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Geschichte des Aufsatzunterrichts und des Schulaufsatzes

Schreiben zur Vorbereitung des Denkens

Rhetorische Vorgeschichte von der Antike bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Schreibformen Schreibformen in der SchuleÜberblick Didaktische und methodische Aspekte schulischer Schreibformen  [Geschichte des Aufsatzunterrichts
Überblick Rhetorische Vorgeschichte von der Antike bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts Die "Verschulung" des Schreibens ab dem 18, Jahrhundert Das reformpädagogische Konzept des freien Aufsatzes (Beginn des 20. Jh.) Das Konzept des sprachgestaltenden Aufsatzes (Marthaler 1962) Die kommunikative Wende in den 1970er JahrenGanzheitlichkeit und Handlungsorientierung (subjektive Wende in den 1980er Jahren)Reflexives, expressives und kommunikatives Schreiben in der Schule (Fritzsche 1994) ▪ Kompetenzorientierte Konzepte des Schreibens ] Beurteilung schulischer Textproduktionen und Schreibprozesse Texte zusammenfassen ▪ Sachtexte analysieren (Textanalyse) Texte erörtern (Texterörterung) Texte interpretieren (Textinterpretation) Materialgestütztes Schreiben Offizielle Briefe schreibenErzählenBerichtenBeschreiben SchildernErörtern: Erörterndes Erschließen und Schreiben Einen Essay schreiben Kreativ schreiben Sonstige schulische Schreibformen  Operatoren im Fach Deutsch
 

▪ Themabereich Lesen
Lesen im Mittelalter

Lesen in der frühen Neuzeit (16./17. Jh.)
Lesen im 18. Jahrhundert

Schreiben in den Expertenkulturen des Mittelalters

Im Mittelalter waren Lesen und Schreiben vor allem eine Angelegenheit von klösterlicher "Expertenkulturen" (Bickenbach 2015, S.401), nachdem die weitgehend illiteraten germanischen Eroberer des römischen Reiches mit ihrer sogenannten »Völkerwanderung (375 bis 568) der spätantiken Schrift- und Lesekultur ein Ende setzten. Sie brachten weder eine eigene mit, noch übernahmen sie, was sich bei den Römern und in der griechischen Antike über viele Jahrhunderte hinweg entwickelt hatte.

Lesen und Schreiben war nicht mehr gefragt, und wer es noch pflegte, lebte hinter den Mauern mittelalterlicher Klöster, wo die Mönche bewahrten, was von der antiken Schriftkultur noch übrig geblieben war. 

Was im Mittelalter überhaupt gelesen und geschrieben wurde, war meistens in Latein verfasst. Daneben gab es ganz wenige althochdeutsche Schriftdenkmale. Es dauerte bis ins 16. Jahrhundert bis man in größerem Umfang in der eigenen Muttersprache zu lesen und zu schreiben begann.

Im Umgang mit der dominierenden lateinischen Schriftlichkeit kristallisierten sich unter denen, die des Lateinischen mächtig waren, drei verschiedene ▪ Lesemodi heraus, die in bestimmten Lesesituationen zum Einsatz kamen. Das ▪ monastische Lesen, das ▪ studierende Lesen und das ▪ scholastische Lesen. Zugleich blieb Lesen und Schreiben  weiterhin allem vor eine professionelle Angelegenheit von Experten.

Das Schreiben, wie es an den »Lateinschulen des Mittelalters gelehrt wurde, sollte den männlichen Schülern den Weg in einen geistlichen Beruf ebnen oder für ein Studium an der Universität vorbereiten. Schreiben war reproduzierendes Schreiben, also auf die Imitation und die Reproduktion vorhandener Texte bezogen.

Die Texte, die abgeschrieben wurden, wurden dabei wie eine Formularvorlage behandelt, so dass beim Schreiben allenfalls an wenigen Stellen des Textes, z. B. bei Namen, Orten oder Anlässen) Änderungen vorzunehmen waren. (vgl. Fritzsche 1994, S.258f.) Wenn überhaupt, dann stand hinter den Vorstellungen über das Schreiben die didaktische Überzeugung, dass man erst nach einer Phase der Nachahmung zu einem eigenen, persönlichen Stil beim Schreiben finden könne.

Schreiben als Vorbereitung des Denkens

Am ▪ Beginn des 18. Jahrhunderts sprengte das Lesen und Schreiben allmählich die sozialen und religiös-ideologischen Begrenzungen, die die Expertenkulturen in Klöstern und an Universitäten auszeichneten. Immer mehr, wenngleich in einem lang anhaltenden Prozess, der mit der mit der Zunahme des Bildungsangebots in den städtischen Schulen zu tun hatte, vergrößerte sich die ▪ Anzahl von Menschen, die lesen und schreiben konnten.

