Die
▪
Kurzgeschichte ▪»Die
Tochter«, von ▪
Peter
Bichsel im Jahr 1964 im Kontext des heraufziehenden
Konsumzeitalters und der beginnenden Individualisierung von
Lebensformen veröffentlicht, führt den Leser, wie es für diese
literarische Textsorte durchaus üblich ist, unvermittelt, d. h. ohne
weitere Informationen über die räumliche und zeitliche Fixierung des
Geschehens, die Vorgeschichte oder die handelnden Figuren mitten
hinein in ein Geschehen, das sich schnell als ganz alltäglich
erweist und in Alltagssprache dargeboten wird.Ein Elternpaar
wartet jeden Abend eine Stunde lang auf die Rückkehr ihrer Tochter,
die in einer räumlich entfernten Stadt arbeitet, um nach ihrem
Eintreffen, pünktlich jeden Werktagabend gegen halb acht, mit ihr
gemeinsam Abend zu essen. Sie sitzen am Tisch in der Küche und ihr
äußeres Tun beschränkt sich, abgesehen davon, dass während dieser
einstündigen Wartezeit der Tisch nach und nach mit einem sehr
einfachen Abendbrot (Butter, Brot, Marmelade) gedeckt und Kaffee
gekocht wird, auf dieses Warten, das schon durch die fünfmalige
Wiederholung in den ersten fünf Sätzen, eintönig, öde und
sinnentleert wirkt. Während sie warten, gehen ihnen verschiedene
Dinge über das Berufs- und Alltagsleben und den in naher Zukunft zu
erwartenden Auszug ihrer Tochter aus dem Elternhaus durch den Kopf.
Das Wenige, was sie in der Wartezeit darüber zueinander sagen,
bringt dabei ihre Gedanken und Gefühle kaum zum Ausdruck.
Das Geschehen, das von einem personalen Erzähler dargeboten wird,
ist, insgesamt gesehen, keine Darstellung eines einmaligen Geschehens. Schon das erste
Wort, mit dem die Geschichte beginnt, macht dies klar. Es ist
"abends" und diese Adverb der Zeit macht deutlich, dass das, was
nachfolgend erzählt wird, tagtäglich passiert. Die erzählte Zeit
umfasst dabei die tägliche einstündige Wartezeit, markiert durch die
zweimalige Verwendung des deiktischen Zeitadverbs "jetzt" am Anfang
und am Ende der Geschichte, wird aber durch
Rückwendungen und Vorausdeutungen in den Gedanken der beiden
agierenden Figuren, dem Vater und der Mutter, in die Vergangenheit
und die Zukunft ausgeweitet. Während der äußere zeitliche Rahmen
damit vorgegeben wird, werden dabei aber nicht nur immer
wiederkehrende Geschehnisse iterativ dargestellt, sondern zumindest
am Ende der Geschichte, beginnend mit dem Dialog der beiden
Protagonisten und der Bemerkung der Mutter "Ich habe den Zug gehört",
wird
die fiktionale Gegenwart erreicht.
Was sich in der einstündigen Wartezeit ereignet, wird mit
Zeitadverbien wie "dann" oder "und dann" vom Erzähler
aneinandergereiht, um die zeitlichen Lücken, die sich zwischen dem
dargestellten inneren und äußeren Geschehen auftun, zu
überbrücken. Das iterative "oft" betont dabei immer wieder, dass es
sich um ein sich wiederholendes Tun handelt. Insgesamt gesehen wird
das Geschehen in geraffter Form dargestellt, da die Erzählzeit der
Geschichte deutlich kürzer als die erzählte Zeit ist. Dabei wird
aber durch die additive Reihung der mit "dann" verbundenen
Ereignisse der Eindruck erweckt, dass kein linearer Zeitablauf
gestaltet wird, sondern einfach Eindrücke, Gedanken und Handlungen
irgendwie hintereinander montiert sind, die sich während der
Wartezeit irgendwann zutragen. Und dadurch wird der Eindruck
verstärkt, dass es sich trotz der zeitlichen Raffung um eine öde und
quälende Wartezeit handelt, die von den beiden Protagonisten weder
mit Sinn versehen, noch als solche offenbar abgeschafft werden kann.
Die Familie, in der die Tochter namens Monika aufgewachsen ist,
lebt räumlich entfernt von der Stadt, in der die Tochter als
Büroangestellte arbeitet. Die näheren Lebensumstände der Familie
müssen vom Leser aus dem Text durch vorhandene direkte und indirekte
Charakterisierungen rekonstruiert werden.
