▪ Leitfragen zur Analyse der
Zeitgestaltung in einer Erzählung
Die ▪ Erzählgeschwindigkeit (auch:
Erzähltempo,
Geschwindigkeit,
narratives Tempo
) ist ein wichtiger Aspekt bei der Untersuchung der ▪
Zeitgestaltung eines
▪ narrativen Textes.1
Edgar
Neis (1965) hat das
der Erzählgeschwindigkeit zugrunde liegende
Verhältnis von ▪
Erzählzeit
und ▪
erzählter Zeit an einigen Beispielen aus der
deutschen Literatur herausgearbeitet:
"Goethe benötigte, um die
etwa 10 Jahre dauernden Lehrjahre Wilhelm Meisters zu erzählen, etwa 600
Seiten;
Thomas Mann
für den im wesentlichen im Stil traditioneller Erzählkunst gehaltenen
Roman "Buddenbrooks"
etwa die gleiche Seitenzahl, um eine Zeitspanne von 42 Jahren
darzustellen; da weder alle Ereignisse der zehnjährigen Lehrzeit Wilhelm
Meisters noch die der vier Generationen der Lübecker Patrizierfamilie
vollständig auserzählt werden konnten, war eine starke
Raffung
der Zeit nötig, wenn der Zusammenhang der Handlung
überhaupt gewahrt werden sollte. Ganz anders aber ist der Erzählvorgang
bei
James Joyce, in dessen
Roman "Ulysses"
auf über 1600 Seiten ein einziger Tag dargestellt wird, wie ihn Menschen
in Dublin von 8 Uhr früh bis Mitternacht erleben. Hier zerdehnt der
Erzähler in einer einzigartigen Weise die Zeit und berichtet in einer Art
von Zeitlupentempo von allen Wegen, Besorgungen und Unternehmungen der
Menschen seines Romans - es sind dies der irisch-jüdische
Anzeigenvermittler Leopold Blum, seine Frau Marion und der junge Dichter
und Bohemien Stephan Dädalus -, vor allem aber lässt er sie ihre
Gedanken in endlosen
inneren
Monologen aussprechen. Diese bedingen denn auch das
außerordentliche Übergewicht der
Erzählzeit
gegenüber der
erzählten
Zeit."
(aus:
Neis, Struktur und Thematik, 1965,
S.66f.)
Eine Geschichte kann nicht "alles" erzählen
Jede Geschichte kann das Geschehen in unendlicher Weise zerkleinern und
damit mit unendlich vielen Informationen anreichern. Da sie das Geschehen
aber nicht "im Verhältnis eins zu eins abbilden kann, muss [sie] sich
notgedrungen auf eine bestimmte Menge von Geschehensmomenten beschränken und
diese im Status einer mehr oder weniger großen Unbestimmtheit belassen." (Schmid
2005, S.251)
Die Erzählgeschwindigkeit wird ausgedrückt durch das quantitative
Verhältnis der beiden Größen ▪
Erzählzeit
und ▪
erzählter Zeit.
Dabei muss man allerdings immer wieder darauf hinweisen, dass es sich
dabei um eine "Pseudo-Zeitlichkeit der (schriftlichen) Erzählung"
(Genette, Die Erzählung, 2. Aufl. 1998, S. 213) handelt, deren
Analyse ein Hilfsmittel zum Verstehen und Interpretieren von
Erzähltexten darstellt, das die beiden
Zeitebenen oder Zeitskalen
Erzählzeit und erzählte Zeit in ein funktionales Verhältnis
zueinander setzt. (vgl.
Schwarze 1982,
S.156)
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Grundformen der Erzählgeschwindigkeit: Anisochrones Erzählen
In den meisten Erzähltexten wechselt die Geschwindigkeit. Man nennt
dies Anisochronie.
Anisochrones Erzählen kommt dabei in verschiedenen Darstellungsformen
vor. Man kann dabei fünf Grundformen der Erzählgeschwindigkeit
unterscheiden: ▪
Szene,
▪ Dehnung,
▪ Raffung,
▪ Ellipse,
▪ Pause
Martinez/Scheffel (1998/2016, S.47).2
In diesen Darstellungsformen hat man es also mit
unterschiedlichen Erzählgeschwindigkeiten zu tun. Ihre Mischung
rhythmisiert die Erzählung.