Einen tiefgreifenden Wandel brachte die Tatsache mit sich, dass ab dem 17. Jahrhundert auch die deutsche Sprache - bis dahin war Latein Ein und Alles - im rhetorischen Unterricht Fuß fassen konnte. Im deutschen Rhetorikunterricht wurde nämlich "wesentlich freier" mit den Textmustern umgegangen. Statt sie möglichst genau zu imitieren, wurden sie nun "mit eigenen Worten nacherzählt und umgewandelt". (ebd., S.261) Wenn auch zunächst kein echter Paradigmenwandel feststellbar war, weil das Schreiben auch weiterhin dem wirkungsvollen Reden zu dienen hatte, ging es aber jetzt nicht mehr "um das Erlernen einzelner Arten von Reden, sondern um den Erwerb stilistischer Fertigkeit allgemein." (ebd.)

Die Vorstellung, dass das Schreiben vor allem der Vorbreitung des Redens zu dienen hatte, blieb aber wohl weit bis weit ins 18. Jahrhundert hinein bestimmend und knüpfte dabei an die rhetorischen Tradition der Antike an.

Ludwig (1988) spricht im Zusammenhang mit der Geschichte des deutschen Aufsatzunterrichtes dabei von der rhetorischen Vorgeschichte des deutschen Aufsatzes, deren Grundzug die Instrumentalisierung des Schreibens als Vorbereitung auf das Sprechen gewesen sei.

Diese zeigt sich u. a. daran,

  • dass bestimmte Redeteile einzeln, auch mit Schreibübungen geübt wurden, um sie später zu einer wirkungsvollen Rede zusammenzusetzen.

  • dass man klaren Mustern folgte. Dies trug aber auch dazu bei, dass das Verfassen einer Rede als lehr- und lernbar erschien, zumal man beim Formulieren auf eine Vielzahl vorgefertigter Versatzstücke zurückgreifen konnte, die in entsprechenden Sammlungen zur Verfügung standen.

Aus einigen der schriftlichen Vorarbeiten für Reden, die lange Zeit zu unzähligen Anlässen in der Schule und auch außerhalb gehalten wurden, haben sich nach und nach selbständige Aufsatzarten im Unterricht entwickelt.

So entwickelte sich die Erzählung, verstanden als "eine Art Tathergangsschilderung vor Gericht" (ebd., S.260) daraus wie die Beschreibung, die Stellungnahme zu bestimmten Fragen bzw. Sachverhalten und die Erörterung allgemeiner Probleme.

Allerdings müssen für die Entstehung dieser Aufsatzarten auch andere Aspekte, wie z. B. poetische oder philosophische Textmuster und Traditionen berücksichtigt werden (vgl. ebd.)

Die aus der antiken rhetorischen Tradition abgeleiteten Aufsatzarten entwickelten sich aus verschiedenen rhetorischen Übungsformen, die z. B. auf einer Reihe von Tugenden des Erzählens beruhten.

Dazu zählten:

  • Kürze (brevitas), Deutlichkeit (perspicuitas), Glaubwürdigkeit (probalitas)

  • Disposition des Erzählten in einem klaren Textaufbau (Chrie und Thesis)

  • Anpassung an die Kommunikationssituation bei der erfundenen Rede

Die Reihenfolge der rhetorischen Übungen folgte dabei einer vom Schwierigkeitsgrad her abgeleiteten Progression:


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Im 18. Jahrhundert löste sich das Schreiben von seiner nur das Reden vorbereitenden Funktion. Es erhielt eine eigene Funktion zugesprochen, sollte fortan dem "wohlüberlegten Ausdruck" (ebd., S.261) nicht nur fremder, sondern auch der eigenen sachkundigen Gedanken zu einem bestimmten Thema dienen. So wurde der Aufsatz zu einem Medium des Denkens und der geistigen Entwicklung.

