▪ Leitfragen zur Analyse der
Zeitgestaltung in einer Erzählung
Zeitdehnendes Erzählen ist ein Erzählstruktur, die durch die
besondere Gestaltung des Funktionsverhältnisses von
Erzählzeit
und
erzählter Zeit
realisiert wird. Es ist in gewisser Hinsicht mit der
Zeitlupentechnik im Film vergleichbar. Diese Form der
Zeitgestaltung
kann
in einem epischen Text besonders wirkungsvoll verwendet werden.
Zeitdehnend wird erzählt,
wenn die
Erzählzeit
(Lesezeit) länger ist als die
erzählte Zeit.
Zeitdehnung:
Erzählzeit > erzählte Zeit |
Man kann grundsätzlich drei verschiedene Arten erzählerischer Mittel
unterscheiden, mit denen sich Zeitdehnung beim Erzählen realisieren lässt:
Manche Ereignisse lassen sich, da sie sich sehr schnell vollziehen, kaum
darstellen, ohne eine gewisse Zeitdehnung beim Erzählen. Solche Fälle gehen
gewöhnlich nicht in die Betrachtung ein, da das ihnen zugrunde liegende
Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit kein Element erzählerischen
Gestaltungswillens darstellt. Anders ist dies im Falle des
Romanauszugs von
Michael Lamprecht, bei dem die offenkundige Unmöglichkeit im
Erzählen das Malheur beim Verschlucken genauer darzustellen, ohne die Zeit
auszudehnen, zu komischen Effekten führt.
Häufig findet man das zeitdehnende Erzählen bei der sprachlichen
Wiedergabe schnell ablaufender Bewusstseinsprozesse des
Erzählers selbst oder einzelner
Figuren. Dies kann
einfach dadurch geschehen, dass in ein Geschehen mit einer bestimmten,
vergleichsweise kurzen zeitlichen Dauer Gedanken, Gefühle und Kommentare
eingeflochten werden, die die Erzählzeit (Lesezeit) über den rein
physikalisch-natürlichen Ablauf der Zeit hinaus ausweiten. In einem solchen
Fall unterbrechen derartige Einflechtungen, als
Erzählerbericht,
erlebte Rede,
innerer Monolog oder
Bewusstseinsstrom gestaltet,
den natürlichen Zeitablauf. Dabei ist es natürlich wichtig, im Einzelnen zu
untersuchen, warum dies der Fall ist, das Erzählverhalten zu reflektieren
und die Beziehung des Erzählers zu dem dargestellten Geschehen zu
analysieren. Warum, so ist also zu fragen, werden vom Erzähler welche
inneren Bewegungen seines Bewusstseins eingefügt?
Der Erzähler in Michael Lamprechts "Pizza
picante" (Romanauszug) schildert die Situation beim
Pizzaessen mit Regina, für die er sich interessiert. Dabei versucht er einen
guten Eindruck zu machen. Als ihm freilich ein Stück scharfe Peperoni in den
Hals rutscht, gerät die Situation aus den Fugen und die durch die
sprachliche Realisierung des Geschehens erzeugte Zeitdehnung erzeugt beim
personalen Erzählen komische Effekte, die mit dem raschen und
unvermittelten Wechsel der
Darbietungsformen noch
verstärkt werden.
Zwei Bier und einmal Pizza picante. Nein, Regina, wollte nichts essen,
meinte, sie sei satt. Markus überlegte, ob er seine Pizza auch wieder
abbestellen sollte, denn der Gedanke, vor ihren Augen allein diesen
belegten Hefeteig vertilgen zu müssen, verunsicherte ihn sehr. [...]
Er war ganz zufrieden mit sich. Doch dann kam die Pizza. "Willst du nicht
wenigstens mal probieren?" fragte er, um Regina doch noch in die
Speiseverrichtung einzubeziehen, die nun bevorstand. Aber sie lehnte
weiterhin ab, jetzt schon fast genervt. So stach er nur für sich in den
harten Teig und musste aufpassen, dass der Teller dabei nicht kippte. "Wie
kann man eine so große Pizza nur auf einem Teller servieren, die gehört
auf ein Holzbrett", suchte Markus nach einer Entschuldigung und erschrak
über das Messer, das über das Porzellan quiekte. Das war ein viel
versprechender Start. Er traute sich jetzt nicht, Regina anzusehen.
