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Den Text mit einer Aussagenliste erfassen
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Inhaltsangabe und
strukturierte Textwiedergabe miteinander vergleichen
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Erörterungsaspekte
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Aus den allgemeinen Leitfragen konkrete
Fragen zum Text entwickeln
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Erörterungsaspekte ausführen (Prämissen)
Früher hätte man getuschelt
von Gert Egle (2008)
Was Lisa King Fithian aus Gadsen/Alabama oder die Koreanerin
mit dem Schimpfnamen "Dog Shit Girl" gemeinsam haben: Sie standen am Pranger
oder stehen immer noch da.
Als Strafwerkzeug in Form einer Säule, einer Plattform oder eines
Holzpfostens, an denen der Bestrafte gefesselt und öffentlich vorgeführt
wurde, war der Pranger oder Schandpfahl zunächst ein Art Folterwerkzeug und
Stätte der Prügelstrafe. Vom 13. Jahrhundert an wurden am Pranger meistens
Ehrenstrafen vollstreckt, die dem Delinquenten angesichts der öffentlich
erlittenen Schande kaum mehr Aussicht auf ein "normales" Weiterleben in der
Gemeinschaft machten. Während der Zeit am Pranger war der Betroffen dazu den
Schmähungen von Passanten ausgesetzt, musste sich mit mehr oder weniger
festen Gegenständen bewerfen und nicht selten auch verprügeln lassen. Der
Pranger war Ort öffentlicher Beschämung und ist es auf andere Weise heute
noch..
Lisa King Fithian und das so genannte "Dog Shit Girl" wurden für ihr
individuelles Fehlverhalten mit öffentlicher Demütigung bestraft, die
gesellschaftlicher Ächtung gleichkommt.
Lisa King Fithian geriet, einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom
15.05.2007 zufolge an den Pranger, weil sie Waren im Wert von sieben Dollar
hatte mitgehen lassen. 60 Tage Gefängnis oder zwei mal vier Stunden
Schandlaufen vor dem geschädigten Walmart-Supercenters urteilte der
zuständige Richter Kenneth Robertson in Gadsen/Alabama, nicht ohne den
Hinweis, dass es sich bei letzterem um "eine Art gemeinnützigen Dienst"
handeln würde. Lisa King Fithian zog die öffentliche Demütigung einer
zweimonatigen Haftstrafe vor und büßte ihr Vergehen zur besten Einkaufszeit
von 11 bis 15 Uhr, auf dem Parkplatz des Einkaufscenters mit dem riesigen
Schild um den Hals: "Ich bin ein Dieb, ich habe bei Walmart gestohlen." -
"Besser ein Schild um den Hals, als eine Hand abgehackt zu bekommen", meinte
dazu jemand in einem im Internet abgegebenen Kommentar auf der Webseite der
Gadsen Times, die zugleich über die umstrittene Wirkung solcher
Schuldsprüche mit dem beschönigenden Namen "Creative Sentencing" berichtete.
Während die einen in der Hoffnung auf Abschreckung an die Macht der Scham
glauben, schämen sich andere für diese öffentlichen Erniedrigungen, von
denen sie eher gegenteilige Effekte erwarten.
"Internet Shaming" heißt dagegen eine sich mehr und mehr verbreitende
Erscheinung, bei der Menschen, wie Philipp Oehmke im Nachrichtenmagazin Der
Spiegel (31/2008) berichtet, "gegen ihren Willen mit ihrem Foto, ihrem
Namen, mit Adresse, Lebensweg und Vorlieben" auf Webseiten an den Pranger
gestellt werden, "weil sie angeblich gegen gesellschaftliche Normen
verstoßen haben oder allgemein für unfreundlich gehalten werden."
So erging es dem in der Szene und darüber hinaus weit bekannten "Dog Shit
Girl", einer jungen koreanischen Frau, der ein Blogger aus Korea
fragwürdigen Ruhm um den Preis öffentlicher, ja weltweiter Demütigung
verschafft hat. Was war geschehen? Das Hündchen der jungen Frau hatte in der
U-Bahn sein "Geschäft" verrichtet und die junge Frau hatte sich daraufhin,
trotz Aufforderung von Mitfahrern, geweigert, den Hundekot zu entfernen.
Pech für sie, dass ein Zeuge das Geschehen fotografierte und auf ein
populäres koreanisches Blog hochlud. Die Hatz auf das "Dog Shit Girl" konnte
beginnen und binnen weniger Tage stand ihr Name und allerlei Persönliches
über sie im Internet. Wer sich kritisch dazu äußerte, musste sich anhören:
"Sie hat verdient, dass ihr Leben zerstört wird, und sie wird sich schon
nicht umbringen, denn sie ist eine dickhäutige Schlampe."