Während zahlreiche mündliche Übungen noch immer der rhetorischen Eloquenz dienten, wurden die schriftlichen Übungen nun "in den Dienst der Verstandeskräfte gestellt", mit denen man "Gedankenarbeit" betrieb (vgl.  Ludwig 1988, S.106, zit. n. Fritzsche (1994), S.262) Im Zusammenhang mit dem veränderten pädagogischen Blick, den die Aufklärung auf die Kindheit warf, "(bemaß) sich der Nutzen des Schreibens nicht mehr daran, welche Wirkung es beim Leser hat, sondern wie sehr es dem Schreiber auch beim Erkennen der Wirklichkeit hilft und seine geistige Entwicklung fördert." (Fritzsche 1994, S.262) Die Entdeckung des Schreibens als Lernmedium zog aber auch eine stärkere Verschulung des Schreibens nach sich. Statt außerschulischen Zwecken diente der allgemeinbildende Schreibunterricht vor allem dem Unterricht selbst. Schreibend sollten fortan unterrichtliche Gegenstände in nahezu allen Fächern erfasst werden. Man fasste fortan zusammen, erarbeitete Gliederungen und beantwortete vielfältige Fragen zum Text. Indem das Schreiben in der Schule mehr und mehr als Ausdruck von Ideen, Gedanken, Urteilen und Gefühlen verstanden wurde, konnte auch die Vorstellung reifen, dass ein Aufsatz "als die Äußerung des Innenlebens eines Schülers schlechthin" (ebd., S.263) aufgefasst werden könne. Über die Authentizität und Echtheit solcher sprachlicher Entäußerungen in Aufsatzform machte man sich weniger Gedanken. In jedem Falle glaubte man bei der Einführung des Abiturs 1788 in Preußen, dass man vor allem am Aufsatz des Prüflings messen könne, ob er die erforderliche "Reife des Charakters" (=Reifeprüfung) aufwies oder eben nicht. Und noch in Meyers Neuem Conversationslexikon aus dem Jahre 1857 ist zu lesen, dass der Schulaufsatz "als der Ausdruck der Gesamtbildung des Verfassers und das geeignetste Mittel" angesehen werden könne, um "diese Gesamtbildung sowohl zum Bewusstsein seines Besitzers, als zur Anschauung für Andere zu bringen. " (zit. n. ebd., S.263f.)
Überblickt man die Entwicklung des Schreibunterrichts seit dem 17. Jahrhundert, so hat, wie Fritzsche (1994, S.262) betont, eines immerhin reglerecht Schule gemacht: Im Zuge dieser Entwicklung haben sich die drei wesentlichen didaktischen Funktionen des Aufsatzunterrichts herausgebildet, die bis heute Gültigkeit beanspruchen können:

  • die "Aneignung von Mustern und Regeln zum Verfertigen von Schriftstücken unter praktischen Gesichtspunkten (ein Beispiel für den 'Aufsatz' als Lerngegenstand" (Textmusterwissen, Textsortenwissen)

  • die "Entfaltung und Ausbildung aller 'Seelenkräfte' (der Aufsatz als Lernmedium" (Identitätsbildung)

  • die "Dokumentation der 'Reife" (der Aufsatz als Lernkontrolle)

Interessanterweise trifft man in der didaktischen Diskussion dieser Zeit offenbar auch auf Linien, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen. Von der einen Seite lautestarke Kritik an Schematismus und Formalismus, von der anderen Seite Kritik an einem angesichts der geforderten inneren Bloßstellung zu Heuchelei verleitendem Schreibhandeln. Und auch die Diskussion um die Wahl der Themen trägt fast moderne Züge. Da wird zum einen gefordert, dass sich Aufsatzthemen nur auf das beziehen sollen, was im Unterricht behandelt worden ist, zum anderen wird die Öffnung der Themen hin zu den Lebenswelten der Schüler gefordert. Während jene meinten, dass man nur so dem Geschwafel über allgemeine Themen entgehen könne, meinten diese in der schreibenden Befreiung der Seelenkräfte einen besonderen Beitrag zur Charakterbildung leisten zu können. Diese plädierten im Sinne eines freien Aufsatzes für die schreibhandelnde Selbststeuerung, jene meinten, das Aufsatzschreiben auch in inhaltlicher Hinsicht möglichst gründlich vorbereiten zu müssen. (vgl. ebd., S.264) Was in dieser Auseinandersetzung vorgebracht wird, gilt mit gewissen Einschränkungen eben bis in die Gegenwart hinein, wenn z. B. Baurmann (2002/2008, S. 75) betont: "Wenn Fiktives, Problemerörterungen oder Anforderungen, die wenig mit der Erfahrungswelt von Kindern und Jugendlichen zu tun haben, beim Verfassen von Texten verlangt werden, dann muss die vorhandene Wissensbasis häufig ergänzt und verändert werden." 

