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Erzählsituationen

Überblick

»Franz K. Stanzel

 
FAChbereich Deutsch
Glossar
Literatur:▪ Autorinnen und Autoren Gattungen Erzählende Texte Überblick Lesen erzählender Texte (Inferenzbildung und Situationsmodelle) Strukturen von Erzähltexten Strukturwandel in der modernen Epik Strukturbegriffe der Erzähltextanalyse Überblick Auswahl (Zusammenstellungen wichtiger Strukturbegriffe) Darstellungsebene und Ebene des Dargestellten WIE WIRD ERZÄHLT? (Zeitgestaltung, Perspektiven, Darbietungsformen ...) Überblick Modell der narrativen KommunikationZeitgestaltung Typologien des Erzählers Überblick [ Erzählsituationen (Stanzel) Überblick Tabellarische Übersicht ▪ Leitfragen zur Analyse Auktoriale Erzählsituation Personale Erzählsituation Neutrale Erzählsituation Ich-Erzählsituation ▪ Typenkreis der Erzählsituationen Textauswahl Bausteine ] Kriteriengeleitete Beschreibung von Erzählertypen (Dichotomien)Perspektiven beim Erzählen ▪ Darstellung von Ereignissen Darstellung von Rede und mentalen VorgängenWissensvermittlung und InformationsvergabeErzählen über das Erzählen Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit des ErzählensStilmerkmale der Erzählung Bausteine  Was wird erzählt? (Handlung, erzählte Welt, Figur, Raum) BausteineTextauswahl BausteineFormen erzählender Texte Textauswahl Dramatische Texte Lyrische Texte Literarische Zweckformen  Literaturgeschichte Motive der Literatur Grundlagen der Textanalyse und Interpretation Literaturunterricht Schreibformen ▪ Analyse und Interpretation von Erzähltexten in der Schule Operatoren im Fach Deutsch
    

Perspektiven beim Erzählen
Überblick
▪  Modelle der Perspektiven beim Erzählen
Überblick
Standort des Erzählers (point of view)
Erzählsituationen (Stanzel)
 ▪ Erzählformen und Erzählverhalten (Petersen)
 
Fokalisierung (Genette)
Aspekte der narratorialen und figuralen Perspektive (Schmid
Schulische Erzähltextanalyse

Was unter Perspektive und Erzählperspektive zu verstehen ist, ist in der Literaturwissenschaft bzw. ihrem besonderen Zweig der »Narratologie umstrittener denn je.

Im Literaturunterricht der Schule dominieren aber aus gutem Grund bis heute Kategorien der traditionellen, älteren literaturwissenschaftlichen Erzählforschung. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit im Gegensatz zur neueren Erzähltheorie "auf die formalen Facetten der Relation zwischen dem Erzähler und der erzählten Welt" (Schmid 2011, S.138).

So wird in der Schule vor allem auf die Arbeiten von »Franz K. Stanzel (geb. 1924) (z. B. Die typischen Erzählsituationen im Roman 1955, Typische Formen des Romans 1964/1979, Theorie des Erzählens 1979) und »Eberhard Lämmert (1924-2015) (z. B. Bauformen des Erzählens 1952/55) Bezug genommen.

Was die beiden Literaturwissenschaftler erarbeitet haben, ist in unterschiedlichem Maße auch bis in heute noch populäre Einführungen in die Literaturwissenschaft eingegangen.

Wer hingegen ein im Vergleich zu Stanzels Konzept "weitaus offeneres, programmatisch dynamischeres und der erzählerischen Praxis in der Tat angemesseneres Instrumentarium" (Jeßing/Köhnen 22007, S.189) bevorzugt, findet in der ▪ Erzähltextanalyse nach Petersen (1998), eine kriterienorientierte Alternative zu dem triadischen Konzept von Stanzel. Dabei kann die etwas ▪ vereinfachte Form der "Kategorientafel" (Petersen 1998, S.8), die Petersen an anderer Stelle (72006, S.58) zusammengestellt hat, insbesondere für die ▪ schulische Analyse erzählender Texte nicht nur aus didaktischen Gründen die elementaren Instrumente im "▪Werkzeugkasten" bereitstellen.