Zwei unterschiedliche Fälle, zwei ganz und gar unterschiedliche Dinge?
Mitnichten.
Auch wenn es manche Unterschiede zwischen ihnen gibt, "Internet Shaming" und "Creative Sentencing",
diese Spielarten zeitgenössischen Prangers in der zivilisierten Welt, sind
beides Formen der Barbarei: sie verletzen die Würde des Menschen, zielen auf
seine Demütigung und vernichten seine soziale Existenz, ohne die ein Leben
in Freiheit eben nicht möglich ist.
Indessen sind auch die Unterschiede offenkundig. Man mag über die Renaissance des Prangers im Sinne des "Creative Sentencing",
über amtliche Veröffentlichung von Straftäterlisten oder über Schandlaufen
vor dem Supermarkt denken, was man will, immer(hin) wird man dabei von
Richtern an den Pranger gestellt, die für solche Aufgaben bestellt sind. Und
ihre Absichten dienen der Wiederherstellung der Rechtsordnung, die von
Straftätern verletzt worden ist. Allerdings muss man auch wissen, dass Scham
sich nur unter bestimmten Bedingungen einstellt. Ob sich die Hoffnung auf
das Empfinden sozialer Scham durch einen Straftäter überhaupt erfüllt, hängt
nichtzuletzt auch davon ab, ob er überhaupt einen Zwiespalt zwischen den
Rollenzuschreibungen und -erwartungen der Gesellschaft an ihn und seinem
eigenen Verhalten erkennt. Ob sich Lisa King Fithian aus Gadsen/Alabama also
wirklich schämt angesichts ihrer vergleichsweise geringen Straftat, darf man
wohl ernstlich bezweifeln. Ihre öffentliche Beschämung spiegelt sich so
wahrscheinlich wenig in ihrer empfundenen Scham. So kann sich die Hoffnung
auf die "heilsame" Wirkung der Scham gerade in solchen Fällen als
Trugschluss, sogar als kontraproduktiv erweisen. Wenn statt Scham Demütigung
erfahren wird, mündet das Ganze eher in einem Jetzt-erst-Recht als in einem
Nie-Wieder. Auf diese Weise bestärkt Demütigung kriminelle Neigungen mehr,
als dass sie vor Straftaten abschreckt. So gesehen trägt das Schandlaufen
vor dem Supermarkt wohl wenig zur Resozialisierung von Straftätern bei.
Beim "Internet Shaming" dagegen wird die "Beschämung" des anderen
zum Instrument sozialer Kontrolle anderer durch beliebige Mitglieder der
Gesellschaft. "In
ihren Auswüchsen", betont Oehmke, "gleicht diese Maschine … einer
allgegenwärtigen Versammlung digitaler Blockwarte"2 und wer
wegen eines angeblichen Fehlverhaltens in ihre Fänge gerät, bekommt zu
spüren, wie "ein unbestimmbarer Internet-Mob, der sich selbst aufstachelt …
zur Selbst- und Lynchjustiz greift." Die Tatsache, dass jeder heutzutage in
diesem Sinne aktiv werden kann, unterscheidet das "Internet-Shaming" von
jenen Formen des Prangers im Fernsehen, bei dem auf der Jagd nach
Einschaltquoten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Prominente und
Möchtegern-Prominente ebenso wie ganz normale Bürgerinnen und Bürger manche
frei-, andere unfreiwillig zur Schau gestellt und beschämt werden. Wer einem
"Moderator" wie Stefan Raab zum Opfer fällt, kann sich mitunter gegen seine
ehrverletzenden und beschämenden "Sprüche" nur per Gerichtsverfahren zur
Wehr setzen. In einer Mediengesellschaft ist überall Raum für den Pranger
und der "Mob" quittiert ihn mit besten Einschaltquoten. Volksbelustigung in
den Formen des Mittelalters.
"Internet Shaming" ist ohne das Web 2.0 nicht möglich. Daher muss ein großes Fragezeichen
hinter die Lobpreisungen des so genannten partizipativen Web 2.0 gesetzt
werden, das "Internet Shaming" großen Stils und
als Massenerscheinung erst möglich gemacht hat. Mit den großen sozialen
Netzwerken wie Facebook, YouTube oder Instagram und den unzähligen Blogs
hat es eine neue Ära der Kommunikation ohne übergeordnete Hierarchien und
Kontrolle eingeläutet, nun zeitigt es aber auch Folgen, die aus der so gewonnenen Freiheit des
ungehinderten Meinungs- und Informationsaustauschs aller die Unfreiheit
einzelner entstehen lässt.