Die Klagen über die mangelnden Kenntnisse von Schülern bei Themen, die nicht Gegenstand des Unterrichts waren, führten dazu, dass Themen, die aus dem Literaturunterricht hervorgingen, lange Zeit dominierten. Es ging darum, den Aufsatz als Lernmedium zu zu etablieren. Die Stoffe und Inhalte des so konzipierten deutschen Literaturaufsatzes sollten vor allem den Absolventen des Gymnasiums Zugänge zur Allgemeinbildung verschaffen. Zugleich aber  ließen sich mit ihnen, so nahm man an, bestimmte ideologisch fundierte Vorstellungen über den bürgerlichen Nationalstaat in den Köpfen der künftigen "Untertanen" besonders effektiv verankern. Der deutsche Literaturaufsatz, der von der Mitte des 19. Jahrhunderts an mit den Großen der deutschen Nationalliteratur "nationale Gesinnung" fördern und damit zur "Charakterbildung" der Untertanen im deutschen Kaiserreichs beitragen sollte, machte damit den Aufsatz zum Lernmedium des Literaturunterrichts, der aller verbrämter Stilisierungen zum Trotz (reine Denkschulung, Aneignung der Klassiker und/ Stilbildung) in besonderer Weise für ideologische Zielen instrumentalisiert wurde.

Von der »Reformpädagogik wurde in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgegriffen, was der Leipziger Germanist und Pädagoge »Rudolf Hildebrand (1824-1894) schon 1867 gegen die vorherrschende Aufsatzdidaktik einwandte. Seinem Verständnis nach folgte sie einem Menschenbild, genauer einem Bild des Kindes bzw. Jugendlichen, das beide als unmündig betrachtete und somit den Erziehungszielen der Erwachsenen unterwarf. So erschien es ihm auch zwangsläufig, dass der herkömmliche Aufsatzunterricht, der Schreiben ohne unterrichtliche Vorbereitung nicht vorsah, zu einer Art "Gedächtnisprobe" vorkommen sei. Denn, so sein Argument, die unterrichtliche Aneignung der jeweiligen Gegenstände bleibe so eine bloß äußerliche und verleite den Schüler "Dinge hinzustellen, die noch nicht Wurzel gefasst haben in seinem Ich“ (Hildebrand 1867, zit. n. Fritzsche 1994, S.265). Solange es nicht zuvor gelinge "den eigenen Inhalt der Schülerseele herauszulocken und daran die Form zu bilden“ (ebd.) gleiche das Vorgehen einem "Sprachunterricht dem man Papageien gibt". (ebd.)
Die Reformpädagogik hielt nichts von der bloßen Reproduktion literarischer Werke und stellte das Postulat, wonach alle (Seelen-)Kräfte eines Kindes zur Entfaltung gebracht werden müssten, auch an die erste Stelle ihrer Aufsatzdidaktik. Was sie von Kindern erwartete, waren keine kleinen Kunstwerke, sondern Texte, die authentische Erfahrungen und Empfindungen ausdrückten und mitteilten, was Otto Ludwig (1988, S.315) veranlasste, in diesem Zusammenhang von "Persönlichkeitspädagogik" zu sprechen. (vgl.  Fritzsche 1994, S.266) In jedem Fall galt "der ‘freie“ Aufsatz‘ als Ausdruck von Individualität“ (ebd.) Der freie Aufsatz jedenfalls sprengte die engen normativen Fesseln des so genannten gebundenen Aufsatzes, zu dem, wenn man dieser Systematik der Orientierung halber einmal folgt, mehr oder weniger alle auf Reproduktion ausgerichteten Aufsatzformen bis dahin gezählt werden können. Dabei waren es vor allem »reformpädagogische Argumente in der Tradition von »Comenius (1592-1670), »Rousseau (1712-1778), »Pestalozzi (1746-1827) u. a., die das Konzept des gebundenen Aufsatzes erschütterten. Dahinter standen Vorstellungen, die über den Wechsel der Perspektive hin zum schreibenden Kind einen Paradigmenwechsel in der Aufsatzlehre nach sich zogen. Fortan sollte der kindliche und jugendliche Schreiber nicht mehr in das Korsett vorgegebener Textmuster und Wahrnehmungsschemata eingepasst werden, sondern sich beim Schreiben seiner selbst gewahr werden und selbst ausdrücken. Wie ein Künstler solle das Kind seine ureigene schöpferische Kraft selbst erfahren und "ohne die Grenze thematischer und stilistischer Gebundenheit, sein eigenes Erleben und seine Fantasie frei entfalten." (Fix 2006/2008., S.113) Was die Reformpädagogen Anfang des 20. Jahrhunderts einforderten, mündete im Konzept des freien Aufsatzes, musste aber trotz seiner großen Popularität schon bald unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur wieder altbekannten Vorstellungen in neuem ideologischen Gewand weichen. Eine der "Persönlichkeitspädagogik" verpflichtete und  "Individualität" fördernde Aufsatzdidaktik hatte im Papageien-Sprachunterricht der Nazis, der der widerspruchlosen nachahmenden Unterwerfung unter gesetzte Vorgaben beim Schreiben offenkundig einen hohen Stellenwert bei der Herstellung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft und dem Aufbau des Führerstaates zuerkannten. Trotzdem oder auch gerade deshalb: am Konzept des freien Aufsatzes mussten sich alle aufsatzdidaktischen Konzepte von der Weimarer Republik, über den Nationalsozialismus bis hin zur Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren abarbeiten, um sich selbst dagegen positionieren zu können.

