▪ Themabereich
Lesen
▪
Lesen im
Mittelalter
▪
Lesen in der frühen Neuzeit
(16./17. Jh.)
▪ Lesen im 18. Jahrhundert
Schreiben in den
Expertenkulturen des Mittelalters
Im Mittelalter
waren Lesen und Schreiben vor allem eine Angelegenheit von
klösterlicher "Expertenkulturen" (Bickenbach
2015, S.401), nachdem die weitgehend illiteraten germanischen
Eroberer des römischen Reiches mit ihrer sogenannten »Völkerwanderung
(375 bis 568) der spätantiken Schrift- und Lesekultur ein Ende
setzten. Sie brachten weder eine eigene mit, noch übernahmen
sie, was sich bei den Römern und in der griechischen Antike über
viele Jahrhunderte hinweg entwickelt hatte.
Lesen und
Schreiben war nicht mehr gefragt, und wer es noch pflegte, lebte
hinter den Mauern mittelalterlicher Klöster, wo die Mönche
bewahrten, was von der antiken Schriftkultur noch übrig
geblieben war.
Was im Mittelalter überhaupt gelesen und geschrieben wurde, war
meistens in Latein verfasst. Daneben gab es ganz wenige
althochdeutsche Schriftdenkmale. Es dauerte bis ins 16. Jahrhundert
bis man in größerem Umfang in der eigenen Muttersprache zu lesen und
zu schreiben begann.
Im Umgang mit der dominierenden lateinischen Schriftlichkeit
kristallisierten sich unter denen, die des Lateinischen mächtig
waren, drei verschiedene ▪
Lesemodi heraus, die in bestimmten
Lesesituationen zum Einsatz kamen. Das ▪
monastische Lesen,
das ▪
studierende Lesen und das
▪
scholastische Lesen.
Zugleich blieb Lesen und Schreiben weiterhin allem vor eine professionelle Angelegenheit von
Experten.
Das
Schreiben, wie es an den »Lateinschulen
des Mittelalters gelehrt wurde, sollte den männlichen Schülern
den Weg in einen geistlichen Beruf ebnen oder für ein Studium an
der Universität vorbereiten. Schreiben war reproduzierendes
Schreiben, also auf die Imitation und die Reproduktion
vorhandener Texte bezogen.
Die Texte, die
abgeschrieben wurden, wurden dabei wie eine Formularvorlage
behandelt, so dass beim Schreiben allenfalls an wenigen Stellen
des Textes, z. B. bei Namen, Orten oder Anlässen) Änderungen
vorzunehmen waren. (vgl.
Fritzsche
1994, S.258f.) Wenn überhaupt, dann stand hinter den Vorstellungen
über das Schreiben die didaktische Überzeugung, dass man erst nach einer
Phase der Nachahmung zu einem eigenen, persönlichen Stil beim Schreiben
finden könne.
Schreiben als
Vorbereitung des Denkens
Am ▪
Beginn des
18. Jahrhunderts sprengte das Lesen und Schreiben allmählich
die sozialen und religiös-ideologischen Begrenzungen, die die
Expertenkulturen in Klöstern und an Universitäten auszeichneten.
Immer mehr, wenngleich in einem lang anhaltenden Prozess, der
mit der mit der Zunahme des Bildungsangebots in den städtischen
Schulen zu tun hatte, vergrößerte sich die ▪
Anzahl von Menschen, die lesen und schreiben konnten.
Einen tiefgreifenden Wandel brachte die Tatsache mit sich, dass ab
dem 17. Jahrhundert auch die deutsche Sprache - bis dahin war Latein Ein
und Alles - im rhetorischen Unterricht Fuß fassen konnte. Im deutschen
Rhetorikunterricht wurde nämlich "wesentlich freier" mit den Textmustern
umgegangen. Statt sie möglichst genau zu imitieren, wurden sie nun "mit
eigenen Worten nacherzählt und umgewandelt". (ebd.,
S.261) Wenn auch zunächst kein echter Paradigmenwandel feststellbar war,
weil das Schreiben auch weiterhin dem wirkungsvollen Reden zu dienen
hatte, ging es aber jetzt nicht mehr "um das Erlernen einzelner Arten
von Reden, sondern um den Erwerb stilistischer Fertigkeit allgemein." (ebd.)
Die
Vorstellung, dass das Schreiben vor allem der Vorbreitung des
Redens zu dienen hatte, blieb aber wohl weit bis weit ins 18.