Wahrscheinlich saß sie da, nippte genüsslich an ihrem Bier und freute sich
auf das tolle Programm, das gerade erst begonnen hatte: Ein Mann und seine
Pizza. Dreidimensional. Regina in der ersten Reihe, ganz dicht dran. Life.
Der Schnitt war nicht tief genug. Markus zerrte das angeschnittene Stück
mit der Gabel vom Pizzarund, auf das er das Messer presste um die
notwendige Gegenkraft aufbringen zu können. Jetzt quiekte die Gabel. Es
gab einen Ruck und beinahe hätte er das große Stück mit dem Messer vom
Teller gefegt. Er hatte noch nichts gegessen, und trotzdem arbeiteten
seine Schweißdrüsen schon mit voller Kraft. Markus führte die Gabel
möglichst ruhig vor seinen Mund, den er sehr spät und nur leicht öffnete.
Unauffällig wollte er das Stück in den elegant wartenden Mundwinkel
schieben. Er wollte den Eindruck vermitteln, als sei es für ihn völlig
selbstverständlich, vor einer wildfremden Frau zu sitzen, um vor ihren
prüfenden Augen eine Pizza zu verspeisen.
Jetzt machte er sich Sorgen um seine Kaugeräusche. Er kaute so langsam und
so wenig wie möglich, und dennoch erreichte sein Schmatzen Regina
sicherlich im Dolby-Stereo-Sound. Was sollte er machen. Einspeicheln ist
wichtig. Kräftiges Einspeicheln verhindert magenbedingten Mundgeruch. Er
war in einer Zwickmühle und hoffte nur, dass kein Tomatenmark an seinem
Kinn hängen geblieben war.
Dann plötzlich dieses Brennen im Hals, das runterwandert bis zum Magen und
die Speiseröhre zum Kochen bringt. Die Spur einer Peperoni, die Markus
gedankenverloren auf die Gabel gespießt hatte, ohne an den Beinamen seiner
Pizza zu denken, der ihm aber jetzt schweißnass aus den Augen quoll:
picante! Das Bier, denkt Markus, das könnte mich retten. Er greift zu dem
Glas und nimmt einen kräftigen Schluck, um das tobende Feuer in seiner
Brust zu löschen. Doch das Bier kommt nicht weit, vielleicht bis zum
ersten Halswirbel. Da stemmt sich ihm ein Schluckauf entgegen, der die
Speiseröhre versperrt. Und zurück mit dem Schluck durch Nase und Mund.
Markus prustet fürchterlich, und nicht alles an Regina vorbei.
Er läuft rot an und weiß, dass er den Peperonivorfall jetzt nicht länger
für sich behalten kann. Und weil nun sowieso alles egal ist, stürzt er zur
Toilette und lässt sich das Chlorwasser durch Schlund und Kehle laufen. Er
kühlt seine Stirn, schaut verlegen in den Spiegel, wünscht, Ruth säße
nebenan am Tisch und wischte sich sein Bier aus dem Haar. [...]
(Michael Lamprecht, Die Gegenwart der Vergangenheit der
Liebe, 1987, S.58-61)
Der
auktoriale Erzähler in
Thomas Manns
Roman "Lotte in Weimar" schildert am Anfang des Romans das Eintreffen
der Hofrätin Charlotte Kestner mit ihrer Tochter und Zofe am Gasthof "Zum
Elephanten" in Weimar. Dabei unterbricht der den Ablauf der erzählten Zeit,
im wesentlichen durch den Dialog des Kellners Mager mit Charlotte Kestner
markiert, mit seinem beschreibenden
Erzählerbericht und wertenden
Erzählerkommentar.
Der Kellner des Gasthofes »Zum Elephanten« in Weimar, Mager, ein
gebildeter Mann, hatte an einem fast noch sommerlichen Tage ziemlich tief
im September des Jahres 1816 ein bewegendes, freudig verwirrendes
Erlebnis. Nicht, dass etwas Unnatürliches an dem Vorfall gewesen wäre; und
doch kann man sagen, dass Mager eine Weile zu träumen glaubte.
