Zeitlichkeit im multidimensionalen
Zeit-Raum des Dramas
Dramatische Texte gestalten einen besonderen
multidimensionalen Zeit-Raum, in dem die Zeitlichkeit als
dramatisches Grundprinzip anzusehen ist. Das Verstreichen der
Zeit während der Präsentation eines dramatischen Textes auf der
Bühne kann auf verschiedenen Zeitebenen analysiert werden.
Die Anzahl der zu berücksichtigen Zeitebenen und die
Bedeutung, die ihnen für die Dramenanalyse beigemessen
wird, hängt dabei von dem jeweils gewählten Ansatz ab.
Dabei
stellt sich die traditionelle Werkanalyseden dramatischen
Text mit seinen sukzessiven und simultanen Zeitabläufen, die
bei der Rezeption unaufhaltsam vergehen und vorrücken, als
ein "(heuristisch imaginiertes) Textganzes" (ebd.,
S.130) vor, in dessen präsentischer "Textgegegenwart" (so
wie der Text einem bei der Lektüre eben vorliegt) man nach
Belieben vor- und zurückblättern kann. Die für das Drama als
solches grundlegende "sukzessive Zeit-Räumlichkeit" (ebd.),
bleibt bei dieser Arbeit am Konstrukt des Textganzen dabei
meistens auf der Strecke.
-
Im
Gegensatz dazu geht die
dramaturgische Analyse von der ▪
Plurimedialität des dramatischen
Textes aus, betont damit seinen Partiturcharakter und
betrachtet das "literarische Textsubstrat als ein zu
spielendes: als Anweisung für Schauspieler, Regisseure,
Bühnenbildner, und immer dabei auch – selbst (und gerade!)
im Monolog – als Anrede des Publikums." (ebd.,
S.123f.) Für sie steht der Unmittelbarkeitscharakter
des dramatischen Textes im Vordergrund, der im Akt des
Zuschauens die Besonderheiten einer "theatral-dramatischen
Rezeptionserfahrung" (ebd.,
S.130) begründet, deren grundlegendes Prinzip die temporal
Sukzession ist.
In der
Literaturdidaktik spielen Ansätze, die sich an der
dramaturgischen Analyse orientieren, wenngleich nicht
unbedingt die dominierende, so doch eine immer größere
Bedeutung. Dabei geht es je nach Typologie um
-
theater-
und produktionsorientierte Ansätze
(▪
Bogdal/Kammler)
-
spiel- und produktionsorientierte Konzepte
(▪
Lösener)
-
theater- und spielpädagogische Konzepte,
Konzepte des produktiven Umgangs mit dem dramatischen
Text und der simulierten Inszenierung von Dramen
und/oder Teilen von Dramen (szenische Interpretation)
und Konzepte einer aufführungsbezogenen Lektürepraxis,
die unter Berücksichtigung der besonderen schulischen
oder unterrichtlichen Rezeptionsbedingungen
Inszenierungsentwürfe und Gestaltungsaufgaben anstreben
(▪
Abraham/Kepser)
Relevante Zeitebenen des Dramas für die dramaturgische Analyse
Boehnisch (2012, S.127f.) differenziert "eine Schichtung"
von vier Zeitebenen, die mit ihren wechselseitigen Beziehungen
den "charakteristischen medialen »Zeitraum«" gestalten, der die
Zeiterfahrung des Zuschauers eines Dramas prägt.
Bei diesen Zeitebenen, deren Zusammenwirken die
dramaturgische Analyse, die "das Drama als sich in der
dynamischen Handlung zwischen einem Theaterereignis und dessen
Zuschauern konstituierend [betrachtet]" (ebd.,
S.123) analysiert, geht es um "
-
den
unmittelbaren Augenblick der dramatisch-fiktionalen
Gegenwart, der konventionell meist in der Exposition [...]