Mittelbarkeit als Ausgangspunkt der Beschreibung eines Erzähltextes

»Franz K. Stanzel (geb. 1924) hat seine Vorstellungen über das Erzählen vor allem auf der Basis der sogenannten Mittelbarkeit des Erzählens durch einen Erzähler oder eine Erzählinstanz entwickelt  (Gegensatz dazu z. B. Erzählen als Zustandsveränderung).

Der Erzähler ist für Stanzel ein (Aussage-)Subjekt, so wie es auch bei den meisten Erzähltexten vom Leser wahrgenommen wird. Diesen Subjektstatus besitzt der Erzähler selbst dann, wenn er wie z. B. im Fall der ▪ Tierfabel mit bestimmten anthropomorphen Eigenschaften ausgestattet ein Tier ist.

Die Mittelbarkeit ist für ihn das wichtigste Gattungsmerkmal erzählender Text, die sich im Erzählvorgang und dem erzählten Vorgang zeigt. Der Erzähler spielt seine Mittlerrolle einerseits zwischen dem Autor und der erzählten Geschichte, andererseits zwischen der Geschichte und ihrem Leser.

Der reale Autor kommt in der Geschichte nicht selbst zu Wort. Stattdessen beauftragt er den Erzähler als eine Art Stellvertreter. Dieser Erzähler ist in der Regel fiktiv und die Beziehung zwischen Erzähler und Autor lässt sich vereinfacht auf den Satz bringen: "Der reale Autor erfindet, der fiktive Erzähler erzählt, was gewesen ist." (Scheffel 2006, S.106) So ist jeder "implizit dargestellte Erzähler ein Konstrukt" (Schmid 2011, S.131)

Der Erzähler wird vom realen Autor mit bestimmten Fähigkeiten ausgestattet, die ihm unterschiedliche Möglichkeiten zur Gestaltung der Geschichte lassen. Es kommt vor, dass man den Erzähler quasi persönlich zu fassen glaubt, aber genauso gut kann es sein, dass er sich so sehr hinter das erzählte Geschehen zurückzieht, dass es den Anschein hat, es gäbe ihn gar nicht.

Die typischen Erzählsituationen nach Stanzel

»Franz K. Stanzel (geb. 1924) hat seine Vorstellungen über das Erzählen, bei dem die Mittelbarkeit des Erzählens durch einen Erzähler oder eine Erzählinstanz im Mittelpunkt steht als sogenannte ▪ Erzählsituation konzipiert. Mit dieser komplexen Kategorie wird das jeweils spezifische Zusammenwirken bestimmter Elemente des Erzählens erfasst und beschrieben.

Sein Konzept der Erzählsituationen hat Stanzel im Verlauf von Jahrzehnten immer wieder überarbeitet (z. B. Die typischen Erzählsituationen im Roman 1955, Typische Formen des Romans 1964/1979, Theorie des Erzählens 1979) und dabei mal drei, mal vier ▪ idealtypische Erzählsituationen unterschieden. Ob drei oder vier Erzählsituationen hängt dabei davon ab, ob den anderen dreien (▪ auktoriale E., ▪ personale E. und ▪ Ich-Erzählsituation) eine ▪ neutrale Erzählsituation beigeordnet wird, die sich von jenen unterscheiden lässt.


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Franz K. Stanzel (1964) verwendet statt des Begriffs Erzählperspektive den der Erzählsituation und manchmal wird, meistens mehr oder weniger synonym, Erzählhaltung verwendet. Er tut dies mit Bedacht, weil erstens sein Konzept sich nicht auf die Erzählperspektive reduzieren lässt, und zweitens, der Begriff der Perspektive bei Stanzel eine andere eingeschränktere Bedeutung besitzt.

Das triadische Konzept Stanzels

Das ▪ Konzept der Erzäxhlsituation beruht bei Stanzel auf einer Kombination (Triade) von drei Elementen (Konstituenten): Person, Perspektive und Modus.


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In einem Kreismodell, oft auch einfach "Erzählkreis" genannt, das diesen triadischen Ansatz ▪ visualisiert, zieht Stanzel drei Gegensatzpaare als kategoriale Achsen ein, an deren Ende auf dem Erzählkreis jeweils einer der beiden Pole liegt. Das Kreismodell soll dabei vor allem den Systemcharakter seines Ansatzes verdeutlichen.

