Neutrales Erzählen - gibt es oder gibt es nicht?
Die ▪
neutrale Erzählsituation stellt eine besondere Variante der ▪
personalen Erzählsituation dar.
So hat es jedenfalls »Franz
K. Stanzel (geb. 1924)
in seiner frühen Ausarbeitung (Die typischen Erzählsituationen im
Roman 1955) gesehen, die er später jedoch "ohne weitere Begründung"
(Vogt
2014, S.52, Anmerk.7), vielleicht etwas "voreilig" (ebd.,
S.90) aufgegeben hat. Zur begrifflichen Verwirrung über die neutrale Erzählsituation hat Stanzel
also selbst erheblich beigetragen.
Von bestimmten
Vertretern der
neueren Erzähltheorie
wird diese Vorstellung, aber auch andere ein quasi erzählerloses
Erzählen unterstellende Konzepte ohnehin
abgelehnt, weil Perspektive eine basale Grundeigenschaft allen Erzählens
darstellt. (z. B.
Schmid 2005, S.133).
Dennoch halten wir hier, schon allein aus didaktischen Gründen, daran
fest, selbst wenn es analytische und erkenntnistheoretische Einwände
gibt, die man nicht so eine Weiteres beiseite wischen kann. In der
schulischen Interpretationspraxis jedenfalls hat sich die Beibehaltung
der neutralen Erzählsituation, die ja auch auf besondere Weise in das ▪
Fokalisierungkonzept von Gerard
Genette
(2. Aufl. 1998, S.134ff.) mit der in sogenannten
externen
Fokalisierung wieder Eingang gefunden hat, durchaus als Hilfsmittel
der Interpretation bewährt.
Neutrales Erzählen: Eine Geschichte vor der Optik einer
Kamera
»Neutral« bedeutet in diesem Zusammenhang: vom Standpunkt (point
of view) eines unsichtbar bleibenden Beobachters, der das Geschehen
wie von der Optik einer Kamera aufgenommen aus betrachtet, ("Camera-eye",
Friedmann 1955).

Die neutrale Erzählperspektive wirkt quasi erzählerlos und findet
sich oft bei Texten mit einem sehr hohen Anteil
szenischer Darstellung). (vgl.
Bleissem u. a. 1996, S.74)
Abgrenzung von der auktorialen und der personalen Erzählsituation
In der Abgrenzung von der ▪ auktorialen und
der ▪ personalen Erzählsituation
lassen sich die besonderen Eigenarten der neutralen Erzählsituation
erkennen.
Der neutrale Erzähler ist
Die ▪
personale Erzählperspektive
vermittelt zwar in gewisser Weise auch den Eindruck eines
erzählerlosen Erzählens (s. o.), weil die Welt der Erzählung nicht
von einem persönlich konturierten und greifbaren Erzähler wie bei
der ▪ auktorialen Erzählperspektive (s.
o.) vermittelt wird. Was man aber spüren kann, ist, dass sich das
Geschehen im Bewusstsein einer Figur (mitunter auch mehrerer
Figuren) spiegelt, der Erzähler also die Wahrnehmungsperspektive (perzeptive
Perspektive)
einer Figur einnimmt und im Modus des
Showing
das Geschehen so erzählt, wie die Figur es die Figur erlebt.
Personale und neutrale
Erzählsituation
Die neutrale
Erzählsituation, die, wie gesagt, als eine Variante der personalen
Erzählsituation angesehen werden kann, verzichtet im Allgemeinen auf
Innensicht. Was erzählt wird, ist nicht an die
Wahrnehmungsperspektive einer Figur oder wechselnder Figuren der
Erzählung gebunden.
Was erzählt wird,
erscheint, da sich der Erzähler im Unterschied zur auktorialen und
personalen Erzählperspektive bis zur Unkenntlichkeit zurückzieht, wie
"objektiv" von einer Kamera aufgenommen ("Camera-eye"-Position,
Friedmann 1955). Insofern wirkt es in besonderem Maße wie ein quasi
erzählerloses Erzählen, wenn der Erzähler quasi de-personalisiert wird
und sich in verschiedenen Formen entpsychologisierter
Bewusstseinsdarstellung manifestiert (vgl.
Graevenitz 1982, S.96)
Dabei muss natürlich
beachtet werden, dass auch die Wahl des Kamerastandorts und die
Variabeln einer
Kameraeinstellung gegenüber dem aufgezeichneten Geschehen
prinzipiell nicht "neutral" sein können.
Die neutrale
Erzählperspektive legt, davon abgesehen, die Deutung des erzählten
Geschehens ganz in die Hand des Lesers und zielt auf die unmittelbare
Wirkung des ohne spürbare Lenkung dargebotenen Geschehens.
Erzählsituationen können
sich auch innerhalb eines Textes ändern
Ein literarischer Text
muss keineswegs das Erzählte nur aus einer Erzählerperspektive
darbieten, auch wenn viele Texte das tun. In der modernen Literatur
wird die Erzählperspektiven aber auch häufig innerhalb ein und
desselben Textes geändert. Dies gilt in besonderer Weise bei der
neutralen und der personalen Erzählsituation.
Daher lassen sich bestimmte
Erzählperspektiven oft nicht unbedingt zur Charakterisierung eines gesamten
Werkes oder auch nur eines größeren Abschnitts heranziehen, "sondern
lediglich zur Klassifizierung kleinerer Erzähleinheiten" (Vogt
1990, S. 52)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
26.05.2022
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