Mit
der ordinären Post von Gotha trafen an diesem Tage, morgens kurz nach 8
Uhr, drei Frauenzimmer vor dem renommierten Hause am Markte ein, denen auf
den ersten Blick - und auch auf den zweiten noch - nichts Sonderliches
anzumerken gewesen war. Ihr Verhältnis untereinander war leicht zu
beurteilen: Es waren Mutter, Tochter und Zofe. Mager, der, zu
Willkommsbücklingen bereit, im Eingangsbogen stand, hatte zugesehen, wie
der Hausknecht den beiden ersteren von den Trittbrettern auf das Pflaster
half, während die Kammerkatze, Clärchen gerufen, sich von dem Schwager
verabschiedete, bei dem sie gesessen hatte, und mit dem sie sich gut
unterhalten zu haben schien. Der Mann sah sie lächelnd von der Seite an,
wahrscheinlich im Gedanken an den auswärtigen Dialekt, den die Reisende
gesprochen, und folgte ihr in einer Art von spöttischer Versonnenheit mit
den Augen, indes sie nicht ohne unnötige Windungen, Raffungen und
Zierlichkeiten, sich vom hohen Sitze hinunterfand. Dann zog er an der
Schnur sein Horn vom Rücken und begann zum Wohlgefallen einiger Buben und
Frühpassanten, die der Ankunft beiwohnten, sehr empfindsam zu sein. Die
Damen standen noch, dem Hause abgekehrt, bei dem Postwagen, die
Niederholung ihres übrigens bescheidenen Gepäcks zu überwachen, und Mager
wartete den Augenblick ab, wo sie, beruhigt über ihr Eigentum, sich gegen
den Eingang wandten, um ihnen sodann, ganz Diplomat, ein verbindliches und
gleichwohl leicht zögerndes Lächeln auf dem käsefarbenen, von einem
rötlichen Backenbart eingefassten Gesicht, in seinem zugeknöpften Frack,
seinem verwaschenen Halstuch im abstehenden Schalkragen und seinen über
den sehr großen Füßen eng zulaufenden Hosen, auf den Bürgersteig
entgegenzukommen. »Guten Tag, mein Freund!« sagte die mütterliche der
beiden Damen, eine Matrone allerdings, schon recht bei Jahren, Ende
fünfzig zumindest, ein wenig rundlich, in einem weißen Kleide mit
schwarzem Umhang, Halbhandschuhen aus Zwirn und einer hohen
Capotte1,
unter der krauses Haar, von dem aschigen Grau, das ehemals blond gewesen,
hervorschaute. »Logis für Dreie brauchten wir also, ein zweischläfrig
Zimmer für mich und mein Kind« (das Kind war auch die Jüngste nicht mehr,
wohl Ende zwanzig, mit braunen Korkenzieherlocken, ein Kräuschen um den
Hals; das fein gebogene Näschen der Mutter war bei ihr ein wenig zu
scharf, zu hart ausgefallen) - »und eine Kammer, nicht zu weitab, für
meine Jungfer. Wird das zu haben sein?«
Die blauen Augen der Frau, von distinguierter Mattigkeit, blickten an dem
Kellner vorbei auf die Front des Gasthauses; ihr kleiner Mund, eingebettet
in einigen Altersspeck der Wangen, bewegte sich eigentümlich angenehm. In
ihrer Jugend mochte sie reizvoller gewesen sein, als die Tochter es heute
noch war. Was an ihr auffiel, war ein nickendes Zittern des Kopfes, das
aber zum Teil als Bekräftigung ihrer Worte und rasche Aufforderung zur
Zustimmung wirkte, so dass seine Ursache nicht so sehr Schwäche als
Lebhaftigkeit oder allenfalls beides gleichermaßen zu sein schien.
»Sehr wohl«, erwiderte der Aufwärter, der Mutter und Tochter und die Zofe
zum Eingang geleitete, während die Zofe, eine Hutschachtel schlenkernd,
folgte. »Zwar sind wir, wie üblich, stark besetzt und können leicht in die
Lage kommen, selbst Personen von Stand abschlägig bescheiden zu müssen,
doch werden wir keine Anstrengung scheuen, den Wünschen der Damen aufs
beste zu genügen.«
»Nun, das ist ja schön«, versetzte die Fremde und tauschte einen heitern
Achtungsblick mit ihrer Tochter ob der wohl gefügten und dabei stark
thüringisch-sächsisch gefärbten Redeweise des Mannes.
