Die folgende Analyse von
Erzählform, Sichtweise und Erzählverhalten in
▪ Franz Kafkas Prosastück »Auf
der Galerie«
folgt dem ▪
Modell der
Erzähltextanalyse von
Jürgen H. Petersen (geb. 1937) (1993,
72006),
ergänzt aber dessen Ausführungen.
Dieser
hat in der Auseinandersetzung vor allem mit »Franz
K. Stanzels (geb. 1924)
Konzeption der ▪
Erzählsituation ein Konzept zur
Analyse
erzählender Texte entwickelt, das keine Erzähltheorie, sondern eine
"Deskriptionspoetik narrativer Texte fiktionaler Art" sein will und den
Versuch unternimmt, "alle zur Erfassung dieser Texte notwendigen
Kategorien darzustellen und einander funktional zuzuordnen." (Petersen
1993, S.8) Seine •
Kategorientafel zur Analyse eines Erzählsystems soll dabei die
wichtigsten spezifisch epischen Kategorien des Erzählsystems
erfassen, die bestimmte Verhältnisse in dem Beziehungsgeflecht
zwischen dem Erzählten, dem Narrator und dem Leser darstellen oder auf ihnen
basieren. (vgl. ebd.,
S. 53),

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Petersens "Kategorientafel"
(ebd.), mit deren Hilfe sich in einem
erzählenden
Text wesentliche ▪
Erzählstrukturen in
ihrem Funktionszusammenhang analysieren lassen, zeichnet sich dabei nicht nur durch
ihre systemlogische
Struktur aus, sondern auch durch ihre beschränkte Anzahl von Kategorien in einer allgemein verständlichen
Terminologie, die
neueren Erzähltheorien,
die möglichst alle Strukturen erzählender Texte abbilden wollen, in der Regel abgeht. Aus
diesem Grunde ist die Erzähltextanalyse nach Petersen auch gut geeignet
für die ▪
schulische Analyse und Interpretation erzählender Texte.
Seiner •
Erzählform
nach handelt es sich bei ▪ Franz Kafkas Prosastück »Auf
der Galerie«
um eine •
Er-Erzählung.
Der Erzähler
spricht darin grundsätzlich von Dritten und verwendet dafür gewöhnlich
auch die Personalpronomina der dritten Person. Auch wenn er
grundsätzlich keine Personalität besitzt, funktioniert der Text
damit, dass er ein "schaffendes Bewußtsein" (Hermes
(1994/2003, S.219) für das im Text inszenierte "gedankliche
Spiel" (ebd.,
S.221) voraussetzt. Dieses tritt mit seinen Bewertungen und Kommentaren
in einer überaus •
kritischen Erzählhaltung in
Erscheinung und färbt damit das Erzählte in seinem Sinne ein. Da die
Erzählinstanz in Kafkas Parabel allerdings schwer zu greifen ist
(vgl. Sudau
2021, S.16), verzichten
Hermes
(1994/2003, S.222) wie auch
Niehaus (2010,
S.72) wohl auch darauf, die Erzählinstanz des Textes überhaupt mit
den Kategorien und
Strukturbegriffen
der älteren oder
neueren
Erzähltheorie zu erfassen. Stattdessen wählen sie jeweils einen
Ansatz, diese unabhängig davon in ihrer Funktionalität zu
beschreiben.