Änderungen bzw. Wechsel der Erzählgeschwindigkeiten können größere
oder kleinere Textsegmente betreffen und die Anzahl der in einem
Erzähltext feststellbaren Veränderungen der Geschwindigkeit ist
natürlich von Text zu Text unterschiedlich. In der Regel sind immer nur
bestimmte Abschnitte bzw.
narrative
Blöcke, die sich mit ihren zeitlichen Brüchen und/oder räumlichen
Veränderungen von anderen abgrenzen lassen, die von einer bestimmten
Erzählgeschwindigkeit gekennzeichnet sind.
Wenn man die Gesamtheit der Änderungen der Erzählgeschwindigkeit in
einem Erzähltext unter die Lupe nimmt, ergibt sich das
Geschwindigkeitsspektrum des Textes.
Das Geschwindigkeitsspektrum einer Erzählung kann bei Anisochronie
aus Textpartien mit ▪ Zeitdeckung, ▪
Zeitraffung, ▪
Aussparung (Ellipse), ▪ Zeitdehnung
oder ▪ Pausen gebildet werden, muss aber
nicht alle diese Formen aufweisen. Sie weisen ein jeweils eigenes
Verhältnis von
Erzählzeit zu
erzählter Zeit
auf.
Zunächst sind jedoch
Zeitdeckung, Zeitraffung und Zeitdehnung
die wesentlichen Gestaltungselemente, die
sich aus dem Verhältnis der beiden Zeitebenen ergeben.
Raffung und Dehnung sind relative Begriffe
Dabei darf indessen nicht übersehen werden, dass insbesondere die
Begriffe Raffung und Dehnung nur "relative Begriffe" sind, "für die es
keinen objektiven Maßstab gibt." (Schmid
2005, S.253) Das Verhältnis der Größen Erzählzeit und erzählte Zeit
kann also nicht quantitativ skaliert werden, sondern nur im Vergleich
von Textpassagen.
Ob man die Erzählgeschwindigkeit im Falle der Raffung als schnell
und bei der Dehnung als langsam bezeichnen will und das seit
Lämmert
(1995, S.83.f) in der
älteren
Erzähltheorie vertretene Konzept des ▪
zeitdeckenden Erzählens als prinzipiell unmöglich aus der
Zeitanalyse eines Erzähltextes gänzlich verbannen sollte, wie
Wolf Schmid
(2005, S.253f.) fordert, muss an dieser Stelle offen bleiben. Im
Literaturunterricht jedenfalls lässt sich die prinzipielle Unmöglichkeit
zeitdeckenden Erzählens mit dem Formelzeichen
≈ ausdrücken und damit unterstreichen, dass es sich dabei nur um eine
Annäherung der beiden Größen Erzählzeit und erzählte Zeit handelt, die
im Konzept der Erzählgeschwindigkeit den Vergleich zulässt.
Anmerkungen:
1 Die ▪ Erzählgeschwindigkeit
ist hier eine Kategorie der ▪
Dauer ▪ bei der
Untersuchung der ▪ Zeitgestaltung eines
▪ narrativen Textes.* Anders als z. B.
Gérard Genette (Die Erzählung, 2. Aufl. 1998, S. 213), der später
der Ansicht war, er hätte seine Kategorie der Dauer besser
"Geschwindigkeit" oder gar "Geschwindigkeiten" nennen sollen, wird der
Begriff Erzählgeschwindigkeit hier als untergeordnete Kategorie der
Dauer verwendet, um ihre jeweiligen Komponenten und ihr quantitatives
Verhältnis zueinander (= Erzählgeschwindigkeit) als Unterkategorien
verwenden zu können.
2 Genette
unterscheidet vier Grundformen des narrativen Tempos (= Tempi), nämlich
▪ Ellipse, ▪ Szene,
Summary
und ▪ (deskriptiver) Pause
voneinander unterscheiden. (vgl.
Genette 2. Aufl.
1998, S.67)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
02.06.2024
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