konkretisiert wird [...];
-
den
linear-chronologischen zeitlichen Verlauf der dargestellten
Handlung, wobei jener Moment, an dem die sie szenisch
präsentierte Handlung einsetzt, als point of attack
bezeichnet wird;
-
die plot-Zeit,
welche die zuvor genannten Ebenen kurzschließt; entsprechend
der jeweiligen szenischen Komposition kann die plot-Zeit
auch vom streng linearen Ablauf der fiktionalen Handlung
abweichen, so etwa durch Rückblenden und Erinnerungen, oder
aber einen Botenbericht entsprechend der Konvention der
griechischen Tragödie [...]; oder jene zeitlichen
Endlosschleifen Beckettscher Prägung, welche den
chronologischen Fortgang einer fiktionalen Handlung zum
Erliegen bringen;
-
die
theatrale Zeit der Aufführung, vom Publikum erlebt sowohl
als Dauer [...] wie auch als unmittelbar erlebte Gegenwart,
das hic et nunc des theatralen Spiels.
Zeitstrukturen im dramatischen Text (Pfister 1977)
Das Verhältnis von fiktiv gespielter Zeit und der realen
Spieldauer des Dramas auf der Bühne stellt eine der wichtigen
Zeitstrukturen in einem ▪ dramatischen Text
dar.
Das Verhältnis dieser beiden Zeitgrößen eines Dramas schlägt
sich in geschlossenen und offenen Zeitstrukturen nieder.
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Die Zeitdimensionen der fiktiven gespielten Zeit
Im Bereich der fiktiv gespielten Zeit lassen sich drei
Zeitdimensionen, Zeitstrukturen oder Zeitebenen unterscheiden und zueinander in Beziehung
setzen. Sie regeln nicht nur die dramatische Ökonomie und sorgen
damit dafür, dass die Diskrepanz zwischen fiktiv gespielter Zeit
und der zeitlich begrenzten Spieldauer nicht zu groß wird.
Wir sprechen hier daher von relationalen Zeitdimensionen.
Ihre jeweiliges Größenverhältnis, ausgedrückt in relationalen
Kategorien von Größer, Kleiner oder gleich bestimmen u. a.,
-
ob es sich um
eine offene oder geschlossene Zeitstruktur handelt
-
welche
Möglichkeiten die dramatische Zeitgestaltung verwenden
kann, um "das normalerweise gegebene Defizit der realen
Spielzeit gegenüber der fiktiven Zeitdauer der Geschichte"
zu überbrücken (Pfister
1977, S.370) oder anders ausgedrückt: mit welchen Verfahren
der Ablauf des Geschehens so gerafft werden kann, dass es in
einer angemessenen Spieldauer auf die Bühne gebracht werden
kann.
Pfister
(1977 S.369-374) spricht im Zusammenhang mit der fiktiv
gespielten Zeit dabei von Mengenverhältnissen (S.370) der Größen
primäre, sekundäre und tertiäre Zeit. Hier werden sie als
relationale Zeitdimensionen verstanden, weil ihr jeweiliges
Größenverhältnis zueinander bestimmte, auch typische
Zeitstrukturen erzeugt.
-
Die
primäre
Zeit wird hier verstanden als der Zeitrahmen, den der
eigentliche Plot der szenisch präsentierten Handlung des
Dramas ausmacht.
-
Die
tertiäre
Zeit mit verbal präsentierter Vorgeschichte und verbal vorausgreifendem, zukunftsgewissen Ausblick auf ein datier-
bzw. terminierbares Geschehen nach dem Textende bzw. dem
Ablauf der primären und sekundären Zeit wird hier auch mit
dem Begriff story bezeichnet.
-
Wenn es um
die gesamten zeitlichen Abläufe geht, die in der sukzessiven
Chronologie des Geschehens eine Rolle spielen, aber nicht
szenisch zur Darstellung kommen oder kommen können, dann
wird dies durch die Zeitdimension der
sekundären Zeit
verdeutlicht, die auch Zeiträume umfasst, die ausgespart
werden, zeitlich simultan, aber nicht auf der Bühne
inszeniert verlaufen (z. B.