Jahrhundert hinein bestimmend und knüpfte dabei an die
rhetorischen Tradition der Antike an.
Ludwig (1988)
spricht im Zusammenhang mit der Geschichte des deutschen
Aufsatzunterrichtes dabei von der
rhetorischen
Vorgeschichte des deutschen Aufsatzes, deren Grundzug die
Instrumentalisierung des Schreibens als Vorbereitung auf das
Sprechen gewesen sei.
Diese zeigt
sich u. a. daran,
-
dass bestimmte Redeteile
einzeln, auch mit Schreibübungen geübt wurden, um sie später zu
einer wirkungsvollen Rede zusammenzusetzen.
-
dass man klaren
Mustern folgte. Dies trug aber auch dazu bei, dass das Verfassen einer Rede als
lehr- und lernbar erschien, zumal man beim Formulieren auf eine Vielzahl
vorgefertigter Versatzstücke zurückgreifen konnte, die in entsprechenden
Sammlungen zur Verfügung standen.
Aus einigen der schriftlichen
Vorarbeiten für Reden, die lange Zeit zu unzähligen Anlässen in der
Schule und auch außerhalb gehalten wurden, haben sich nach und nach
selbständige Aufsatzarten im Unterricht entwickelt.
So entwickelte sich
die Erzählung, verstanden als "eine Art Tathergangsschilderung vor
Gericht" (ebd.,
S.260) daraus wie die Beschreibung, die Stellungnahme zu bestimmten
Fragen bzw. Sachverhalten und die Erörterung allgemeiner Probleme.
Allerdings müssen für die Entstehung dieser Aufsatzarten auch andere
Aspekte, wie z. B. poetische oder philosophische Textmuster und
Traditionen berücksichtigt werden (vgl.
ebd.)
Die aus der antiken rhetorischen Tradition abgeleiteten Aufsatzarten
entwickelten sich aus verschiedenen rhetorischen Übungsformen, die z. B.
auf einer Reihe von Tugenden des Erzählens beruhten.
Dazu zählten:
-
Kürze (brevitas),
Deutlichkeit (perspicuitas), Glaubwürdigkeit (probalitas)
-
Disposition des Erzählten
in einem klaren Textaufbau (Chrie und Thesis)
-
Anpassung an die
Kommunikationssituation bei der erfundenen Rede
Die Reihenfolge der rhetorischen Übungen folgte dabei einer vom
Schwierigkeitsgrad her abgeleiteten Progression:
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Im
18. Jahrhundert löste sich das
Schreiben von seiner nur das Reden vorbereitenden Funktion. Es erhielt
eine eigene Funktion zugesprochen, sollte fortan dem "wohlüberlegten
Ausdruck" (ebd.,
S.261) nicht nur fremder, sondern auch der eigenen sachkundigen Gedanken
zu einem bestimmten Thema dienen. So wurde der Aufsatz zu einem
Medium des Denkens und der geistigen Entwicklung.
Während zahlreiche
mündliche Übungen noch immer der rhetorischen Eloquenz dienten, wurden
die schriftlichen Übungen nun
"in den Dienst der
Verstandeskräfte gestellt", mit denen man "Gedankenarbeit"
betrieb (vgl. Ludwig
1988, S.106, zit. n.
Fritzsche
(1994), S.262) Im Zusammenhang mit dem veränderten pädagogischen
Blick, den die Aufklärung auf die Kindheit warf, "(bemaß) sich der
Nutzen des Schreibens nicht mehr daran, welche Wirkung es beim Leser
hat, sondern wie sehr es dem Schreiber auch beim Erkennen der
Wirklichkeit hilft und seine geistige Entwicklung fördert." (Fritzsche
1994, S.262) Die Entdeckung des Schreibens als Lernmedium zog aber
auch eine stärkere Verschulung des Schreibens nach sich. Statt
außerschulischen Zwecken diente der allgemeinbildende Schreibunterricht
vor allem dem Unterricht selbst. Schreibend sollten fortan
unterrichtliche Gegenstände in nahezu allen Fächern erfasst werden. Man
fasste fortan zusammen, erarbeitete Gliederungen und beantwortete
vielfältige Fragen zum Text. Indem das Schreiben in der Schule mehr und
mehr als Ausdruck von Ideen, Gedanken, Urteilen und Gefühlen verstanden
wurde, konnte auch die Vorstellung reifen, dass ein Aufsatz "als die
Äußerung des Innenlebens eines Schülers schlechthin" (ebd.,
S.263) aufgefasst werden könne. Über die Authentizität und Echtheit
solcher sprachlicher Entäußerungen in Aufsatzform machte man sich
weniger Gedanken. In jedem Falle glaubte man bei der Einführung des
Abiturs 1788 in Preußen, dass man vor allem am Aufsatz des Prüflings
messen könne, ob er die erforderliche "Reife des Charakters"
(=Reifeprüfung) aufwies oder eben nicht. Und noch in
Meyers Neuem
Conversationslexikon aus dem Jahre 1857 ist zu lesen, dass der
Schulaufsatz "als der Ausdruck der Gesamtbildung des Verfassers und das
geeignetste Mittel" angesehen werden könne, um "diese Gesamtbildung
sowohl zum Bewusstsein seines Besitzers, als zur Anschauung für Andere
zu bringen. " (zit. n.
