Anfang der
siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mehrten sich indessen
Stimmen, die der traditionellen Aufsatzlehre ein neues Konzept
entgegenstellten.
Fortan rückte
die kommunikative Funktion des Schreibens in den Vordergrund.
Die mit der "kommunikativen
Wende" (Becker-Mrotzeck/Böttcher
2006/2011, S.22, Hervorh. d. Verf.) vollzogene
Neuausrichtung der Aufsatzdidaktik forderte statt der Innenschau
ein an realen Kommunikationssituationen und am Adressaten
orientiertes Schreiben, dem auch die sprachliche Gestaltung zu
entsprechen hatte.
Die ▪
sozialen Schreibfunktionen - neben dem ▪
An-andere-Schreiben vor allem das ▪
Für-andere-Schreiben (kommunikatives
Schreiben) - drängten damit die übrigen Schreibfunktionen in
die zweite Reihe ab.
Die Ausrichtung
schulischer Schreibformen an diesen pragmatischen Prinzipien
basierte z. T. auch auf emanzipatorischen Vorstellungen, die auf
die mündige Teilnahme und Teilhabe am
politisch-gesellschaftlichen Leben zielten. Statt von Aufsätzen
sprach man in der Folge vom "Verfassen
von Texten" oder von "Textproduktion",
um sich auch begrifflich von der herkömmlichen Aufsatzlehre
abzuheben.
Den höchsten
Stellenwert gewann in den neuen Konzepten, je nach
Akzentuierung, das Kriterium der gesellschaftlichen bzw., im
weniger politischen Sinne, das Kriterium der kommunikativen
Relevanz.
Dabei konnten
die neuen Konzepte, so sehr sie sich wie im Falle des
emanzipatorischen Ansatzes der
Förderung von Mündigkeit und Befähigung zur gesellschaftlichen
Teilhabe auch verschrieben,
ohne hinreichende Berücksichtigung personal-kreativer Aspekte
des Schreibens ihre hochgesteckten Ziele nur zum Teil
erreichen.
So lange z. B.
die affektiven Aspekte des Schreibens nur dann akzeptiert
wurden, wenn sie mit der bevorzugten appellativen Textfunktion
beim Schreiben von Stellungnahmen, Erörterungen, Aufrufen u. ä.
m. in Einklang zu bringen waren, lag auch den kommunikativen
und/oder emanzipatorischen Ansätzen ein Argumentationsmodell
zugrunde, das sich über die Maßen an den rationalisierten
▪
Regeln vernunftorientierter Argumentation orientierte, die
das jeweils schreibende Subjekt im Idealfall dazu verpflichtete,
▪ "emotionale
Hindernisse" zu "kontrollieren.
Daher blieb
auch die strenge Gesellschaftsorientierung der geforderten
Textproduktionen aus unterschiedlichen Gründen nicht lange
unbestritten und musste sich den
Vorwurf eines
überzogenen Utilitarismus gefallen lassen.
Gleichzeitig
hielt man dem emanzipatorisch-kommunikativen Ansatz entgegen,
dass schulisches Schreiben, auch wenn man die Schreibaufgaben an
realen gesellschaftlichen Sachverhalten und Problemen ausrichte,
den angestrebten Emanzipationszielen schnell Grenzen setzten.
Wenn
Schülerinnen und Schüler beim schulischen Schreiben einer
▪ lernstrategischen Orientierung folgen, bei der die soziale
Abhängigkeitsorientierung (von der beurteilenden Lehrperson)
dominiert oder eine große Rolle spielt, zeigt sich eben auch,
dass sich Emanzipation ohne Berücksichtigung der (schulischen)
Verhältnisse nur schwerlich mit Hilfe schreibdidaktischer
Orientierungen voranbringen lässt.
Angesichts
dieses unlösbaren Dilemmas, in dem sich die
emanzipatorisch-kommunikative Aufsatzdidaktik verfing, wurden
Anfang der 1980er Jahre z. T. unter Rückgriff auf
reformpädagogische Konzepte, die schreibenden Schülerinnen und
Schüler wieder stärker ins Zentrum schreibdidaktischer
Überlegungen gerückt. Diese "subjektive
Wende“ ging einher mit Begriffen und Konzepten, die
aus einem entsprechenden gesellschaftlichen Diskurs der
achtziger Jahre bezogen wurden. Sie gaben, bei aller schon
mehrmals betonten Gleichzeitigkeit von schreibdidaktischen
Konzepten, zumindest für eine Weile den Takt in der nun
einsetzenden Diskussion vor:
Ganzheitlich und vor allem handlungsorientiert sollte
das Schreiben in der Schule fortan angelegt sein. Mit
Lehr-Lernkonzepten wie dem entdeckenden Lernen, Freiarbeit,
offenem Unterricht und Projektunterricht fanden daher Mikro- und
Makromethoden Eingang in den Unterricht, die dem einzelnen
schreibenden Subjekt im Rahmen von Differenzierungsprozessen
einen höheren Stellenwert beimaßen. Auf diese Weise kam das aus
der Reformpädagogik stammende freie Schreiben, vor allem in der
Grundschule, wieder zu neuen Ehren, für das subjektive
Sichtweisen und der Ausdruck von Gefühlen kennzeichnend sind
(vgl.