Dabei werden die typischen Erzählsituationen von jeweils einem Pol der idealtypischen Konstituenten Person, Perspektive und Modus dominiert.

Zieht man, wie Stanzel es in seinem komplexen Typenkreis zu eine - geometrisch ausgedrückt - Mittelsenkrechte, die von der Kreismitte zum Kreisrand an beiden Seiten führt, kommt man zu den den Grenzen, die zwischen den zwei Polen einer Kategorie liegen und damit eine Übergangszone darstellen. Dies hat Stanzel in seinem allerdings auch sehr umstrittenen ▪ Typenkreis der Erzählsituationen umgesetzt.

Person

Eine der drei aus den Gegensatzpaaren (Binäroppositionen) gebildeten Konstituenten des Erzählens kann nach Stanzel mit der Kategorie der Person beschrieben werden. Der Begriff der Person, den Stanzel "wegen seiner Prägnanz" (Stanzel 1989, S.71f.) verwendet, steht dabei für die die Seinsbereiche (bzw. fiktionalen Welten), denen der Erzähler und die Figuren in einem erzählenden Text angehören können.

Dabei geht es darum, ob der Erzähler als Mittlerfigur und die von ihm dargestellten Figuren in einem identischen oder nicht-identischen Seinsbereich "unterwegs" sind. Daher die Kategorien der Binäropposition: Identität vs. Nicht-Identität der Seinsbereiche.

In dem einen (idealtypischen) Fall teilen sich Erzähler und die Figuren dieselbe Welt, "innerhalb der Zeitspanne, die vom Anfangs- und Endpunkt der Geschichte begrenzt wird" (Eicher 32001, S.92). Erzähler und Figuren gehören dann beide der ▪ Ebene des Dargestellten (Diegesis) an und agieren darin innerhalb der Grenzen der erzählten Zeit.

Die davon bestimmte Erzählform zeigt sich als Erzählen in der ersten oder der dritten, also der Ich-Erzählung bzw. der Er/Sie-Erzählung), selten auch in der zweiten Person (Du-Erzählung). Entscheidend bei der Zuordnung ist allerdings "nicht die relative Häufigkeit des Vorkommens einer der beiden Personalpronomina Ich oder Er/Sie" (Stanzel 1989, S.71f.). Und auch die Verwendung des Pronomens sagt im Grunde nicht alles darüber aus, ob die Seinsbereiche identisch oder nichtidentisch sind. So ist z. B. bei einem Ich-Erzähler, der rückblickend aus seinem eigenen Leben erzählt, der Seinsbereich solange identisch, solange er nicht auf seine außerhalb dieser erzählten Zeit liegenden, augenblicklichen Ist-Situation als Erzähler zu sprechen kommt. (vgl. Eicher 32001, S.93)

Im anderen (idealtypischen) Fall steht der Erzähler in einem anderen Seinsbereich als die von ihm dargestellten Figuren und deren Welt. Steht er außerhalb, gestaltet sich die Erzählung zu einer Er-Erzählung, weil der Erzähler die von ihm dargestellten Figuren in ihrem eigenen Seinsbereich nicht mit den Pronomen der ersten Person (ich, wir)  ansprechen wird. (vgl. ebd.)

Perspektive

Mit dieser Kategorie, die sich in Stanzels Modell der Erzählsituation als Pole von ▪ Innen- vs. Außenperspektive gegenüberliegen, wird der ▪ Standort des Erzählers bzw. der Erzählinstanz (▪ point of view) als "Wahrnehmungsinstanz gegenüber der dargestellten Wirklichkeit" (Eicher 1996/32001, S.93) erfasst und beschreibbar gemacht.

Außenperspektive

Wenn der Erzähler die Außenperspektive einnimmt, wird die Auswahl der Erzählgegenstände, die Festlegung der wie und mit welcher Intensität das erzählte Geschehen in zeitlicher Raffung oder eben nicht erzählt werden soll, "von einem Fluchtpunkt her" (Graevenitz 1982, S.95) festgelegt, der außerhalb der Welt der Romanfiguren und des erzählten Geschehens liegt.

