Die ▪
materialgestützte Erörterung ist eine besondere Form
▪ erörternden bzw.
argumentativen
Schreibens in der Schule, bei dem die abzufassende Erörterung auf der
Grundlage einer Auswahl von Materialien zu einem Thema verfasst wird. Sie stellt im
Sinne Fritzsches
(1994, S.32) wie kaum eine andere Form des
▪ erörternden Schreibens, ein
"Erschließungsinstrument" für Inhalte dar. Sie steht dabei neben andern
Aufgabentypen, deren Grundlage das
erörternde
Erschließen darstellt.

Der Begriff Erörterung scheint im Zusammenhang mit dem materialgestützten
Verfassen eines Aufsatzes mit dominierender
argumentativer Themenentfaltung allerdings in Ungnade gefallen zu sein.
Die
Abituranforderungen im Fach Deutsch (KMK 2012) sprechen für diese
schulische Schreibform von materialgestütztem Verfassen argumentativer
Texte.
Zugleich wird die Schreibaufgabe mit einer Reihe unterschiedliche
Schreibformate bzw. Textmuster verbunden, die sich unter Vorgabe einer
fiktiven Kommunikationssituation an
journalistischen Schreibformen wie dem
Kommentar,
Essay etc. orientieren.
Damit hat man aber nicht nur den "Stallgeruch" und grundsätzliche
Probleme des vielgescholtenen (freien) Problemerörterungsaufsatzes hinter
sich gelassen. Auch die Schreibaufgabe hat sich in wesentlichen Punkten von
der traditionellen Schreibform entfernt.
Materialgestütztes Schreiben als Abiturstandard
Die Abituraufgabe zählt zur Gruppe der Schreibaufgaben, die als
materialgestütztes Schreiben bezeichnet werden. (BISTA-AHR-D
S.24) das materialgestützte Verfassen informierender und das
materialgestützte Verfassen argumentativer Texte, wobei Mischformen
wohl eher die Regel als die Ausnahme darstellen. Sie können wie jede der
anderen Aufgabenarten nämlich miteinander kombiniert werden, solange
gewährleistet ist, "für Schülerinnen und Schüler in der Aufgabenstellung
erkennbar ist, welche der genannten Schreibformen den Schwerpunkt bildet." (ebd.).

Die Aufgabenarten, die im Bereich des materialgestützten Schreibens
gestellt werden, sollen auf der Basis der Standards für das erklärende
und argumentative Schreiben sowie das informierende Schreiben
"keine vollständige Textanalyse" wie beim textbezogenen Schreiben
(Textinterpretation, Textanalyse, literarische Erörterung und
Texterörtgerung) erfordern, da das vorgelegte Material auf der Grundlage von
Rezeption und kritischer Sichtung für eigene Schreibziele genutzt werden
soll
Die materialgestützte Erörterung ermöglicht
erörterndes
Schreiben zu einem in der Gesellschaft strittigen Thema. In einem
epistemisch-heuristisch angelegten Schreibprozesses, der vor allem in
der Planungsphase weit über das hinausgeht, was sonst beim Erörtern üblich
ist, erhalten die Schreibenden Gelegenheit, sich bei der Bewältigung der
Schreibaufgabe auch das nötige Fachwissen (deklaratives Wissen)
anzueignen, ehe sie sich mit dem jeweiligen Thema oder dessen Facetten
kritisch auseinandersetzen.
Damit ist eine in der Fach- und Schreibdidaktik
schon länger erhobene Forderung, den
Schreibprozess beim
erörternden Schreiben zu entlasten, ein Stück weit umgesetzt worden. So
hatte man erkannt, dass erörterndes Schreiben in der Schule - vor allem im
Rahmen der schulischen Aufsatzsituation – ohne die Möglichkeit einer vorgeschalteten oder in den
Schreibprozess selbst
eingebundenen Recherche – oft kaum über
knowledge telling hinausgeht.
Den Schülerinnen und Schülern fehlte selbst dann, wenn die Themen sich auf
die Lebenswelt der Jugendlichen bezogen, einfach das Wissen, um bestimmte
Sachfragen (Ergänzungsfragen)
oder Probleme (Entscheidungsfragen,
Wertfragen) erörternd zu
behandeln.
Um der mangelnden
▪
inhaltlichen Kompetenz der Schülerinnen und Schüler entgegenzuwirken,
haben Lehrkräfte zwar schon immer versucht, bestimmte Erörterungsthemen im
Unterricht zu behandeln oder den Schülern Möglichkeiten angeboten, zur Lösung der
▪
Schreibaufgabe
eine
Informationsrecherche durchzuführen. So haben sie durchaus versucht, die
Schreibaufgabe in einen erweiterten
thematischen Kontext zu integrieren
(vgl.