Fix 2006/2008, S.114)
Müßig,
zumindest aber redundant, noch einmal zu betonen: Die
dargestellten schreibdidaktischen Konzepte lösten sich indessen
keineswegs gegenseitig ab, sondern "bestehen in der
Unterrichtspraxis bis heute fort." (Fix
2006/2008, S.115). Im Zusammenhang mit der Formulierung von
Bildungsstandards, die mehr oder weniger exakt
beschreiben, was Schülerinnen und Schüler zu lernen haben, gibt
es, worauf
Fix
(ebd.) hinweist, eine
Tendenz zur Aufwertung traditioneller Schreibformen in
der Schule, da deren Merkmale normativ vorgegeben werden können
und damit auch bei der Leistungsevaluation leichter zu handhaben
sind als Formen des personal-kreativen Schreibens. Dabei ist
interessant, dass die Verwendung des noch von
Fix
(ebd., S. 14) aus guten Gründen vermiedenen Begriffs
"Aufsatzunterricht" in neueren Veröffentlichungen als Teil einer
allgemeinen "Rückbesinnung"
auf "die Leistungen des klassischen Aufsatzunterrichts"
(ISB (Hg.) (2010), Neues Schreiben, Bd.1, S.14) angesehen
wird.
Die vermeintliche Rückbesinnung auf den "guten, alten"
Aufsatzunterricht, das sei an dieser Stelle kritisch angemerkt,
kann allerdings nicht allein als eine schreibdidaktisch
begründete Gegenbewegung gegen andersgeartete "Auswüchse"
verstanden werden. Denn damit verabschiedete sich die
Schreibdidaktik von der eingangs zumindest eingeforderten
Rückbindung ihrer Konzepte an gesellschaftliche Entwicklungen im
nationalen wie globalen Maßstab. Stattdessen tauchen unter dem
Mantel von Kompetenzorientierung wieder Formulierungen auf, die
in dieser Form seit den siebziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts schon obsolet erschienen. ("Dass junge Menschen in
der modernen Leistungsgesellschaft auf schriftliche Examina
vorbereitet werden müssen",
ISB (Hg.) (2010), Neues Schreiben, Bd.1, S.14) So muss
schließlich sogar die Unterstellung herhalten, die Lehrkräfte
wollten einfach mit der herkömmlichen Aufsatzlehre weitermachen,
um den politisch gewollten, restaurativen Tendenzen in der
Didaktik zur nötigen Akzeptanz zu verhelfen.
Der
Reproduktionsaufsatz
spiegelte hingegen, allmählich beginnend mit der Neuzeit, die
Ambitionen des aufstrebenden Bürgertums wieder, das sich aus den
feudalgesellschaftlichen Fesseln befreien wollte. Das Bürgertum
war daher auch einem Aufsatzunterricht interessiert, der sich
unter Betonung des bürgerlichen Individuums kritischer
Stellungnahme und gesellschaftlichem Fortschritt gleichermaßen
verpflichtet sah.
Der
Produktionsaufsatz
schließlich, der um 1900 herum allmählich Verbreitung findet,
wird "als bürgerliche Reaktion auf die sozialen Bewegungen des
19. Jahrhunderts" (ebd.
S.259) verstanden, das sich mit seinem höherem Gestaltungswillen
verpflichteten Schreiben am Gymnasium von dem nur zur Wiedergabe
von Sachverhalten taugenden Schreiben an den Volksschulen abhob.
(vgl.
sprachgestaltender Aufsatz)
Auch wenn die
von diesen Epochen geleiteten Überlegungen auch nicht vollends
befriedigen können, liefern sie doch wesentliche Anhaltspunkte
für eine
gesellschafts- und ideologiekritische Analyse des
Aufsatzunterrichts vom Mittelalter bis in die Gegenwart
hinein.
Geht man die
Geschichte des deutschen Aufsatzunterrichts als Ganzes an,
ergibt sich natürlich ein um ein Vielfaches differenzierteres
Bild.
Sieht man
nämlich genauer hin, dann lassen sich weder die dargestellten
Aufsatzformen streng voneinander scheiden, noch bestimmten
linearen Zeitabläufen im Sinne eines Vorher oder Nachher
zuordnen. Im Grunde bestehen die genannten Formen, sieht man
einmal von der NS-Zeit in Deutschland ab, nach ihrer Einführung
nebeneinander und wirken sogar bis in unsere Zeit hinein.
Und selbst das
von
Fix
(2006/2008, S.112) vorgenommene, an vergleichbaren
Äußerungen von (Fritzsche
1994, S. 259)
(s. o.) angelehnte (Phasen-)Modell der Schreibdidaktik (von
der "Aufsatzerziehung zur "Didaktik des Textschreibens" bzw.
"Schreibdidaktik") kann hier nur eine gewisse
Orientierung geben.
Andererseits:
Wird darauf verzichtet, löst sich das Ganze, wie so oft in
solchen Fällen, u. U. in einer unüberschaubaren Komplexität auf.
Für Didaktiker naturgemäß noch schwerer zu ertragen wie für
andere Wissenschaftler.