Zugleich weist die Außenperspektive dem Leser auch den "»Tribünenplatz«" (ebd.) zu, der ihn aus zeitlicher und räumlicher Distanz auf die Figuren und Vorgänge blicken lässt, während die "Innenperspektive eben nicht mehr nur ein unbeteiligtes Zuschauen erlaubt." (ebd.)

Die Außenperspektive dominiert dabei bei der ▪ auktorialen , die Innenperspektive bei der ▪ personalen Erzählsituation. Allerdings vermischen sich aber auch beide Perspektiven in einem Text häufig oder wechseln einander ab (fluktuieren).

Innenperspektive

Liegt der Standort des Erzählers, von dem aus die Geschichte erzählt wird, dagegen räumlich und zeitlich innerhalb der erzählten Welt der Figuren, ist der Erzähler identisch mit einer oder mehreren einzelnen Figuren, die das Geschehen aus ihrer Sicht erzählen. (personaler Erzählerstandort, vgl. ▪ personale Erzählsituation)

Dabei hat die "Festlegung des personalen Erzählers auf die Innenperspektive eines Stellvertreter-Mediums, eines Reflektors", auch zur Folge, dass  das Erzählen zunehmend von psychologischen Kriterien des wahrnehmenden Erzählers bestimmt wird. Und damit wird auch "die psychologische Wahrscheinlichkeit, gemessen an den Bewusstseinsmöglichkeiten des Reflektor-Helden, [...] zum Organisationsprinzip des Erzählten." (Graevenitz 1982, S.95)

Modus

Die Kategorie des Modus, die für Stanzel mit seiner von der Mittelbarkeit des Erzählens. ausgehenden Theorie von zentraler Bedeutung ist, repräsentiert mit ihren beiden Polen Erzähler und Reflektor im Kern das, was Erzählen überhaupt ausmacht. Zwischen den beiden Polen Erzähler und Reflektor gibt es eine Vielzahl von möglichen Abstufungen und Abwandlungen.

Erzähler

Der Erzähler ist für Stanzel keine depersonalisierte Erzählinstanz, wie es Käte Hamburger (1957) vorschwebt, sondern ein (Aussage-)Subjekt, so wie es auch bei den meisten Erzähltexten vom Leser wahrgenommen wird.

Die Mittelbarkeit ist für ihn das wichtigste Gattungsmerkmal erzählender Texte, die sich im Erzählvorgang und dem erzählten Vorgang zeigt. Die Mittlerrolle wird dabei vom Erzähler wahrgenommen, der sie einerseits zwischen dem Autor und der erzählten Geschichte, andererseits zwischen der Geschichte und ihrem Leser spielt.

Der reale Autor kommt in der Geschichte nicht selbst zu Wort. Stattdessen beauftragt er den Erzähler als eine Art Stellvertreter. Dieser Erzähler ist in der Regel fiktiv und die Beziehung zwischen Erzähler und Autor lässt sich vereinfacht auf den Satz bringen: "Der reale Autor erfindet, der fiktive Erzähler erzählt, was gewesen ist." (Scheffel 2006, S.106) So ist jeder "implizit dargestellte Erzähler ein Konstrukt" (Schmid 2011, S.131)

Der Erzähler wird vom realen Autor mit bestimmten Fähigkeiten ausgestattet, die ihm unterschiedliche Möglichkeiten zur Gestaltung der Geschichte lassen. Es kommt vor, dass man den Erzähler quasi persönlich zu fassen glaubt, aber genauso gut kann es sein, dass er sich so sehr hinter das erzählte Geschehen zurückzieht, dass es den Anschein hat, es gäbe ihn gar nicht.

Der Pol des Erzählers ist also mit der Vorstellung verbunden, die ein Leser hat, wenn er meint, einem persönlichen Erzähler gegenüberzustehen, der ihm die Geschichte erzählt.