Fix 2008,
S.104f.), aber nicht selten wussten die
Schülerinnen und Schüler bis zur Bekanntgabe der Themen in einer Klausur
nicht, was da drankam. Um so größer war denn auch immer wieder die
Enttäuschung auf Schülerseite, wenn wieder einmal die "falschen" oder
"völlig uninteressanten Themen" zu erörtern waren.
Im Kontext der Aufgaben des Erörternden Erschließens findet die
materialgestützte Erörterung ihren Platz neben den anderen
"Erschließungsinstrumenten" für Inhalte (vgl. Fritzsche
1994, S. 32) bzw. Aufgabentypen.
Als Typ der Erörterung ist die materialgestützte Erörterung am
schulischen Erörterungsaufsatz orientiert. Die traditionelle ▪
freie Problem- und
Sacherörterung ist als ▪ schulische Schreibform
aus verschiedenen Gründen nicht mehr so selbstverständlich wie früher, auch
wenn sie bis heute zu den gängigen
Schreibaufgaben in der Schule zählt. Im Abitur spielt sie keine Rolle
mehr. (vgl.
Bildungsstandards im Fach Deutsch für die allgemeine Hochschulreife,
Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.1o.2012)
Wenn sich noch jemand im Rahmen einer Prüfungssituation an eine
freie Erörterung wagte, dann orientierte er/sie sich eher an den mehr oder
weniger vorgeschriebenen "Ablauf- und Organisationsschemata" (Ortner 2000/2002),
mit denen sie es ihren Lehrern bei der Bewältigung der
Schreibaufgaben
recht machen und damit die Aussicht auf eine gute Note erhöhen wollten.
Hinzu kam manchmal auch eine eher der Mündlichkeit verpflichtete
argumentative Praxis, die dazu führte, dass, sofern Makrostrukturen stimmten
wie Einleitung, Hauptteil und Schluss oder das Pro und Contra bei einer
dialektischen Erörterung, die
Entfaltung der Argumente
und die ▪ Geltungsansprüche der Argumente etc. unwichtiger wurden. Wer sich also
zutraute, das grobe Textmuster umzusetzen, der konnte in einer bunten
Mischung von "Oberflächlichkeit,
Leichtfertigkeit und phrasenhafte(r) Geschwätzigkeit" (Fritzsche (1994,
S.116) einfach "drauflosschreiben"
oder, um es in Schülersprache zu formulieren, konnte "irgendwas ablabern."
Die eigene Schreibpraxis, die Reflexion über die eigene
Schreibentwicklung
geriet dabei nicht nur bei den Schülerinnen und Schülern aus dem Blick. Die
Folge: Immer mehr Schüler wandten sich Aufsatzformen zu, die eine
Textgrundlage boten, von der ausgehend, die jeweiligen Schreibaufgaben
leichter zu bewältigen schienen. Dementsprechend wurden textbezogene Formen
des Erörterns wie die
Texterörterung oder der
kommentierende Leserbrief immer häufiger der freien Erörterung
vorgezogen, die zu hohe Risiken bei der
bewertend-prüfenden Beurteilung barg.
Fritzsche (1994,
S. 116) hält von Problemerörterungen anhand von Texten wenig, da sich die
Schülerinnen und Schüler "zu einem guten Teil auf den Nachvollzug der
gegebenen Argumentation beschränken können ('AB behauptet … aber XY meint
…‘). Scheinbar wird damit erreicht, dass sich die Schüler aufgrund des
vorgelegten Textes auch zu Sachthemen außerhalb des Fachs Deutsch (z.B. zur
Frage des Massentourismus) äußern können: Die Argumente werden ihnen ja an
die Hand gegeben. Tatsächlich aber brauchen sie sich gar nicht damit
auseinandersetzen, sondern es reicht, wenn sie die Argumente paraphrasieren,
collagieren und bestenfalls ordnen. (…) Für ein ernsthaftes Sich-Einlassen,
für eine wirkliche Verwicklung in das Problem reicht im Allgemeinen weder
das vorgelegte Material, noch steht genug Zeit für eine kritische
Auseinandersetzung damit zur Verfügung. Deshalb bleibt das Nachdenken
oberflächlich und das Urteilen vordergründig.“
Auch wenn dieses Urteil des Fachdidaktikers im Hinblick auf Text- und
materialgestützte Erörterung heutigen Zuschnitts in seiner apodiktischen
Zuspitzung wohl kaum mehr aufrechterhalten werden kann, weist es doch auf
grundlegende Probleme hin. So ist es in der Tat die Konzeption von
Schreibaufgaben, die sich für das materialgestützte Erörtern eignen, eine
äußerst wichtige Aufgabe. Dabei müssen nicht nur motivationale Aspekte bei
der Themenwahl als Ganzes, sondern auch bei den einzelnen Materialien
berücksichtigt werden. Zudem muss das Ensemble von Materialien, die zu einem
Dossier zusammengestellt
werden, auch beim Textverstehen ein kognitives und methodisches
Anspruchsniveau haben, das den einfachen Nachvollzug bzw. die rein
paraphrasierende und/oder collagierende Weiterverwendung vorgefundener
Argumente und Argumentationen bei der eigenen Textproduktion
erschwert. Zudem sollte die Bedeutung der ▪
Paraphrase
für das Textverstehen
nicht so gering angesetzt werden und, was noch viel schwerer wiegt,
eigenständige Re- bzw. Neustrukturierungen von Inhalten und Argumenten sind
wichtige Schreibhandlungen im Rahmen des Schreibprozesses der
materialgestützten Erörterung. Was dabei entsteht, ist, sofern die
Strukturierung ein Mindestmaß von Ordnungsoperationen umfasst, ein neu bzw.