Vater und Mutter werden in dem Text nicht direkt charakterisiert.
Sie haben offensichtlich ein einziges Kind, ihre Tochter Monika, und
leben mit schlechten Bahnverbindungen zu einer Stadt in der Umgebung
irgendwo auf dem Land. In ihrem Zuhause, in dem "eine Vase aus
blauem schwedischem Glas", die sie von ihrer Tochter geschenkt
bekommen haben, das einzige ist, was irgendwie heraussticht, gibt es
ein eigenes Zimmer für die Tochter. Was abends auf den Tisch kommt,
ist das Abendbrot von Leuten, die in sehr bescheidenen, aber
existenziell ausreichenden Lebensverhältnissen leben.
Der Vater ist als Arbeiter tätig und empfängt seine "Lohntüte" im
Lohnbüro seines Betriebes. Über seine sonstigen Interessen; Wünsche
oder Neigungen erfährt man, außer der Tatsache, dass er, zumindest
zu einem früheren Zeitpunkt, nach der Arbeit stets "seine Zeitung"
gelesen hat, nichts. Über die Mutter erfährt man als Leser noch
weniger. Die personale Perspektive des Vaters beschränkt den
Erzähler nahezu durchgängig auf dessen Innensicht, die manchmal mit
einer Inquit-Formel ("dachte er") explizit markiert ist. Was als
aktuelle oder immer wiederkehrende Gedanken im personalen
Erzählerbericht präsentiert wird, lässt sich mit wenigen Ausnahmen
dem personalen Horizont des Vaters zuordnen. Die Mutter, die wohl
Hausfrau ist, kommt jedenfalls als eigenständig denkende Person
nicht zu Wort. Was sie angeblich denkt, von Gefühlen ist eigentlich
nie die Rede, wird von ihrem Mann "mitgedacht", wenn der personale
Erzähler in der grammatischen Mehrzahl des Personalpronomens als
"sie" erzählt. ("Sie, er und seine Frau"). Die wenigen
wörtlichen Äußerungen der Mutter während des Wartens wirken geradezu
zusammenhanglos dahergesagt und können keine Impulse für ein echtes
Gespräch zwischen den beiden setzen. Die Art und Wiese, wie sich
beide in den wohl eher bruchstückhaft erzählten Dialogpassagen im
Grunde nur gegenseitig in ihren Ansichten bestätigen (»"Andere
Mädchen rauchen auch", sagte die Mutter. "Ja", sagte er, "das habe
ich auch gesagt." « und die Aufforderung an die Tochter, etwas auf
Französisch zusagen), scheint das kollektive "Sie" geradezu zu
rechtfertigen, mit dem der Vater für beide "denkt". ("Dann
versuchten sie wenigstens", "oft fragten sie sie", "das wussten
sie"). Wenn man so will, eine Abbildung patriarchalischer
Strukturen, wie sie die Kleinfamilie lange Zeit geprägt haben, in
der der Vater das Sagen hat.
Mit ihrer Tochter zusammen bilden die Eltern eine traditionelle,
allerdings was die Anzahl ihrer Mitglieder anbetrifft, die kleinste
Form der sogenannten Kleinfamilie. Seit die Tochter in der Stadt
arbeitet, morgens das Haus verlässt und erst abends zurückkehrt,
konstituiert sich die Familie jeden Abend quasi neu durch das von
den Eltern vorbereitete gemeinsame Abendessen, immer, zumindest
werktags, zur gleichen Zeit und jede der Figuren an ihrem gewohnten
Platz um den Küchentisch, das wie ein Ritual funktioniert, indem es
ein Handlungsschema in Szene setzt, dessen Berechtigung nicht mehr
in Frage gestellt werden kann.
Die allabendliche Rekonstituierung der Familie bleibt aber
äußerlich. Über den konkreten Ablauf und die dabei stattfindende
oder nicht-stattfindende Kommunikation erfährt der Leser nichts, die
Geschichte endet schließlich offen mit dem Einfahren des Zuges in
den Bahnhof, das die Mutter wahrnimmt. Und doch zeigen die leisen,
aber dennoch kritischen Untertöne gegenüber der Tochter in den als
kollektiv ausgewiesenen Gedanken ( zweimal: "Sie wusste aber nichts
zu sagen"), dass sich Eltern und Tochter nicht viel zu sagen und
damit ein Stück weit einander entfremdet haben.