Reflektor

Wird hingegen vom Pol des Reflektors aus erzählt, kommt einem das so vor, als gäbe es ein "scheinbar unmittelbar(es) Wahrnehmungszentrum des soeben Geschehenden" (Eicher 1996/32001, S.92) wie eine Art Kamera oder Rekorder, der innerhalb einer Figur "mitläuft" und alles, was passiert, soweit es in ihre begrenzten Aufnahmebereiche fällt, aufnimmt und quasi distanzlos registriert. Was die technischen Apparaturen allerdings von einer Figur als Reflektor unterscheidet, ist die Tatsache, dass diese natürlich auch mit einem eigenen Bewusstsein ausgestattet ist, und ihre eigene Sicht der Dinge dadurch präsentiert, dass sie bestimmtes wahrnimmt und anderes nicht, auf seine Weise kommentiert und eben alles, was um sie herum und was in ihr vorgeht, personal einfärbt. Dennoch gewinnt der Leser beim Reflektormodus des Erzählens den Eindruck, er sehe, höre und denke gemeinsam mit der Reflektorfigur, und das "scheinbar distanzlose, während der Zeit, in der die Handlung abläuft." (ebd.)

Was Stanzel mit seinem Gegensatzpaar von Erzähler und Reflektor beschreibt, wird in anderer Terminologie, zum Teil mit anderen Akzenten, als telling und showing oder Diegesis, diegetischer Modus bzw. Mimesis, mimetischer Modus beschrieben.

In den Kategorien des triadischen Konzepts lassen sich die drei Erzählsituationen auktorial, personal und Ich-Erzählsituation noch der Dominanz der Kategorien wie folgt beschreiben:

  • Auktoriale Erzählsituation: primär bestimmt durch die Dominanz der Außenperspektive (Allwissenheit), sekundär durch die greifbare Existenz einer Erzählerfigur (Modus) und durch die Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren (Person) (Beispiele: Fontane Effi Briest, Thomas Mann Der Zauberberg) ▪  Innen- vs. Außenperspektive

  • Personale Erzählsituation: primär bestimmt durch die Dominanz des Reflektors (Modus), sekundär durch das Überwiegen der Innenperspektive (Perspektive) und durch die Nichtidentität der Seinsbereiche (Person), d. h. den Er-Bezug auf den Reflektor

  • Ich-Erzählsituation: primär bestimmt durch die Dominanz der Identität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren, sekundär durch das Überwiegen der Innenperspektive (Perspektive) und durch die Erzählerfigur (Modus)
    (vgl. (Eicher 1996/32001, S.98-100)

Stanzels Konzept lässt sich nicht auf den Begriff der Perspektive reduzieren

Man hat Stanzel immer wieder vorgehalten, dass er seine Typologie der Erzählsituationen allein auf die vom ▪ Standort des Erzählers (point of view) abhängige Perspektive stütze (z. B. Genette 2. Aufl. 1998, S.129). Zumindest diese Kritik geht hingegen fehl. Stanzels Konzept der Erzählsituationen lässt sich eben nicht auf den Begriff der Perspektive reduzieren lässt. Bei genauerem Hinsehen lässt sich das Konzept sogar als "Modellierung" der folgenden Faktoren auffassen (vgl. Wolf 2013, S.186)


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Die Betonung des Systemcharakters der Erzählsituationen Stanzels bedeutet indessen nicht, dass es auch eine Vielzahl von Einwänden dagegen gibt, die sich wie Vogt (2014, S. 85) verdeutlicht, in drei Gruppen einteilen lässt: "eine erste, doe Stanzels Typenbildung als analytisch unzureichend tadelt, eine zweite, die im Rahmen der Typologie Veränderungen vorschlägt, und eine dritte, die ihre Einmbettung in eine übergreifende historische Dimension einklagt."

Auch ohne diese systematische Ordnung der Kritik an Stanzel sollen hier die wichtigsten Einwände hinsichtlich ihrer theoretischen Fundierung und Stringenz kurz erwähnt werden.

  1. Auch entgegen des von ihm selbst erhobenen Anspruchs eine "Theorie des Erzählens" (1989) zu entwickeln, ist sein Konzept der Erzählsituationen und vor allem seine späteren Überarbeitungen mit ihrer "ganze(n) Komplexität (und manchmal auch Unentwirrbarkeit)" (Genette 2. Aufl. 1998, S.270) keine systematische und analytische Erzähltheorie im strengen Sinne, die x-beliebige Erzähltexte bis ins letzte Detail dekonstruiert, sondern eher "eine Art Beschreibungssystem zur Erfassung erzählender Dichtung" (Petersen 1993, S.2).