anders aufgebautes gedankliches Konstrukt, das in den allermeisten weit mehr
darstellt als eine einfache Textcollage.
1. Materialgestützte Erörterung, freie Problem- und Sacherörterung und
Texterörterung
2. Das Material: Arbeit mit dem Dossier
Schreibaufgaben zum materialgestütztes Erörtern können mit einer völlig
vorgegebenen Textauswahl in Form eines Dossiers oder mit einem nur teilweise
vorgegebenen Dossier gestellt werden. E ist aber auch möglich in einem
umfangreicheren und noch komplexer angelegten Schreibprozess die
selbständige Auswahl eines derartigen Dossiers bzw. Kompendiums
kontinuierlicher oder diskontinuierlicher Texte zu einem Rahmenthema als
Teil der zu bewältigenden
Schreibaufgabe zu
konzipieren. Das materialgestützte Erörtern mit einem freien Dossier kann
dabei leicht zu einem
Schreibportfolio weiterentwickelt werden. Eine besondere Möglichkeit zur
Arbeit mit und zur Erstellung von Dossiers stellt dabei auch die ▪
Webquest-Methode
dar.

Am Ende des Schreibprozesses kann ein textmusterkonformes Textprodukt im
Sinne des traditionellen Erörterungsaufsatzes ebenso stehen, wie an
journalistischen Vorbildern orientierte, freiere Formen schriftlichen
Erörterns bzw. Argumentierens. Von dem materialgestützten Erörtern ist das
materialgestützte Informieren zu
unterscheiden, das z. B. im Schreiben eines populärwissenschaftlichen Textes
zu einem bestimmten Thema bestehen kann.
3. Materialgestütztes Erörtern mit einem vorgegebenen Dossier
kontinuierlicher und diskontinuierlicher Texte
Beim
materialgestützten Erörtern werden den
Schülerinnen und Schülern im Rahmen der
Schreibaufgabe eine Anzahl von
kontinuierlichen oder diskontinuierlichen Texten
angeboten, die ihnen helfen
soll, ihre Argumentation
zu einem Thema/Problem/Sachverhalt auf eine solidere Basis zu stellen.
Zugleich soll die Textauswahl ihren
Schreibprozess, der
in der Planungsphase mithin auch die Recherche
umfassen soll, von umfangreicheren Recherchearbeiten, z. B. im Internet oder
unter Heranziehung anderer Quellen, entlasten. Vorbei also die Zeit, als
sich die jugendlichen Schreiber ihre Argumente aus den Fingern saugen
mussten, wenn ihnen nur der Rückgriff auf ihr oft zum Gegenstand der
Erörterung keineswegs passendes Vorwissen blieb.
Materialgestütztes Erörtern eignet sich in besonderer Weise für
prozessorientiertes Lernen und dementsprechend für eine prozessorientierte
Schreibdidaktik. Dabei geht das erörternde Erschließen eines bestimmten
Themengebietes und der Erwerb der dafür nötigen Beurteilungskompetenz stets
einher mit dem Erwerb von
▪
Schreibkompetenz (▪
Zielsetzungskompetenz,
▪
inhaltlicher Kompetenz,
▪
Strukturierungskompetenz und
▪Formulierungskompetenz)
beim erörternden Schreiben.
Um mangelndes Vorwissen auszugleichen und die Schreibaufgabe mit der
Erarbeitung von Wissen zu einem bestimmten Thema aus Sachtexten zu einem
Schreibprozess zu öffnen, der auch die Aneignung von Wissen und dessen
Verarbeitung impliziert, lässt sich die Schreibaufgabe beim
materialgestützten Erörtern in thematischen Projekten organisieren. In ihrem Kontext
lässt sich das mündliche und schriftliche Argumentieren situativ
einbetten und adressatenorientiert gestalten, ohne dem "Formalismus" und der
"Schematisierung des erörternden Schreibens" (Matthießen
2003, S.134) weiter Vorschub zu leisten.