Alles scheint überschattet von der schon absehbaren Zukunft, die
mit dem Auszug der Tochter aus dem Elternhaus, ihrem
wahrscheinlichen Fortzug in die Stadt und ihrer künftigen Heirat,
ein andere Vorstellung vom eigenen Leben in einer von
Individualisierung geprägten Gesellschaft scheint nicht einmal
denkbar, auch das Ende dieser Kleinfamilie heraufbeschwört. ("Sie
wird auch heiraten, dachte er, sie wird in der Stadt wohnen.")
Darüber wirklich sprechen können sie aber als Eltern nicht, auch
wenn man als Leser herausspürt, wie sehr ihnen die schon im Gang
befindliche Ablösung des einzigen Kindes vom Elternhaus zu schaffen
macht, auch wenn sie sich die Indizien der fortschreitenden Ablösung
mit dem Traum vom sozialen Aufstieg schöndenken bzw. schönreden.
Immerhin: Das es so weit kommt, wissen sie, was es für ihr eigenes
Lebensmodell , ihre Vorstellungen von Lebenssinn bedeutet, ist ihnen
aber nicht bewusst. Wenn es denn so weit ist, wird der Vater eben
wieder "seine Zeitung" lesen und das Zimmer, in dem die Tochter
gewohnt hat, eben weitgehend leerstehen. Und: Vater und Mutter
werden wieder eine Stunde früher gemeinsam zu Abend essen, der Vater
wie immer und seiner Rolle als Familienoberhaupt entsprechend "oben"
am Tisch und die Mutter irgendwo daneben sitzen. So einfach und
zutiefst rationalisierend biegt sich der Vater gedanklich hin, was
ihm offensichtlich trotzdem nicht leichtfällt, wie das fast
rituelle, krampfhafte Festhalten an dem gemeinsamen Abendessen mit
der Tochter, für das er langjährige Gewohnheiten aufgegeben hat,
zeigt.
Im kollektiven "Sie" gehen die Eltern damit auf ihre Weise um.
Die Art und Weise, wie "sie" ihre Tochter sehen, drückt aus, was sie
beschäftigt. Ihre Tochter wird von ihrer äußeren Erscheinung als
"größer gewachsen", "blonder" und mit einer "feinen Haut"
ausgestattet beschrieben und der dabei vorgenommene Vergleich, der
sich unter anderem in den Komparativen zeigt, signalisiert die
Bewunderung und den Stolz der Eltern darauf. Dass die Tochter ihnen
als "liebes Kind", wie die Mutter sagt, dazu offenbar keine
(pubertären oder sonstigen) Probleme bereitet hat, passt dabei ins
Bild. Aus ihren Worten spricht die gleiche Bewunderung und der
gleiche Stolz, wenn sie die Tochter bitten, etwas auf Französisch zu
sagen, oder der Vater daran denkt, dass die Tochter Stenografieren
kann. Und genau so verhält es sich, wenn sie sich vorstellen, wie
sich ihre Tochter sicher auf dem ihnen selbst fremden Parkett
gesellschaftlichen Lebens, in der Bahn oder in Tearooms während der
Mittagspause bewegt. Allerdings ist diese Bewunderung und der Stolz
der Eltern nur die eine Seite der Medaille.
In ihrem eigenen (!) Zimmer hat die Tochter einige Produkte der
modernen Konsumwelt um sich versammelt und signalisiert damit auch
die Abgrenzung vom elterlichen Lebensstil: Sie hat einen
Plattenspieler, einige Platten, die sie sich hin und wieder aus der
Stadt mitbringt und sie kennt, was die Eltern besonders bewundern,
sogar die Interpreten der jeweiligen Musikstücke. Dazu besitzt sie
ein paar Kosmetikartikel ("verschiedene Fläschchen und Döschen") mit
denen sie den Duft der großen weiten Welt in die eigenen vier Wände
bringt, einen Hocker mit marokkanischem Lederbezug und eine
Schachtel Zigaretten. Allesamt Dinge, die den Eltern zwar fremd
sind, aber von ihnen offenbar als Zeichen dafür gedeutet werden,
dass es ihrer Tochter einmal besser gehen wird als ihnen selbst.