Neben dem Konzept des freien Aufsatzes, das die normativen Begrenzungen des gebundenen Aufsatzes überwand, spielte das Konzept des sprachgestaltenden Aufsatzes eine wichtige, zum Teil bis in unsere Zeit deutlich hineinreichende Rolle. Anstelle des ganzheitlich persönlichkeitsfördernden Konzepts der Reformpädagogen richtete man die Aufmerksamkeit dabei auf die sprachliche Gestaltung und den "richtigen Ausdruck“. "Innere Sprachbildung" war angesagt und mündete schließlich bis heute "in ein vom Gegenstandsfeld her begründetes Modell des Aufsatzunterrichts (…), das auf der Annahme basiert, es gäbe für das Verhältnis von Inhalt und Form Gesetzmäßigkeiten, aus denen bestimmte Anwendungsformen resultierten.“ (ebd., S.113) Weil der Mensch durch die Sprache in ein bestimmtes Verhältnis zur Welt trete, so die Annahme, unterschied vier bzw. sechs dieser Verhältnisse bzw. "Haltungen", denen bestimmte "Stilformen" entsprechen sollten. Diese Auffassung liegt auch dem systematisierenden Ansatz von Marthaler (1962) zugrunde, der bei den sachlichen Darstellungsweisen den Bericht, die Beschreibung und die Abhandlung, bei den persönlichen Darstellungsweisen die Erzählung, die Schilderung und die Betrachtung voneinander abhob.
Dabei ging es auch darum offenkundige Mängel des freien Aufsatzes zu beseitigen. So erkannte man, dass man Kinder auch im Hinblick auf ihre Entwicklung nicht sich selbst überlassen konnte, sondern ihnen alters- und entwicklungsgerechte Angebote machen musste. So stellte man auf allgemeinen Erfahrungen beruhende Texte mit Altersangaben zusammen und versuchte altersgemäße Themen mit einem lebensweltlichen Bezügen in den verschiedenen Schreibaufgaben zu berücksichtigen. Dabei wurden entwicklungstheoretische Überlegungen zur Grundlage der bestimmten Altersstufen zugeordneten Schreibaufgaben gemacht. So sollten "in den unteren Klassen Beobachtungen aus dem Alltag festgehalten und einfache Erlebnisse mitgeteilt und - als Phantasieaufsätze - auch 'Lebensmöglichkeiten' ausgedacht" werden. (Gansberg 1914, S.23, zit. n. Fritzsche 1994, S.267), in der Mittel- und Oberstufe galt es über all das hinauszusehen und die "von Generationen überlieferten Erfahrungen" (Gansberg zit. n. ebd.) ins Blickfeld zu nehmen.
Aber auch der mangelnde Bezug des freien Aufsatzes zu den zur Lebensbewältigung in der Gesellschaft zu erwerbenden Qualifikationen und Kompetenzen brachten das reformpädagogische fundierte Konzept des freien Aufsatzes mehr und mehr in die Kritik. Nicht wenigen erschien es als "Illusion von Schöngeistern" (Fritzsche 1994, S.267), die den Bezug zur Realität verloren hatten. Diese in gewisser Hinsicht auf pragmatische Nützlichkeit hin ausgerichtete Kritik am freien Aufsatz schlug sich auch in der Forderung nach einer sprachlich-stilistischen Gestaltung nieder, die sich daran orientieren sollte, was in Wissenschaft, öffentlichen Verlautbarungen und in der Presse gesprochen bzw. geschrieben wurde. Die Kritik am Lebensbezug und an seinem pädagogisch offenbar nicht vertretbaren Maß der Selbststeuerung beim Schreiben rückten im Konzept des sprachgestaltenden Aufsatzes die Zweckorientierung an außerschulischen Erfordernissen wieder stärker in den Vordergrund, führte aber zugleich auch zu einer schematischen Einübung bestimmter Stilformen, mit denen im Aufsatz das jeweils besondere Verhältnis zur Wirklichkeit einer jeden Schreibaufgabe zu bearbeiten war. Und so war es bei dieser Konzeption Aufgabe der Schülerinnen und Schüler, "aufgrund der Themenstellung zu erkennen, welche 'Stilform' nötig war, und dann den Aufsatz entsprechend der für diese 'Stilform' gelernten Normen zu schreiben." (ebd., S.268) - Eine 180°-Kehrtwende gegenüber den Ansätzen der Reformpädagogik.

Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mehrten sich indessen Stimmen, die der traditionellen Aufsatzlehre ein neues Konzept entgegenstellten. Fortan rückte die kommunikative Funktion des Schreibens in den Vordergrund. Die mit der  "kommunikativen Wende" (Becker-Mrotzeck/Böttcher 2006/2011, S.22, Hervorh. d. Verf.) vollzogene Neuausrichtung der Aufsatzdidaktik forderte statt der Innenschau ein an realen Kommunikationssituationen und am Adressaten orientiertes Schreiben, dem auch die sprachliche Gestaltung zu entsprechen hatte. Die sozialen Schreibfunktionen - neben dem An-andere-Schreiben vor allem das Für-andere-Schreiben (kommunikatives Schreiben) - drängten damit die übrigen Schreibfunktionen in die zweite Reihe ab..
Die Ausrichtung schulischer Schreibformen an diesen pragmatischen Prinzipien basierte z. T. auch auf emanzipatorischen Vorstellungen, die auf die mündige Teilnahme und Teilhabe am politisch-gesellschaftlichen Leben zielten. Statt von Aufsätzen sprach man in der Folge vom "Verfassen von Texten" oder von "Textproduktion", um sich auch begrifflich von der herkömmlichen Aufsatzlehre abzuheben.
Den höchsten Stellenwert gewann in den neuen Konzepten, je nach Akzentuierung, das Kriterium der gesellschaftlichen bzw., im weniger politischen Sinne, das Kriterium der kommunikativen Relevanz. Dabei konnten die neuen Konzepte, so sehr sie sich wie im Falle des emanzipatorischen Ansatzes der Förderung von Mündigkeit und Befähigung zur gesellschaftlichen Teilhabe auch verschrieben, ohne hinreichende Berücksichtigung personal-kreativer Aspekte des Schreibens ihre hochgesteckten Ziele nur zum Teil erreichen. So lange z. B. die affektiven Aspekte des Schreibens nur dann akzeptiert wurden, wenn sie mit der bevorzugten appellativen Textfunktion beim Schreiben von Stellungnahmen, Erörterungen, Aufrufen u. ä. m. in Einklang zu bringen waren, lag auch den kommunikativen und/oder emanzipatorischen Ansätzen ein Argumentationsmodell zugrunde, das sich über die Maßen rationalisierten Regeln vernunftorientierter Argumentation orientierte, die das jeweils schreibende Subjekt im Idealfall dazu verpflichtete, "emotionale Hindernisse" zu "kontrollieren".
So blieb auch die strenge Gesellschaftsorientierung der geforderten Textproduktionen aus unterschiedlichen Gründen nicht lange unbestritten und musste sich den Vorwurf eines überzogenen Utilitarismus gefallen lassen. Gleichzeitig hielt man dem emanzipatorisch-kommunikativen Ansatz entgegen, dass schulisches Schreiben, auch wenn man die Schreibaufgaben an realen gesellschaftlichen Sachverhalten und Problemen ausrichte, den angestrebten Emanzipationszielen schnell Grenzen setzten. Wenn Schülerinnen und Schüler beim schulischen Schreiben einer lernstrategischen Orientierung folgen, bei der die soziale Abhängigkeitsorientierung (von der beurteilenden Lehrperson) dominiert oder eine große Rolle spielt, zeigt sich eben auch, dass sich Emanzipation ohne Berücksichtigung der (schulischen) Verhältnisse nur schwerlich mit Hilfe schreibdidaktischer Orientierungen voranbringen lässt.
Angesichts dieses unlösbaren Dilemmas, in dem sich die emanzipatorisch-kommunikative Aufsatzdidaktik verfing, wurden Anfang der 1980er Jahre z. T. unter Rückgriff auf reformpädagogische Konzepte, die schreibenden Schülerinnen und Schüler wieder stärker ins Zentrum schreibdidaktischer Überlegungen gerückt. Diese "subjektive Wende“ ging einher mit Begriffen und Konzepten, die  aus einem entsprechenden gesellschaftlichen Diskurs der achtziger Jahre bezogen wurden. Sie gaben, bei aller schon mehrmals betonten Gleichzeitigkeit von schreibdidaktischen Konzepten, zumindest für eine Weile den Takt in der nun einsetzenden Diskussion vor: Ganzheitlich und vor allem handlungsorientiert sollte das Schreiben in der Schule fortan angelegt sein. Mit Lehr-Lernkonzepten wie dem entdeckenden Lernen, Freiarbeit, offenem Unterricht und Projektunterricht fanden daher Mikro- und Makromethoden Eingang in den Unterricht, die dem einzelnen schreibenden Subjekt im Rahmen von Differenzierungsprozessen einen höheren Stellenwert beimaßen. Auf diese Weise kam das aus der Reformpädagogik stammende freie Schreiben, vor allem in der Grundschule, wieder zu neuen Ehren, für das subjektive Sichtweisen und der Ausdruck von Gefühlen kennzeichnend sind (vgl. Fix 2006/2008, S.114)