Mauerschau
oder Botenbericht, eingespielte Videos u. ä.) (vgl. ▪
Sukzession
und Simultaneität der Zeitabläufe)
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Die obige Darstellung geht dabei davon aus, dass sich die
Größen tatsächlich unterscheiden. Dies muss aber keineswegs
immer der Fall sein. Denn ein Drama kann schließlich auch ohne
jede Vorgeschichte, ohne Aussparungen und ohne Ausblicke in die
Zukunft auskommen und damit das Geschehen "in ununterbrochener
raum-zeitlicher Kontinuität" (Pfister
1977, S.370) und damit in einer völlig geschlossenen
Zeitstruktur präsentieren. In diesem Fall decken sich alle
genannten relationalen Zeitdimensionen.
▪
Story,
plot und analytische Struktur in
Lessings "Nathan der Weise"
Zeitraffung im dramatischen Text
Damit die Diskrepanz zwischen fiktiv gespielter Zeit und
tatsächlicher Spieldauer nicht zu groß wird, kann der
dramatische Text zwei verschiedene Formen der Raffung der
fiktiven Spielzeit verwenden. (vgl.
Pfister
1977, S.370-372)
Außerszenische
Raffung |
Innerszenische
Raffung |
Gegenstände von Aussparungen
-
bestimmte Zeitabschnitte der ansonsten szenisch
präsentierte Geschichte
-
bestimmte Aspekte der ansonsten verbal
präsentierten Vorgeschichte oder bei
zukunftsgewissen Ausblicken am Textende
-
zeitlich parallel laufende, aber verdeckte
Handlungen
Statt
das Ausgesparte szenisch zu präsentieren, werden die
Gegenstände oft
|
einzelne Vorgänge der Geschichte werden
gegenüber der tatsächlichen Spielzeit zeitlich
verkürzt präsentiert
-
muss explizit signalisiert bzw. zeitlich
markiert werden, da ein "Schnelldurchlauf" wie
im Film auf der Bühne nicht nicht möglich
-
Beispiele:
Das von der objektiven Chronometerzeit
abweichende Schlagen einer Glocke kann einen
gerafften innerszenischen Zeitablauf und damit
die "verfliegende Zeit" signalisieren.
|
Zeitdehnung im
dramatischen Text
Die Gestaltung einer subjektiv als gedehnt erscheinenden Zeit
ist, wie
Pfister
(1977,
S.372) feststellt, in dramatischen weniger wichtig. Ein
derartiger Eindruck kann sich zwar durch lange Pausen zwischen
den Repliken der Figuren oder durch eine Aneinanderreihung
stereotyper und nur beiläufiger Handlungen beim Zuschauer
einstellen, tatsächlich gedehnt wird aber eigentlich erst, "wenn
die fiktive Zeitdauer deutlich signalisiert wird und die reale
Spielzeit deutlich überschreitet." (ebd.,
S.373)
Selbst Monologe und Träume dehnen die Zeit ja nicht wirklich,
aber als innerspychische Abläufe lassen sie sich ohnehin kaum
zeitlich fixieren. Aus diesem Grunde plädiert Pfister bei
Reflexionsmonologen und Träumen eher von einer "Zeitaufhebung"
zu sprechen. (ebd.)
Die Funktion widersprüchlicher Zeitangaben im dramatischen
Text
Es gibt aber auch dramatische Texte, die ein Spiel mit
widersprüchlichen Zeitangaben treiben, um, selbst wenn dem
Zuschauer die widersprüchlichen Angaben gar nicht unbedingt
bewusst werden, bestimmte Gefühle beim Miterleben der Zeit
vermitteln sollen. Widersprüchliche und vom Zuschauer nicht
auflösbare Zeitverwirrspiele können bewirken, dass beim
Zuschauer/Leser der Eindruck entsteht, alles stürzt, quasi
ungebremst, auf jemanden oder etwas ein, oder es ist alles in
einem übergroßen Maße psychologisch so verwickelt, dass selbst
zeitliche Orientierungspunkte erodieren.
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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