Als "Interpretationshilfe" (Stanzel 1964/1979, S,10), das ein "bestimmendes Gestaltungsgefüge sichtbar" (ebd.) machen will, stützt sich Stanzels Konzept dabei auf "die unbezweifelbare empirische Beobachtung, "dass sich die überwältigende Mehrzahl der literarischen Erzählungen auf diese drei Situationen verteilt, die er zu Recht 'typisch' nennt." (Genette 2. Aufl. 1998, S.269) Da er sein Konzept "nun einmal empirisch, das heißt aus der Beobachtung vielfältiger Erzähltexte" (Vogt 2014, S.84) gewonnen hat, könnte man es statt analytisch besser als synthetisch (Cohn 1981) oder u. U. auch "synkretistisch"  (Genette 2. Aufl. 1998, S.269) bezeichnen. Es vermengt verschiedene Elemente des Erzählens miteinander und belässt sie "in ihrer Komplexität": er zerlegt sie nicht analytisch in ihre konstruktiven Elemente. Dementsprechend sind auch die verschiedenen Erzählsituationen zusammengesetzte (synthetische) Kategorien" (Vogt 2014, S. 88).

  1. Dies wiederum führt zum zweiten Kritikpunkt an Stanzels Konzept der Erzählsituationen. Dabei wird immer wieder betont, dass die "Erzählsituationen" Stanzels  zwei Parameter miteinander kombinieren, die eigentlich auseinanderzuhalten seien: die Teilhabe des Erzählers an der Geschichte (»Er«- vs. »Ich«-Erzählung) und die Erzählperspektive (»auktorial« vs. »personal«) (vgl. Schmid 2011, S.132)

Aus diesem Grund spricht auch manches dafür, statt "irgendwelche komplexe »Erzählsituationen«" zu beschreiben (ebd.), für eine Typologie des Erzählers nur "elementare Kriterien zugrunde (zu) legen, ohne sie mit anderen zu kombinieren." (ebd.) (s. dazu: ▪ Kriteriengeleitete Beschreibung von Erzählertypen (Dichotomien)

Wer nicht zu den sehr detaillierten Kriterien strukturalistischer Theorien tendiert, kann dabei  zumindest für die schulische Analyse und Interpretation erzählender Texte, an, auf das Konzept der ▪ Erzähltextanalyse von Jürgen H. Petersen (geb. 1937) (1993, 72006) zurückzugreifen, das bestimmte Widersprüchlichkeiten in Stanzels Konzept überwindet und  auch "die geschlossene Typologie durch einen offeneren Merkmalskatalog ersetzt, der mehr (wenn auch nicht alle) Kombinationsmöglichkeiten und damit eine feinere Klassifizierung ermöglicht." (Jahraus 2009, S.228)

Wenn man bedenkt, dass "das literarische Erzählen (...) ohnehin so vielgestaltig (ist), dass es sich empfiehlt, es nicht nur mit einer Minimaldefinition zu beschreiben, sondern ein möglichst breites Spektrum seiner Erscheinungsformen zu erfassen." (Martínez 2011a, S.11), ist es wohl auch auch angeraten, globale Betrachtungen von Texten mit einer gewissen Skepsis zu begegnen.

Trotzdem: Die Erzählsituationen Stanzels, gegen die immer wieder berechtigte Einwände hinsichtlich ihrer theoretischen Fundierung und Stringenz erhoben wurden, sind dessen ungeachtet ein weitgehend anerkanntes Instrumentarium zur Interpretation erzählender Texte, bei der eben nicht die vollständige analytische "Zerlegung" des Textes bzw. seine Dekonstruktion im Vordergrund steht.