ebd.,
S.263f.) Überblickt man die Entwicklung des Schreibunterrichts seit dem 17.
Jahrhundert, so hat, wie
Fritzsche
(1994, S.262) betont, eines immerhin reglerecht Schule gemacht: Im
Zuge dieser Entwicklung haben sich die
drei wesentlichen didaktischen Funktionen des Aufsatzunterrichts
herausgebildet, die bis heute Gültigkeit beanspruchen können:
-
die "Aneignung von
Mustern und Regeln zum Verfertigen von Schriftstücken unter
praktischen Gesichtspunkten (ein Beispiel für den 'Aufsatz' als
Lerngegenstand" (Textmusterwissen,
Textsortenwissen)
-
die "Entfaltung und
Ausbildung aller 'Seelenkräfte' (der Aufsatz als Lernmedium"
(Identitätsbildung)
-
die "Dokumentation der
'Reife" (der Aufsatz als Lernkontrolle)
Interessanterweise trifft man in der didaktischen Diskussion dieser
Zeit offenbar auch auf Linien, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen.
Von der einen Seite lautestarke Kritik an Schematismus und Formalismus,
von der anderen Seite Kritik an einem angesichts der geforderten inneren
Bloßstellung zu Heuchelei verleitendem Schreibhandeln. Und auch die
Diskussion um die Wahl der Themen trägt fast moderne Züge. Da wird zum
einen gefordert, dass sich Aufsatzthemen nur auf das beziehen sollen,
was im Unterricht behandelt worden ist, zum anderen wird die Öffnung der
Themen hin zu den Lebenswelten der Schüler gefordert. Während jene
meinten, dass man nur so dem Geschwafel über allgemeine Themen entgehen
könne, meinten diese in der schreibenden Befreiung der Seelenkräfte
einen besonderen Beitrag zur Charakterbildung leisten zu können. Diese
plädierten im Sinne eines freien Aufsatzes für die schreibhandelnde
Selbststeuerung, jene meinten, das Aufsatzschreiben auch in inhaltlicher
Hinsicht möglichst gründlich vorbereiten zu müssen. (vgl.
ebd.,
S.264) Was in dieser Auseinandersetzung vorgebracht wird, gilt mit
gewissen Einschränkungen eben bis in die Gegenwart hinein, wenn z. B.
Baurmann
(2002/2008, S. 75) betont: "Wenn Fiktives,
Problemerörterungen oder Anforderungen, die wenig mit der
Erfahrungswelt von Kindern und Jugendlichen zu tun haben, beim Verfassen
von Texten verlangt werden, dann muss die vorhandene Wissensbasis häufig
ergänzt und verändert werden."
Die Klagen über die mangelnden Kenntnisse von Schülern bei Themen,
die nicht Gegenstand des Unterrichts waren, führten dazu, dass Themen,
die aus dem Literaturunterricht hervorgingen, lange Zeit dominierten. Es
ging darum, den Aufsatz als Lernmedium zu zu etablieren. Die Stoffe und
Inhalte des so konzipierten deutschen Literaturaufsatzes sollten vor
allem den Absolventen des Gymnasiums Zugänge zur Allgemeinbildung
verschaffen. Zugleich aber ließen sich mit ihnen, so nahm man an,
bestimmte ideologisch fundierte Vorstellungen über den bürgerlichen
Nationalstaat in den Köpfen der künftigen "Untertanen" besonders
effektiv verankern. Der deutsche
Literaturaufsatz, der von der Mitte des 19. Jahrhunderts an mit
den Großen der deutschen Nationalliteratur "nationale Gesinnung" fördern
und damit zur "Charakterbildung" der Untertanen im deutschen
Kaiserreichs beitragen sollte, machte damit den Aufsatz zum
Lernmedium des Literaturunterrichts, der aller verbrämter
Stilisierungen zum Trotz (reine Denkschulung, Aneignung der Klassiker
und/ Stilbildung) in besonderer Weise für ideologische Zielen
instrumentalisiert wurde.
