fünf oder zehn
Jahre lang, und vielleicht sogar einmal zu heiraten und wirkliche Kinder
zu bekommen als ehrenwerte Frau eines verwitweten Handwerkers oder
so… Grenouilles Mutter wünschte, dass alles schon
vorüber wäre. Und als die Presswehen einsetzten, hockte sie sich unter
ihren Schlachttisch und gebar dort, wie schon vier Mal zuvor und nabelte
mit dem Fischmesser das neugeborene Ding ab. Dann aber, wegen der Hitze
und des Gestanks, den sie als solchen nicht wahrnahm, sondern nur als
etwas Unerträgliches, Betäubendes wie ein Feld von Lilien oder wie ein
enges Zimmer, in dem zuviel Narzissen stehen , wurde sie ohnmächtig,
kippte zur Seite, fiel unter dem Tisch hervor mitten auf die Straße und
blieb dort liegen, das Messer in der Hand. Geschrei, Gerenne, im Kreis stehende glotzende Menge, man holt die
Polizei. Immer noch liegt die Frau mit dem Messer in der Hand auf der
Straße, langsam kommt sie zu sich.
Was ihr geschehen sei? »Nichts.« Was sie mit dem Messer tue? »Nichts.« Woher das Blut an ihren Röcken komme?
»Von den Fischen.« Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen.
Da fängt wider Erwarten, die Geburt
unter dem Schlachttisch zu schreien an. Man schaut nach, entdeckt unter
einem Schwarm von Fliegen und zwischen Gekröse und abgeschlagenen
Fischköpfen das Neugeborene, zerrt es heraus.
Von Amts wegen wird es
einer Amme gegeben, die Mutter festgenommen. Und weil sie geständig
ist und ohne weiteres zugibt, dass sie das Ding bestimmt würde haben
verrecken lassen, wie sie es im Übrigen schon mit den vier anderen getan
habe, macht man ihr den Prozess,
verurteilt sie wegen mehrfachen Kindermords und schlägt ihr
ein paar Wochen später auf der Place
de Grève den Kopf ab. [...] (aus: Patrick Süskind, Das Parfum.
Geschichte eines Mörders, Zürich: Diogenes-Verlag 1985, S.6ff.)
Beispiel 4:
Im 7. Kapitel des II.
Teils rafft der Erzähler in ▪
Thomas Manns (1875-1955)
Roman ▪
Buddenbrooks mehrere Jahre zwischen der
Pensionatszeit und der Verheiratung von ▪
Antonie Buddenbrook (1827-?)
mit ▪ Bendix Grünlich
(1813-?) mit ein paar wenigen Sätzen.
"Hier ist zu erwähnen, dass Tony Buddenbrook in diesen Jahren zwei
mecklenburgische Güter besuchte. Ein paar Sommerwochen verlebte sie mit
ihrer Freundin Armgard auf dem Besitztum des Herrn von Schilling, das
Travemünde gegenüber jenseits der Bucht an der Küste lag. Und ein
anderes Mal reiste sie mit Cousine Thilda dorthin, wo Herr Bernhardt
Buddenbrook Inspektor war. Dieses Gut hieß »Ungnade« und brachte nicht
einen Heller ein; aber als Ferienaufenthalt war es trotzdem nicht zu
verachten.
So
wanderten die Jahre vorbei, und es war, alles in allem, eine glückliche
Jugendzeit, die Tony verlebte."
(Quelle: Thomas
Mann, Buddenbrooks, Frankfurt: Fischer 1999/2008, II, 7- S.
90) Mann, Thomas. Buddenbrooks: Verfall einer Familie (Fischer
Klassik) (S.52). FISCHER E-Books. Kindle-Version, an die
moderne Rechtschreibung angepasst, G. E.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
02.06.2024
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