Insgesamt gesehen
verbindet sich die •
Er-Erzählung jedenfalls nicht eindeutig und über den ganzen Text
hinweg mit •
personalem oder •
auktorialem Erzählverhalten. Beim genauen Lesen wird aber immer
wieder erkennbar, dass das "schaffende Bewußtsein" (Hermes
(1994/2003, S.219), das wir hier aber weiterhin den Erzähler
nennen, "nicht voll identisch mit dem Galeriebesucher (ist)" (Meurer1988/31999,
S.78)
Deutlich wird
dabei, dass der Erzähler dem Galeriebesucher "vom räumlichen
point of view sehr nahe steht." Daher kann ach nur er sagen •"Vielleicht
eilte [...] hinab", wenn er eine räumliche Position
(unsichtbar) neben dem Erzähler bezogen hat. Und auch im
Zusammenhang mit seinen Ausführungen über das Weinen des
Galeriebesuchers, der dabei ja seinen Kopf über die Brüstung gesenkt
hat, kann er das nur wahrnehmen, wenn er ihm gewissermaßen zusehen
kann. Die Äußerung, wonach der Galeriebesucher am Ende der
Geschichte im Schlussmarsch
wie
•
in einen schweren Traum versinkt, und weint,
ohne es zu
wissen, ist aus einer
•
olympischen Position gesprochen und steht hier für ▪
auktoriales
Erzählverhalten, auch wenn insgesamt gesehen dieser auktoriale
Erzähler nicht auf eine konkrete Erzählperson zurückverweist (vgl. Petersen
1993,
S.59). Dass es sich nicht um einen auktorialen ›Erzähler‹ im
herkömmlichen Sinne handelt, wird auch daran deutlich, dass diese
Parabel weniger eine Erzählung im Sinne einer
narrativen
Zustandsveränderung bzw. Situationsveränderung (vgl.
Schmid 2005,
S.13) als eine "literarische Versuchsanordnung" (Sudau
2021, S.16) darstellt. Das wiederum könnte auch dafür sprechen,
sie eher als • "Denkbild"
(Zymner (2010,
S. 456), denn • als Parabel
aufzufassen, auch wenn die Grenzen zwischen beiden nicht einfach zu
ziehen sind. Ob sich der Sinn des des Textes dann wirklich •
durch Allegorisierung und eine textexterne Bedeutungskonstruktion
erschließen lässt, wird dann allerdings auch zweifelhaft.
Das "schöpferische
Bewusstsein" des Gedankenspiels – ob man es nun wie
Sudau (2021,
S.16) als auktoriales fasst oder nicht – verfügt jedenfalls über
"eine übergeordnete Einsicht [...], die außerhalb der Grenzen der
entworfenen Situation steht" (Hermes
1994/2003, S.222) und bietet "die Bewusstseinsarena des Textes"
(Sudau
2021, S.16) Er beobachtet das Geschehen "gewissermaßen in der
Position dritter Ordnung" (Niehaus
2010, S.74), d. h. einer Position, die sowohl den begrenzten
Blick des Publikums (Position erster Ordnung) als auch den des
Galeriebesuchers (Position zweiter Ordnung, da er auch das Publikum
beobachtet) beschreiben und kommentieren kann. Auch wenn das Bild
mit gewissen individuellen Konturen einer Erzählperson ein wenig in
die Irre führt, kann man ihn sich durchaus "als einen
Galeriebesucher vorstellen, der noch eine oder mehrere Balkonreihen
über dem beschriebenen Galeriebesucher steht und zugleich auf diesen
wie auf das Publikum im Parterre herabschaut. Dieser auktoriale
Erzähler ist gleichsam jemand, der für den Leser laut denkt und ihn
damit in seine Überlegungen hineinzieht." (Sudau
(2021, S.16) Dies wird schon im ersten Teil der Geschichte
deutlich, wenn von "irgendeine(r)"
Kunstreiterin, die Rede ist, die in Beziehung zu einem durch den
unbestimmten Artikel ebenso unbestimmten entindividualisierten
Publikum ("einem
unermüdlichen Publikum") gesetzt wird und damit die Schilderung
des Geschehens als "allgemeingültig oder zumindest allgemein
möglich" (Hermes
1994/2003, S.221) ausgibt.
Die "gebrochene,
mehrperspektivische Darstellungsweise" (Sudau
(2021, S.17) lässt sich auf Textebene jedenfalls nur mühsam
dekonstruieren. Rekurriert man auf den biografischen Kontext, so
kann sich diese aber durchaus auch als "Einsicht des Autors in die
Gebrochenheit der Weltwahrnehmung" lesen, bei dem sich in einer Art
"literarischer Versuchsanordnung" das schöpferische oder auktoriale
Bewusstsein so weit zurückzieht, dass es sich u. U. kaum noch vom
Autor selbst unterscheiden lässt.