Von der »Reformpädagogik
wurde in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgegriffen, was der
Leipziger Germanist und Pädagoge »Rudolf
Hildebrand (1824-1894) schon 1867 gegen die vorherrschende
Aufsatzdidaktik einwandte. Seinem Verständnis nach folgte sie einem
Menschenbild, genauer einem Bild des Kindes bzw. Jugendlichen, das beide
als
unmündig betrachtete und somit den Erziehungszielen der Erwachsenen
unterwarf. So erschien es ihm auch zwangsläufig, dass der herkömmliche
Aufsatzunterricht, der Schreiben ohne unterrichtliche Vorbereitung nicht
vorsah, zu einer Art "Gedächtnisprobe" vorkommen sei. Denn, so sein
Argument, die unterrichtliche Aneignung der jeweiligen Gegenstände
bleibe so eine bloß äußerliche und verleite den Schüler "Dinge
hinzustellen, die noch nicht Wurzel gefasst haben in seinem Ich“ (Hildebrand
1867, zit. n.
Fritzsche
1994, S.265). Solange es nicht zuvor gelinge "den eigenen Inhalt der
Schülerseele herauszulocken und daran die Form zu bilden“ (ebd.)
gleiche das Vorgehen einem "Sprachunterricht dem man Papageien gibt". (ebd.) Die Reformpädagogik hielt nichts von der bloßen Reproduktion
literarischer Werke und stellte das Postulat, wonach alle (Seelen-)Kräfte
eines Kindes zur Entfaltung gebracht werden müssten, auch an die erste
Stelle ihrer Aufsatzdidaktik. Was sie von Kindern erwartete, waren keine
kleinen Kunstwerke, sondern Texte, die authentische Erfahrungen und
Empfindungen ausdrückten und mitteilten, was Otto
Ludwig (1988,
S.315) veranlasste, in diesem Zusammenhang von
"Persönlichkeitspädagogik" zu sprechen. (vgl.
Fritzsche
1994, S.266) In jedem Fall galt "der ‘freie“ Aufsatz‘ als
Ausdruck von Individualität“ (ebd.)
Der freie Aufsatz
jedenfalls sprengte die engen normativen Fesseln des so genannten
gebundenen
Aufsatzes, zu dem, wenn man dieser Systematik der Orientierung
halber einmal folgt, mehr oder weniger alle auf Reproduktion
ausgerichteten Aufsatzformen bis dahin gezählt werden können. Dabei waren
es vor allem
»reformpädagogische Argumente in der Tradition von »Comenius
(1592-1670), »Rousseau
(1712-1778), »Pestalozzi
(1746-1827) u. a., die das Konzept des gebundenen Aufsatzes
erschütterten. Dahinter standen Vorstellungen, die über den Wechsel der
Perspektive hin zum schreibenden Kind einen Paradigmenwechsel in der
Aufsatzlehre nach sich zogen. Fortan sollte der kindliche und jugendliche
Schreiber nicht mehr in das Korsett vorgegebener Textmuster und
Wahrnehmungsschemata eingepasst werden, sondern sich beim Schreiben seiner
selbst gewahr werden und selbst ausdrücken. Wie ein Künstler solle das Kind
seine ureigene schöpferische Kraft selbst erfahren und "ohne die Grenze
thematischer und stilistischer Gebundenheit, sein eigenes Erleben und seine
Fantasie frei entfalten." (Fix
2006/2008.,
S.113) Was die Reformpädagogen Anfang des 20. Jahrhunderts einforderten,
mündete im Konzept des freien Aufsatzes, musste aber trotz
seiner großen Popularität schon bald unter den Bedingungen der
nationalsozialistischen Diktatur wieder altbekannten Vorstellungen in neuem
ideologischen Gewand weichen. Eine der "Persönlichkeitspädagogik"
verpflichtete und "Individualität" fördernde Aufsatzdidaktik hatte
im Papageien-Sprachunterricht der Nazis, der der widerspruchlosen
nachahmenden Unterwerfung unter gesetzte Vorgaben beim Schreiben offenkundig einen hohen Stellenwert bei der
Herstellung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft und dem Aufbau des
Führerstaates zuerkannten. Trotzdem oder auch gerade deshalb: am Konzept des
freien Aufsatzes mussten sich alle aufsatzdidaktischen Konzepte von der
Weimarer Republik, über den Nationalsozialismus bis hin zur
Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren abarbeiten, um sich
selbst dagegen positionieren zu können.