Müßig, zumindest aber redundant, noch einmal zu betonen: Die dargestellten schreibdidaktischen Konzepte lösten sich indessen keineswegs gegenseitig ab, sondern "bestehen in der Unterrichtspraxis bis heute fort." (Fix 2006/2008, S.115). Im Zusammenhang mit der Formulierung von Bildungsstandards, die mehr oder weniger exakt beschreiben, was Schülerinnen und Schüler zu lernen haben, gibt es, worauf Fix (ebd.) hinweist, eine Tendenz zur Aufwertung traditioneller Schreibformen in der Schule, da deren Merkmale normativ vorgegeben werden können und damit auch bei der Leistungsevaluation leichter zu handhaben sind als Formen des personal-kreativen Schreibens. Dabei ist interessant, dass die Verwendung des noch von Fix (ebd., S. 14) aus guten Gründen vermiedenen Begriffs "Aufsatzunterricht" in neueren Veröffentlichungen als Teil einer allgemeinen "Rückbesinnung" auf "die Leistungen des klassischen Aufsatzunterrichts"  (ISB (Hg.) (2010), Neues Schreiben, Bd.1, S.14) angesehen wird.
Die vermeintliche Rückbesinnung auf den "guten, alten" Aufsatzunterricht, das sei an dieser Stelle kritisch angemerkt, kann  allerdings nicht allein als eine schreibdidaktisch begründete Gegenbewegung gegen andersgeartete "Auswüchse" verstanden werden. Denn damit verabschiedete sich die Schreibdidaktik von der eingangs zumindest eingeforderten Rückbindung ihrer Konzepte an gesellschaftliche Entwicklungen im nationalen wie globalen Maßstab. Stattdessen tauchen unter dem Mantel von Kompetenzorientierung wieder Formulierungen auf, die in dieser Form seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts schon obsolet erschienen. ("Dass junge Menschen in der modernen Leistungsgesellschaft auf schriftliche Examina vorbereitet werden müssen", ISB (Hg.) (2010), Neues Schreiben, Bd.1, S.14) So muss schließlich sogar die Unterstellung herhalten, die Lehrkräfte wollten einfach mit der herkömmlichen Aufsatzlehre weitermachen, um den politisch gewollten, restaurativen Tendenzen in der Didaktik zur nötigen Akzeptanz zu verhelfen.

 

Der Imitiationsaufsatz zur Stützung feudaler Strukturen: Textmusterkonformes Schreiben

Da war zunächst einmal - wenn man die antike rhetorische Tradition außer Acht lässt - der so genannte Imitationsaufsatz, der die statischen und unverrückbaren Ordnungsprinzipien der Feudalgesellschaft widerspiegelte. Den herrschenden Klassen dieser Gesellschaft lag nichts ferner, als eine vom Individuum ausgehende Hinterfragung gesellschaftlicher Verhältnisse zu fördern.