»Darf ich bitten? Ich bitte sehr!« sagte Mager, sie in den Flur
komplimentierend. »Der Empfang ist zur Rechten. Frau Elmenreich, die
Wirtin des Hauses, wird sich ein Vergnügen daraus machen. - Ich darf wohl
bitten!« (aus: Thomas Mann, Lotte in Weimar, 32. Aufl., Frankfurt/M:
Fischer 1999, S.9f.)
Worterklärungen:
1Capotte:
Der Erzähler in
Jorge Luis Borges, Das
geheime Wunder gestaltet
durch eine extreme Zeitdehnung einen Bereich imaginärer Zeit, der sich im
Bewusstsein des Protagonisten Jaromir Hladik abspielt.
Das Pikett1
formierte sich, richtete sich aus. Hladik erwartete aufrecht vor der Wand
die Salve. […] Ein schwerer Regentropfen streifte Hladiks Schläfe und
rollte langsam seine Wange herab. Der Sergeant schrie den Schussbefehl.
Das physische Universum blieb stehen.
Die Gewehre waren auf Hladik gerichtet, aber die Männer, die ihn töten
sollten, waren unbeweglich.
Der Arm des Sergeanten verewigte eine
unabgeschlossene Gebärde. Auf eine Fliese des Hofs warf eine Biene einen
festen Schatten. Wie auf einem Bild hatte der Wind zu wehen aufgehört. Hladik versuchte einen Schrei, eine Silbe, die Drehung einer Hand. Er
begriff, dass er gelähmt war. Kein noch so schwacher Laut erreichte ihn
mehr aus der lahm gelegten Welt. Er dachte: Ich bin in der Hölle, ich
bin tot. Er dachte: Ich bin wahnsinnig. Er dachte: Die Zeit
ist stehen geblieben. Dann überlegte er, dass in diesem Fall ja auch
sein Denken mit stehen geblieben wäre. Er wollte die Probe machen: ohne
die Lippen zu bewegen, sagte er sich die geheimnisvolle vierte Ekloge von
Vergil vor. [..] Nach einer unbestimmten Zeit schlief er ein. Als er
aufwachte, war die Welt noch immer unbeweglich und taub. Auf seiner Wange
dauerte der Wassertropfen, im Hof der Schatten der Biene; der Rauch der
Zigarette, die er fortgeworfen hatte, kam nicht dazu sich zu
verflüchtigen. Es verging ein weiterer Tag, bevor Hladik begriff.
Ein volles Jahr hatte er von Gott erbeten, um sein Werk zu beenden; ein
Jahr gewährte ihm seine Allmacht. Gott vollbrachte für ihn ein geheimes
Wunder: das Blei der Deutschen würde ihn zur bestimmten Stunde töten, aber
in seinem Geist würde ein Jahr vergehen zwischen dem Befehl zum Feuern und
der Ausführung des Befehls. […]
Er verfügte über kein schriftliches Zeugnis außer seinem Gedächtnis. Das
Abwägen jeden Hexame-ters2 , den er hinzufügte, nötigte ihn
zu einer vorteilhaften Strenge […] Zweimal überarbeitete er den dritten
Akt. […] Er ließ fort, kürzte, erweiterte; in einem Fall kam er auf die
erste Fassung zurück. […] Er beendete sein Drama: nur die Frage eines
einzigen Beiwortes galt es noch zu lösen. Er fand es: der Wassertropfen
rollte über seine Wange herab. Er stieß einen Schrei aus, wandte sein
Gesicht, die vierfache Salve warf ihn nieder.
Jaromir Hladik starb am neunundzwanzigsten März, um neun Uhr zwei Minuten.
(aus: Jorge Luis Borges, Sämtliche Erzählungen. Aus
dem Spanischen überragen von Karl August Horst sowie von Eva Hessel und
Wolfgang Luchting, München 1970: Carl Hanser Verlag, S. 243 - 250)
Worterklärungen:
1Pikett:
Vorposten, Kompanie, Bereitschaft
2Hexameter:
Vers bestehend aus 6 Versfüßen (meist Daktylen)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
02.06.2024
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