Neben dem Konzept des freien Aufsatzes, das die normativen Begrenzungen des
gebundenen Aufsatzes überwand, spielte das Konzept des sprachgestaltenden
Aufsatzes eine wichtige, zum Teil bis in unsere Zeit deutlich
hineinreichende Rolle. Anstelle des ganzheitlich persönlichkeitsfördernden
Konzepts der Reformpädagogen richtete man die Aufmerksamkeit dabei auf die
sprachliche Gestaltung und den "richtigen Ausdruck“. "Innere Sprachbildung"
war angesagt und mündete schließlich bis heute "in ein vom Gegenstandsfeld
her begründetes Modell des Aufsatzunterrichts (…), das auf der Annahme
basiert, es gäbe für das Verhältnis von Inhalt und Form Gesetzmäßigkeiten,
aus denen bestimmte Anwendungsformen resultierten.“ (ebd.,
S.113) Weil der Mensch durch die Sprache in ein bestimmtes Verhältnis zur
Welt trete, so die Annahme, unterschied vier bzw. sechs dieser
Verhältnisse bzw. "Haltungen", denen bestimmte "Stilformen" entsprechen
sollten. Diese Auffassung liegt auch dem systematisierenden Ansatz von
Marthaler (1962) zugrunde, der
bei den sachlichen Darstellungsweisen den Bericht, die Beschreibung und
die Abhandlung, bei den persönlichen Darstellungsweisen die Erzählung,
die Schilderung und die Betrachtung voneinander abhob. Dabei ging es auch darum offenkundige Mängel des freien Aufsatzes zu
beseitigen. So erkannte man, dass man Kinder auch im Hinblick auf ihre
Entwicklung nicht sich selbst überlassen konnte, sondern ihnen alters-
und entwicklungsgerechte Angebote machen musste. So stellte man auf
allgemeinen Erfahrungen beruhende Texte mit Altersangaben zusammen und
versuchte altersgemäße Themen mit einem lebensweltlichen Bezügen in den
verschiedenen Schreibaufgaben zu berücksichtigen. Dabei wurden
entwicklungstheoretische Überlegungen zur Grundlage der bestimmten
Altersstufen zugeordneten Schreibaufgaben gemacht. So sollten "in den
unteren Klassen Beobachtungen aus dem Alltag festgehalten und einfache
Erlebnisse mitgeteilt und - als Phantasieaufsätze - auch
'Lebensmöglichkeiten' ausgedacht" werden. (Gansberg 1914, S.23, zit. n.
Fritzsche
1994, S.267), in der Mittel- und Oberstufe galt es über all das
hinauszusehen und die "von Generationen überlieferten Erfahrungen"
(Gansberg zit. n.
ebd.)
ins Blickfeld zu nehmen. Aber auch der mangelnde Bezug des freien Aufsatzes zu den zur
Lebensbewältigung in der Gesellschaft zu erwerbenden Qualifikationen und
Kompetenzen brachten das reformpädagogische fundierte Konzept des freien
Aufsatzes mehr und mehr in die Kritik. Nicht wenigen erschien es als
"Illusion von Schöngeistern" (Fritzsche
1994, S.267), die den Bezug zur Realität verloren hatten. Diese in
gewisser Hinsicht auf pragmatische Nützlichkeit hin ausgerichtete Kritik
am freien Aufsatz schlug sich auch in der Forderung nach einer
sprachlich-stilistischen Gestaltung nieder, die sich daran orientieren
sollte, was in Wissenschaft, öffentlichen Verlautbarungen und in der
Presse gesprochen bzw. geschrieben wurde. Die Kritik am Lebensbezug und
an seinem pädagogisch offenbar nicht vertretbaren Maß der
Selbststeuerung beim Schreiben rückten im Konzept des sprachgestaltenden
Aufsatzes die Zweckorientierung an außerschulischen Erfordernissen
wieder stärker in den Vordergrund, führte aber zugleich auch zu einer
schematischen Einübung bestimmter Stilformen, mit denen im Aufsatz das
jeweils besondere Verhältnis zur Wirklichkeit einer jeden Schreibaufgabe
zu bearbeiten war. Und so war es bei dieser Konzeption Aufgabe der
Schülerinnen und Schüler, "aufgrund der Themenstellung zu erkennen,
welche 'Stilform' nötig war, und dann den Aufsatz entsprechend der für
diese 'Stilform' gelernten Normen zu schreiben." (ebd.,
S.268) - Eine 180°-Kehrtwende gegenüber den Ansätzen der
Reformpädagogik.
Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mehrten sich indessen
Stimmen, die der traditionellen
Aufsatzlehre ein neues Konzept entgegenstellten. Fortan rückte die kommunikative Funktion
des Schreibens in den Vordergrund. Die mit der "kommunikativen
Wende" (Becker-Mrotzeck/Böttcher
2006/2011, S.22, Hervorh. d. Verf.) vollzogene Neuausrichtung
der Aufsatzdidaktik forderte statt der Innenschau ein an realen
Kommunikationssituationen und am Adressaten orientiertes Schreiben, dem auch
die sprachliche Gestaltung zu entsprechen hatte. Die
sozialen
Schreibfunktionen - neben dem
An-andere-Schreiben vor allem das
Für-andere-Schreiben (kommunikatives
Schreiben) - drängten damit die übrigen Schreibfunktionen in die zweite
Reihe ab.. Die Ausrichtung schulischer Schreibformen an diesen pragmatischen Prinzipien
basierte z. T. auch auf emanzipatorischen Vorstellungen, die auf die mündige Teilnahme
und Teilhabe am politisch-gesellschaftlichen Leben zielten. Statt von
Aufsätzen sprach man in der Folge vom "Verfassen von Texten" oder von
"Textproduktion", um sich auch begrifflich von der herkömmlichen
Aufsatzlehre abzuheben. Den höchsten Stellenwert gewann in den neuen Konzepten, je nach
Akzentuierung, das Kriterium der gesellschaftlichen bzw., im weniger
politischen Sinne, das Kriterium der kommunikativen Relevanz. Dabei
konnten die neuen Konzepte, so sehr sie sich wie im Falle des
emanzipatorischen Ansatzes der Förderung von Mündigkeit und Befähigung
zur gesellschaftlichen Teilhabe auch verschrieben, ohne hinreichende
Berücksichtigung personal-kreativer Aspekte des Schreibens ihre
hochgesteckten Ziele nur zum Teil erreichen. So lange z. B. die
affektiven Aspekte des Schreibens nur dann akzeptiert wurden, wenn sie
mit der bevorzugten appellativen Textfunktion beim Schreiben von
Stellungnahmen, Erörterungen, Aufrufen u. ä. m. in Einklang zu bringen
waren, lag auch den kommunikativen und/oder emanzipatorischen Ansätzen
ein Argumentationsmodell zugrunde, das sich über die Maßen
rationalisierten
Regeln
vernunftorientierter Argumentation orientierte, die das
jeweils schreibende Subjekt im Idealfall dazu verpflichtete, "emotionale
Hindernisse" zu "kontrollieren". So blieb auch die strenge Gesellschaftsorientierung der geforderten
Textproduktionen aus unterschiedlichen Gründen nicht lange unbestritten und musste sich den
Vorwurf eines
überzogenen Utilitarismus gefallen lassen. Gleichzeitig hielt man dem
emanzipatorisch-kommunikativen Ansatz entgegen, dass schulisches Schreiben,
auch wenn man die Schreibaufgaben an realen gesellschaftlichen Sachverhalten
und Problemen ausrichte, den angestrebten Emanzipationszielen schnell Grenzen
setzten. Wenn Schülerinnen und Schüler beim schulischen Schreiben einer
lernstrategischen Orientierung folgen, bei der die soziale
Abhängigkeitsorientierung (von der beurteilenden Lehrperson) dominiert oder eine große Rolle spielt, zeigt sich eben
auch, dass sich Emanzipation ohne Berücksichtigung der (schulischen)
Verhältnisse nur schwerlich mit Hilfe schreibdidaktischer Orientierungen
voranbringen lässt. Angesichts dieses unlösbaren Dilemmas, in dem sich die
emanzipatorisch-kommunikative Aufsatzdidaktik verfing, wurden Anfang der
1980er Jahre z. T. unter Rückgriff auf reformpädagogische Konzepte, die
schreibenden Schülerinnen und Schüler wieder stärker ins Zentrum
schreibdidaktischer Überlegungen gerückt. Diese "subjektive Wende“ ging
einher mit Begriffen und Konzepten, die aus einem entsprechenden
gesellschaftlichen Diskurs der achtziger Jahre bezogen wurden. Sie gaben,
bei aller schon mehrmals betonten Gleichzeitigkeit von
schreibdidaktischen Konzepten, zumindest für eine Weile den Takt in der nun
einsetzenden Diskussion vor:
Ganzheitlich und vor allem
handlungsorientiert sollte das Schreiben in der Schule fortan angelegt sein.