Erzählsituationen im Literaturunterricht

Am weitesten verbreitet - und das insbesondere im Literaturunterricht bei der ▪ schulischen Erzähltextanalyse -  hat sich dabei aus verschiedenen Gründen das in dem kleinen Buch "Typische Formen des Romans" aus dem Jahr 1964 entwickelteKonzept Stanzels, indem er nur von drei Erzählsituationen (auktorial, personal, Ich-Erzählsituation) ausgeht und damit die vormals (1955) vertretene neutrale Erzählsituation als Variante der personalen Erzählsituation "ohne weitere Begründung eliminiert" (Vogt 2014, S.52, Anmerk.7) bzw. sang- und klanglos "völlig fallengeĺassen" (Genette 2. Aufl. 1998, S.270, Anm. 3) hat.

Vielleicht etwas "voreilig", wie Jochen Vogt (2014, S.90, auch S.51ff.) meint und dabei auf das ▪ Fokalisierungkonzept von Gerard Genette (2. Aufl. 1998, S.134ff.) verweist, in dem mit der sogenannten externen Fokalisierung die neutrale Erzählsituation wieder eingeführt wird. Zur begrifflichen Verwirrung über die neutrale Erzählsituation hat Stanzel also selbst erheblich beigetragen.

Von bestimmten Vertretern der neueren Erzähltheorie wird diese Vorstellung, aber auch andere ein quasi erzählerloses Erzählen unterstellende Konzepte ohnehin abgelehnt, weil Perspektive eine basale Grundeigenschaft allen Erzählens darstellt. (z. B. Schmid 2005, S.133).

Als Idealtypen können die Stanzelschen Erzählsituationen aber aller Einwände zum Trotz flexibel angewendet werden und haben "sich instrumentell - als eine Art erzähltheoretischer Werkzeugkasten - in zahllosen Einzeluntersuchungen und Interpretationen bewährt" (Vogt 2014, S.84).

Aber natürlich bleibt auch ein solches Urteil über Stanzels Konzept nicht unwidersprochen. So beklagt Petersen (1993, S.161), dass Stanzels "systemlose Deskriptionsordnung" und sein "für die detaillierte Beschreibung erzählerischer Textschichten schlechterdings untauglich(es)" literarisches Beschreibungsmodell  "verheerende Folgen" nach sich gezogen habe, wie man bei der Lektüre vieler Interpretationen feststellen müsse.

Dabei bezieht sich Petersens Verriss von "StanzeIs sogenannte(r) »Theorie des Erzählens«" dabei vor allem auf die "systemlogischen Fehler" in Stanzels Konzept des "systemlogisch unhaltbaren ▪Typenkreises von epischen Texten". (ebd., S.161) Damit schließt sich Petersen der verbreiteten Stanzel-Kritik an, die immer wieder die ▪ mangelnde theoretische Stringenz und Vermischung analytischer Kategorien in Stanzels Konzept unterstrichen hat.

Dass das Konzept der Erzählsituationen von seiner ganzen Anlage her, der Vielfalt aller heute existierenden und morgen möglichen erzählenden Texte nicht gerecht werden kann, liegt vor allem auch daran, dass es "die Gegenstände seiner Typologie in ihrer Komplexität (belässt)" (Vogt 2014, S.88) und die unterschiedlichen Erzählsituationen in Gestalt "(synthetischer) Kategorien" (ebd.) erfasst, statt sie "analytisch in ihre konstruktiven Elemente" (ebd.) zu zerlegen.

Dies gereicht dem Konzept auch unter dem Blickwinkel seiner Praktikabiltät gegenüber (moderaten) Kriterienkatalogen wie z. B. der ▪ Erzähltextanalyse nach Petersen (1998) zum Nachteil, muss indessen, das zeigt seine breite Verwendung im Literaturunterricht, seinen Wert bei einer auf die Interpretation eines Erzähltextes ausgerichteten Erzähltextanalyse in keiner Weise. Dies gilt in besonderem Maße für die ▪ schulische Erzähltextanalyse und didaktischen Ziele, die mit der Anschlusskommunikation über literarische Texte verfolgt werden.

Perspektiven beim Erzählen
Überblick
▪  Modelle der Perspektiven beim Erzählen
Überblick
Standort des Erzählers (point of view)
Erzählsituationen (Stanzel)
 ▪ Erzählformen und Erzählverhalten (Petersen)
 
Fokalisierung (Genette)
Aspekte der narratorialen und figuralen Perspektive (Schmid)
Schulische Erzähltextanalyse

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 19.12.2023

   
 

 
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