Wenn wir auf der einen Seite dem Staat als "Big Brother"1 untersagen, seine
Bürgerinnen und Bürger auf jede erdenkliche Weise, z.B. mit
heimlichen Online-Durchsuchungen, auszuspionieren, wenn wir der
Privatwirtschaft mit ihrem Datensammeln mehr und mehr unser Misstrauen
ausdrücken, dann dürfen wir unsere Privatsphäre nicht denen opfern, die mit
öffentlichen Schmähungen und Demütigungen gegen alle jene vorzugehen
trachten, die nicht ins eigene Weltbild passen. "Der Schutz des Kernbereichs
der Privatsphäre", erklärte unlängst Renate Künast, ehemalige
Bundesministerin der Grünen in der Zeitschrift "Cicero" (4/2008), " ist die
Voraussetzung dafür, selbstbestimmt leben zu können. Und ohne Heimlichkeiten
gibt es keine Privatsphäre." Die Frage ist nur, wer den Schutz dieser
Privatsphäre garantieren kann und wie? Der Staat? "Big Brother"? Ein
Widerspruch. So bleibt denn nur der Ruf nach der Entwicklung einer
Zivilgesellschaft, die den Schutz der Privatsphäre zu ihrer eigenen Sache
macht. Und eine Aufgabe ist ihr in jedem Fall gestellt:
Die Diskussion um den Schutz der Privatsphäre und informationelle
Selbstbestimmung, insbesondere auch im Internet, muss endlich auch die
Jugendlichen erreichen, die die eigentlichen Agenten des Web 2.0 sind. Allzu
leicht und sorglos geben sie in ihren bevorzugten Portalen ihre Privatsphäre
zur lebenslänglichen Besichtigung frei – und das freiwillig. Wenigen ist
dabei anscheinend wirklich klar, dass ein solcher Datenaustausch eben anders
ist als in einer Kneipe, seine Spuren lassen sich u. Umständen noch über
Jahre hinweg zurück"googeln". Und was dabei herauskommt, hat schon so
manche Bewerbung vermasselt. Und deshalb brauchen unsere jungen Leute auch
Hilfe zur informationellen Selbsthilfe, nicht zuletzt durch die Schule. Dann
ist er wieder gefragt, der Staat, aber nicht als "Big Brother".
(1012 Wörter)Erläuterungen:
1 Der Begriff "Big
Brother" (= Großer Bruder) geht auf den Roman »"1984"
von »George
Orwell
(1903-1950) zurück. Darin bezeichnet der Begriff den vermeintlichen
Diktator eines »totalitären
Staates namens "Ozeanien“, der die Kontrolle und Unterdrückung seiner Bürger
vollkommen perfektioniert hat. In dieser Gesellschaft wird jeder von den
Behörden überwacht. Der Große Bruder ist allgegenwärtig und verfolgt einen
bis in die intimsten Bereiche des Lebens. Sogar vor der Sexualität macht die
ständige Kontrolle des Großen Bruders nicht halt. Die Bevölkerung wird durch
die ständige Erwähnung des Propaganda-Slogans "Der Große Bruder sieht
dich" (engl. Big Brother is watching you) an diese Tatsache
erinnert. In Anlehnung an Orwells Roman wird der Begriff "Großer Bruder“
heutzutage auch für einen (staatlichen oder privaten) Überwachungsapparat
gebraucht, dem man machtlos gegenübersteht. Nach dem Orwellschen Vorbild
wurde auch die Fernsehshow »Big
Brother geschaffen, in der eine Gruppe von Menschen komplett
videoüberwacht und abgeschnitten von der Außenwelt lebt. (vgl.
wikipedia.de, 18.09.08)
2 »Blockwarte
waren zur »»Zeit
des Nationalsozialismus (1933-1945) rangniedrige Funktionäre der
NSDAP, wie auch ihrer Nebenorganisationen, die u. a. mit der
Überwachung, der in ihrem Block (Häuserblock oder Wohngebiet) wohnenden
Bevölkerung beauftragt waren. Sie notierten u. a. Unmutsäußerungen,
schrieben auf, wer sich weigerte seine Fenster mit NS-Fahnen zu beflaggen,
schrieben »Leumundszeugnisse
und waren allgegenwärtige Ansprechpartner für alle diejenigen, die andere
wegen regimefeindlichem Verhalten den NS-Behörden gegenüber denunzieren
wollten.
Gert Egle¨,
www.teachsam.de, 19.09.08 - neu bearbeitet am:30.12.2023
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.12.2023
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