Mit Lehr-Lernkonzepten wie dem entdeckenden Lernen,
Freiarbeit, offenem Unterricht und Projektunterricht fanden daher Mikro- und
Makromethoden Eingang in den Unterricht, die dem
einzelnen schreibenden Subjekt im Rahmen von Differenzierungsprozessen einen
höheren Stellenwert beimaßen. Auf diese Weise kam das aus der
Reformpädagogik stammende freie Schreiben, vor allem in der Grundschule,
wieder zu neuen Ehren, für das subjektive Sichtweisen und der Ausdruck von
Gefühlen kennzeichnend sind (vgl.
Fix
2006/2008, S.114)
Müßig, zumindest aber redundant, noch einmal zu betonen:
Die dargestellten schreibdidaktischen Konzepte lösten sich indessen
keineswegs gegenseitig ab, sondern "bestehen in der Unterrichtspraxis bis
heute fort." (Fix
2006/2008, S.115). Im Zusammenhang mit der Formulierung von
Bildungsstandards, die mehr oder weniger exakt beschreiben, was Schülerinnen
und Schüler zu lernen haben, gibt es, worauf
Fix (ebd.) hinweist, eine
Tendenz zur Aufwertung traditioneller Schreibformen in der Schule, da deren
Merkmale normativ vorgegeben werden können und damit auch bei der
Leistungsevaluation leichter zu handhaben sind als Formen des
personal-kreativen Schreibens. Dabei ist interessant, dass die Verwendung
des noch von Fix (ebd., S. 14) aus guten Gründen vermiedenen Begriffs
"Aufsatzunterricht" in neueren Veröffentlichungen als Teil einer
allgemeinen "Rückbesinnung"
auf "die Leistungen des klassischen
Aufsatzunterrichts"
(ISB
(Hg.) (2010), Neues Schreiben, Bd.1, S.14) angesehen wird. Die vermeintliche Rückbesinnung auf den "guten, alten"
Aufsatzunterricht, das sei an dieser Stelle kritisch angemerkt, kann
allerdings nicht allein als eine schreibdidaktisch begründete
Gegenbewegung gegen andersgeartete "Auswüchse" verstanden werden. Denn
damit verabschiedete sich die Schreibdidaktik von der eingangs zumindest
eingeforderten Rückbindung ihrer Konzepte an gesellschaftliche
Entwicklungen im nationalen wie globalen Maßstab. Stattdessen tauchen
unter dem Mantel von Kompetenzorientierung wieder Formulierungen auf,
die in dieser Form seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
schon obsolet erschienen. ("Dass junge Menschen in der modernen
Leistungsgesellschaft auf schriftliche Examina vorbereitet werden
müssen",
ISB (Hg.) (2010), Neues Schreiben, Bd.1, S.14) So muss schließlich
sogar die Unterstellung herhalten, die Lehrkräfte wollten einfach mit
der herkömmlichen Aufsatzlehre weitermachen, um den politisch gewollten,
restaurativen Tendenzen in der Didaktik zur nötigen Akzeptanz zu
verhelfen.
Der
Imitiationsaufsatz zur Stützung feudaler Strukturen:
Textmusterkonformes Schreiben
Da war zunächst einmal - wenn man die antike rhetorische Tradition außer
Acht lässt - der so genannte Imitationsaufsatz, der die statischen und unverrückbaren
Ordnungsprinzipien der Feudalgesellschaft widerspiegelte. Den herrschenden Klassen
dieser Gesellschaft lag nichts ferner, als eine vom Individuum
ausgehende Hinterfragung gesellschaftlicher Verhältnisse zu fördern.
Das
Schreiben, das sie an den »Lateinschulen
des Mittelalters lehren ließen,
folgte klaren vorgegebenen Muster, die wie eine Formularvorlage
herangezogen wurden, so dass beim Schreiben nur an wenigen Stellen des
Textes, z. B. bei Namen, Orten oder Anlässen) Änderungen vorzunehmen
waren. (vgl. Fritzsche
1994, S.258f.) Schreiben, das in der Schule stattfand, war also
stets reproduzierendes Schreiben, bei dem es darauf ankam, bestimmte
Textgestaltungen, denen man den Rang von Vorbildern zuwies, nachzuahmen.