Zudem kann sich die Bewältigung
der Schreibaufgabe dann auch nicht so einfach auf "das
Abarbeiten eines bestimmten Gliederungsmusters" beschränken (Fix 2008,
S.105). In einem thematischen Projekt, das unterschiedliche Formen der
sprachlichen Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt oder Problem zulässt
und dafür geeignete Schreibanlässe schafft, hat auch das materialgestützte Erörtern
in seinen verschiedenen eher traditionellen und "freieren Formen", z. B. in Form von
Leserbriefen, Kommentaren,
Streitgesprächen,
Stellungnahmen" (ebd.)
u. ä. m. seinen Platz. Beim erörternden Erschließen der zur Grundlage
gemachten
kontinuierlichen und
diskontinuierlichen Texte (Dossier,
Kompendium etc.) kann
auch die "Textmusterbezogenheit" zugunsten einer
inhaltlichen Auseinandersetzung überwunden werden, weil auch Fähigkeiten zur
Textauswertung und Arbeitstechniken des
▪ Exzerpierens, Zusammenfassens
usw. relevant (werden)" und für den
▪ Schreibprozess
nutzbar gemacht werden können (vgl. Fix 2008,
S.105)
Es waren die Ergebnisse der »Pisa-Studie(n),
die der materialgestützten Erörterung die Bahn bereitet haben. Die Studie,
"die bekanntlich den Begriff der
Lesekompetenz aus der Fähigkeit zur
Informationsentnahme und –auswertung definiert und dabei von einem
Textbegriff ausgeht, der lineare und nichtlineare Texte (kontinuierliche
und
diskontinuierliche Texte, d. Verf.) umfasst, also neben
Sachtexten auch
mediale Darstellungen wie Statistiken und Diagramme“ (ISB (Hg.) 2010,
Bd. 1, S.146) öffnete den Weg zur neuen Schreibaufgabe.
In einem prozessorientierten Unterricht sollte das
materialgestützte Erörtern stets auch die Recherche zum Thema und Textmuster
auch
durch Schaffung einer dazu geeigneten situativen, möglichst multimedial und
mit Möglichkeiten zur Online-Recherche ausgestatteten Lernumgebung
ermöglichen.
Dabei muss das Rechercheziel und die Dokumentation der Recherche mit den
Schülerinnen und Schülern vorher vereinbart werden. Begründete
Auswahlentscheidungen bei den gefundenen Texten und Materialien können dabei
zur Erstellung eines Dossiers
oder Kompendiums oder
zur Integration in einem (Projekt-)Portfolio
genutzt werden.(▪ Ein Dossier/Kompendium zur
materialgestützten Erörterung erstellen)
Wichtig ist vor allem auch eine motivierende
Schreibaufgabe, die sich
möglichst an den (auch medialen) Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler
orientieren sollte. Außerdem sollte das Schreibhandeln in Form eines problemlösenden Schreibens gestaltet sein, das auf möglichst reale oder der
Realität nachempfundene Kommunikationshandlungen bezogen werden kann. Unter
diesen Voraussetzungen ist es durch den Einbezug fremder bzw. neuer
Gesichtspunkte aus den zur Schreibaufgabe zählenden Materialien auch für
schwächere Schüler eher möglich, einen eigenen Standpunkt zu einem
bestimmten Thema zu erarbeiten. Zudem lassen sich dafür auch verschiedene
Kompetenzniveaus beschreiben.
Beim materialgestützten Erörtern ist das Gesamtmaterial selbst, oft ein besonders
herausgestellter "Kerntext" umgeben von weiteren Materialien, nicht
Gegenstand der Erörterung, wie dies bei der "klassischen"
Texterörterung
erwartet wird. Dementsprechend ist auch die Schaffung eines klaren und eindeutigen,
expliziten Bezugs
auf die unterschiedlichen Texte (Textbezug) nicht die Voraussetzung des
beim materialgestützten Erörtern
geforderten argumentativen Schreibens. Wenn auch der Stellenwert des Textbezugs
nicht mehr so hoch ist wie bei der Texterörterung, sollen die Ergebnisse, die bei
der Informationsentnahme und Analyse der Materialtexte gewonnen wurden, in
die eigene Stoffsammlung wie in die Ausgestaltung der Argumentation
"einfließen“ (vgl.
ISB (Hg.) 2010, Bd. 1, S.147,
Hervorh. d. Verf.)).
Dies kann jedoch implizit
oder explizit erfolgen. Kommt es zu einer
expliziten Bezugnahme auf den Text müssen die Regeln des
Textbelegs und der
Zitation beachtet werden.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
09.11.2022
|