Das Schreiben, das sie an den »Lateinschulen des Mittelalters lehren ließen, folgte klaren vorgegebenen Muster, die wie eine Formularvorlage herangezogen wurden, so dass beim Schreiben nur an wenigen Stellen des Textes, z. B. bei Namen, Orten oder Anlässen) Änderungen vorzunehmen waren. (vgl. Fritzsche 1994, S.258f.)  Schreiben, das in der Schule stattfand, war also stets reproduzierendes Schreiben, bei dem es darauf ankam, bestimmte Textgestaltungen, denen man den Rang von Vorbildern zuwies, nachzuahmen. Dabei ordnete es sich den gleichen Rahmenbedingungen unter, die auch für das ▪ Lesen im Mittelalter und ▪ in der frühen Neuzeit galten.

Hinter den Vorstellungen über das Schreiben stand die didaktische Überzeugung, dass man erst nach einer Phase der Nachahmung zu einem eigenen, persönlichen Stil beim Schreiben finden könne.

Die Nachahmungshypothese, der die Bürde der Charakterbildung zudem aufgeladen war, schlug sich in dem Konzept des so genannten gebundenen Aufsatzes nieder, der bei der Themenauswahl, der inhaltlich-thematischen Gestaltung, seinem Aufbau, bei Gliederung und sprachlich-stilistischer Gestaltung normative Vorgaben erfüllen musste. Konkrete Schreibanlässe oder die Berücksichtigung eines mehr oder weniger herausgearbeiteten Adressatenbezugs war bei diesen Aufsätzen nicht vorgesehen, deren Schreibziele meistens nicht über die möglichst analoge Umsetzung vorgegebener Textmuster hinausführten.

Die Fortführung dieses an normativen Vorgaben und Textmusterwissen orientierten schulischen Schreibkonzepts bis heute (Merz-Grötsch 2001, Fix 2006/2008, S.90), zeigt, dass sich schreibdidaktische Konzepte, historisch gesehen, nicht einfach überleben und voneinander abgelöst werden, sondern weiter existieren, sich miteinander vermischen und so wieder zu neuen Konzepten konstruiert werden. (vgl. Fix 2006/2008, S.112)

Reproduktions- und Produktionsaufsatz bürgerlicher Prägung

Der Reproduktionsaufsatz spiegelte hingegen, allmählich beginnend mit der Neuzeit, die Ambitionen des aufstrebenden Bürgertums wieder, das sich aus den feudalgesellschaftlichen Fesseln befreien wollte. Das Bürgertum war daher auch einem Aufsatzunterricht interessiert, der sich unter Betonung des bürgerlichen Individuums kritischer Stellungnahme und gesellschaftlichem Fortschritt gleichermaßen verpflichtet sah.

Der Produktionsaufsatz schließlich, der um 1900 herum allmählich Verbreitung findet, wird "als bürgerliche Reaktion auf die sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts" (ebd. S.259) verstanden, das sich mit seinem höherem Gestaltungswillen verpflichteten Schreiben am Gymnasium von dem nur zur Wiedergabe von Sachverhalten taugenden Schreiben an den Volksschulen abhob. (vgl. sprachgestaltender Aufsatz)

Auch wenn die von diesen Epochen geleiteten Überlegungen auch nicht vollends befriedigen können, liefern sie doch wesentliche Anhaltspunkte für eine gesellschafts- und ideologiekritische Analyse des Aufsatzunterrichts vom Mittelalter bis in die Gegenwart hinein.

Das Nebeneinander der Aufsatzformen

Geht man die Geschichte des deutschen Aufsatzunterrichts als Ganzes an, ergibt sich natürlich ein um ein Vielfaches differenzierteres Bild.

Sieht man nämlich genauer hin, dann lassen sich weder die dargestellten Aufsatzformen streng voneinander scheiden, noch bestimmten linearen Zeitabläufen im Sinne eines Vorher oder Nachher zuordnen. Im Grunde bestehen die genannten Formen, sieht man einmal von der NS-Zeit in Deutschland ab, nach ihrer Einführung nebeneinander und wirken sogar bis in unsere Zeit hinein.

Und selbst das von Fix (2006/2008, S.112) vorgenommene, an vergleichbaren Äußerungen von (Fritzsche 1994, S. 259) (s. o.) angelehnte (Phasen-)Modell der Schreibdidaktik (von der "Aufsatzerziehung zur "Didaktik des Textschreibens" bzw. "Schreibdidaktik") kann hier nur eine gewisse Orientierung geben.

Andererseits: Wird darauf verzichtet, löst sich das Ganze, wie so oft in solchen Fällen, u. U. in einer unüberschaubaren Komplexität auf. Für Didaktiker naturgemäß noch schwerer zu ertragen wie für andere Wissenschaftler.

 

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 07.01.2024

       
 

 
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