Dabei ordnete es sich den gleichen Rahmenbedingungen unter, die
auch für das ▪
Lesen im
Mittelalter und ▪
in der
frühen Neuzeit galten.
Hinter den
Vorstellungen über das Schreiben stand die didaktische Überzeugung, dass man erst nach einer
Phase der Nachahmung zu einem eigenen, persönlichen Stil beim Schreiben
finden könne.
Die Nachahmungshypothese, der die Bürde der
Charakterbildung zudem aufgeladen war, schlug sich in dem Konzept des so
genannten
gebundenen Aufsatzes nieder, der bei der Themenauswahl, der
inhaltlich-thematischen Gestaltung, seinem Aufbau, bei Gliederung und
sprachlich-stilistischer Gestaltung normative Vorgaben erfüllen musste.
Konkrete Schreibanlässe oder die Berücksichtigung eines mehr oder
weniger herausgearbeiteten Adressatenbezugs war bei diesen Aufsätzen
nicht vorgesehen, deren Schreibziele meistens nicht über die möglichst
analoge Umsetzung vorgegebener Textmuster hinausführten.
Die Fortführung
dieses an normativen Vorgaben und
Textmusterwissen
orientierten schulischen Schreibkonzepts bis heute (Merz-Grötsch
2001, Fix
2006/2008, S.90), zeigt, dass sich schreibdidaktische Konzepte,
historisch gesehen, nicht einfach überleben und voneinander abgelöst
werden, sondern weiter existieren, sich miteinander vermischen und so
wieder zu neuen Konzepten konstruiert werden. (vgl.
Fix 2006/2008,
S.112)
Reproduktions- und
Produktionsaufsatz bürgerlicher Prägung
Der
Reproduktionsaufsatz
spiegelte hingegen, allmählich beginnend mit der Neuzeit, die Ambitionen
des aufstrebenden Bürgertums wieder, das sich aus den
feudalgesellschaftlichen Fesseln befreien wollte. Das Bürgertum war
daher auch einem Aufsatzunterricht interessiert, der sich unter Betonung
des bürgerlichen Individuums kritischer Stellungnahme und
gesellschaftlichem Fortschritt gleichermaßen verpflichtet sah.
Der
Produktionsaufsatz
schließlich, der um 1900 herum allmählich Verbreitung findet, wird "als
bürgerliche Reaktion auf die sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts" (ebd.
S.259) verstanden, das sich mit seinem höherem Gestaltungswillen
verpflichteten Schreiben am Gymnasium von dem nur zur Wiedergabe von
Sachverhalten taugenden Schreiben an den Volksschulen abhob. (vgl.
sprachgestaltender Aufsatz)
Auch wenn die von diesen Epochen geleiteten Überlegungen auch nicht
vollends befriedigen können, liefern sie doch wesentliche Anhaltspunkte
für eine gesellschafts- und ideologiekritische Analyse des
Aufsatzunterrichts vom Mittelalter bis in die Gegenwart hinein.
Das Nebeneinander
der Aufsatzformen
Geht man die Geschichte des deutschen Aufsatzunterrichts als Ganzes an,
ergibt sich natürlich ein um ein Vielfaches differenzierteres Bild.
Sieht man nämlich genauer hin, dann lassen sich weder die dargestellten
Aufsatzformen streng voneinander scheiden, noch bestimmten linearen
Zeitabläufen im Sinne eines Vorher oder Nachher zuordnen. Im Grunde
bestehen die genannten Formen, sieht man einmal von der NS-Zeit in
Deutschland ab, nach ihrer Einführung nebeneinander und wirken sogar bis
in unsere Zeit hinein.
Und selbst das von
Fix (2006/2008,
S.112) vorgenommene, an vergleichbaren Äußerungen von (Fritzsche
1994, S. 259)
(s. o.) angelehnte (Phasen-)Modell der Schreibdidaktik (von
der "Aufsatzerziehung zur "Didaktik des Textschreibens" bzw.
"Schreibdidaktik") kann hier nur eine gewisse Orientierung
geben.
Andererseits: Wird darauf verzichtet, löst sich das Ganze, wie so
oft in solchen Fällen, u. U. in einer unüberschaubaren Komplexität auf.
Für Didaktiker naturgemäß noch schwerer zu ertragen wie für andere
Wissenschaftler.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
07.01.2024
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