Alles, was die Tochter hat, und was sie ist, erfüllt sie, mit
einer kleinen Ausnahme, ihrem Rauchen, mit Stolz. In ihrer Tochter
verkörpert sich der Traum des "kleinen Mannes" nach sozialem
Aufstieg und sei es auch nur ein Aufstieg aus der Arbeiterklasse in
die besser gestellte und mit höherem Sozialstatus angesehene Schicht
der Angestellten. Dass die Tochter sich mittendrin in diesem
sozialen Aufstieg befindet, dafür sprechen die wenigen Stücke in
ihrem Zimmer, die den Eltern als die ihnen noch verwehrt gebliebene,
beginnende Teilhabe an den Annehmlichkeiten der Konsumgesellschaft
erscheinen. Als "Bürofräulein" ist sie in ihren Augen zudem
auch eine gute Partie für Herren, denen sie bei ihrer täglichen
Fahrt zur Arbeit, so wie die Eltern es sich vorstellen, im Zug, am
Bahnhof ("wie sie den Gruß eines Herrn lächelnd erwidert") oder als
"ein Fräulein, das in Tearooms lächelnd Zigaretten raucht", im
Duft ihres Parfums und mit dem Modejournal unterm Arm selbstbewusst
begegnen kann.
Aber all das sind Vorstellungen über das Berufs- und Stadtleben
der Tochter, die sich die Eltern bzw. der Vater selbst
zusammenreimen müssen, da die Tochter, auf die Fragen, die die
Eltern an sie richten, "nichts zu sagen" weiß. Der Vater greift
dabei auf Erfahrungen zurück, die er selbst mit einem "Fräulein" mit
ihren vielen Stempeln, der Rechenmaschine und ihrer freundlichen
Verbindlichkeit in seinem Lohnbüro gemacht hat und überträgt die
Bewunderung, die er für die Büroangestellte mit ihren "blondierten
Haaren" hat, auch auf sein Vorstellungsbild vom Berufsalltag der
Tochter.
Was die Tochter über die Einstellungen ihrer Eltern denkt und wie
sie konkret damit und insbesondere der allabendlichen Situation
umgeht, bleibt weitgehend offen. Die Tatsache allerdings, dass sie
den Eltern auch auf deren immer wieder gestellten Fragen nach ihrem
Berufs- und Alltagsleben in der Stadt ausweicht und auch ihre
Bitten, etwas in Französisch zu sagen, nicht erfüllt, macht
deutlich, dass sie sich durch solche Fragen kontrolliert fühlt und
dies in einer Phase ihrer Entwicklung, in der sie mit dem Eintritt
in das Berufsleben und der Ausbildung ihrer Geschlechtsidentität
(Kosmetik, Parfum) ihren Anspruch auf Selbstkontrolle und
Verantwortung für ihr eigenes Leben zu beanspruchen begonnen hat.
Doch diese Zeichen der Zeit werden von den Eltern offenbar nicht
erkannt. Sie üben mit der von Vater und Mutter wiederholten
Aufforderung, die Tochter möge etwas in Französisch sagen, Druck auf
die Tochter aus, weil sie in ihrer Bewunderung dafür -
Fremdsprachenkenntnisse sind keineswegs selbstverständlich - ein
Sinnbild für den Aufstieg aus den einfachen Verhältnissen ihres
Arbeiterhaushalts sehen, den sie ihrer Tochter ermöglicht haben. Wie
die Tochter das Ganze sieht, bleibt außen vor, sie hat in der
Geschichte keine Stimme und weiß - wie immer in solchen Fällen -
eben nichts zu sagen.
Schwierig für die einzige Tochter, um die sich nicht nur während
der einstündigen Wartezeit für Vater und Mutter alles dreht.
Schwierig aber aller dargestellten Alltäglichkeit auch für die
Eltern. Schwierig für alle, weil sie über ihre Gefühle offenbar
nicht miteinander reden können und sich hinter einem Ritual des
gemeinsamen Abendessens für eine gewisse Zeit lang verbarrikadieren
und das Bild einer funktionierenden Familie inszenieren. In Wahrheit
jedoch spielt sich hinter der Fassade der schon brüchig gewordenen
heilen Familienwelt ein alltägliches Kleinfamiliendrama um die
Ablösung vom Elternhaus ab, das zwar unausweichlich ist, die
Beteiligten aber, so scheint es, gänzlich unvorbereitet trifft.