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• Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden
Franz Kafka, Auf der Galerie1
Wenn
irgendeine hinfällige2,
lungensüchtige3 Kunstreiterin
in der Manege
auf schwankendem Pferd
vor einem
unermüdlichen Publikum vom
peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef
monatelang ohne Unterbrechung
im Kreise rundum
getrieben würde,
auf dem
Pferde schwirrend, Küsse werfend,
in der Taille sich wiegend,
und wenn
dieses Spiel
unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der
Ventilatoren
in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich
fortsetzte, begleitet
vom vergehenden und neu anschwellenden
Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer4 sind –
vielleicht eilte dann ein
junger Galeriebesucher die
lange Treppe durch
alle Ränge5 hinab, stürzte in die Manege,
riefe das: Halt!
durch die
Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.
Da es aber nicht so ist; eine
schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt,
zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten6 vor ihr öffnen;
der Direktor,
hingebungsvoll ihre Augen suchend,
in Tierhaltung ihr
entgegenatmet; vorsorglich sie auf den
Apfelschimmel7 hebt,
als wäre sie
seine über alles geliebte Enkelin, die sich
auf gefährliche Fahrt begibt;
sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben;
schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt;
neben dem Pferde mit
offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin
scharfen Blickes
verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit
englischen
Ausrufen8 zu warnen versucht; die
reifenhaltenden9
Reitknechte wütend zu
peinlichster Achtsamkeit ermahnt;
vor dem großen Salto mortale10 das
Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen;
schließlich die Kleine
vom zitternden Pferde hebt,
auf beide Backen küsst
und keine
Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während
sie
selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit
ausgebreiteten Armen,
zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen
Zirkus teilen will – da dies so ist, legt der
Galeriebesucher
das
Gesicht auf die Brüstung und, im Schlussmarsch
wie in einem schweren
Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.
(Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen,. hg. v. Paul Raabe, Fischer
Taschenbuch 1078, Frankfurt/M. 1970, S.145f.)
Dieses Werk
(Auf der Galerie, von
Franz Kafka), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterklärungen
1 »Galerie:
der oberste, häufig zweite bis vierte Rang eines Theaters oder eines
Zirkus, wo sich gewöhnlich Sitz-. aber auch Stehplätze befinden; diese
Plätze waren im 18./19. Jahrhundert die billigsten Plätze, ihre
Besucherinnen und Besucher waren daher Leute, die sich nur diese Plätze
leisten konnten (z. B. Jugendliche, Soldaten, Dienstboten und aber auch
ärmere Intellektuelle. Zur Galerie führte in den meisten Theater- aber
auch Zirkusgebäuden oder -zelten eine gesonderte Treppe, die verhindern
sollte, dass das Galeriepublikum auf das übrige Publikum treffen konnte.
Das oftmals dicht gedrängte Galeriepublikum scheute sich offenbar im
Theater nicht, seinem Unmut Ausdruck zu verleihen, wenn ihm etwas nicht
gefiel.( vgl.
Denscher 2023)
2 hinfällig:
kränkelnd, physisch geschwächt
3 lungensüchtig:
hier wohl gemeint »Schwindsucht
(Tuberlulose)
4 Dampfhammer: auch
»Maschinenhammer;
mechanisierter, mit Dampf angetriebener Schmiedehammer, mit der auf ein
fixiertes metallisches Werkstück geschlagen wird, um es zu verformen;
dabei hohe Geräuschentwicklung
5 Ränge: erhöhte
Bühne in einem Theater oder Zirkus, auf dem die Zuschauerinnen und
Zuschauer Platz nehmen können
6 Livrierte: eine
uniformartige Dienerkleidung tragende Hilfskräfte in der Manege
7 Apfelschimmel:
weißes Pferd (Schimmel) mit dunkleren, kreisförmigen Flecken
8 englische
Ausrufe: in der Pferdedressur übliche fremdsprachliche Kommandosprache,
die meistens französisch ist, aber auch in Anlehnung an die »englische
Reitweise auch englische Ausdrücke umfassen kann
9 reifenhaltende
Reitknechte: gemeint sind hier die bei der Zirkusnummer assistierenden
Hilfskräfte, die im Falle des Kunstreitens Reifen in die Höhe halten,
durch die die auf dem Rücken des Pferdes stehende Artistin springen muss
10 Salto mortale: (ital.
Todesssprung) besonders gefährlicher »Salto
als Höhepunkt einer artistischen Zirkusnummer
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.10.2024
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