Dramen folgen verschiedenen, historisch
bedingten Zeitkonzeptionen
Die ▪ Zeitgestaltung in dramatischen
Texten folgt als Ganzes mehr oder weniger eindeutig
bestimmten Vorstellungen über die Zeit, den Zeitenlauf und die
Erfahrung von Zeit durch den Menschen. Diese Vorstellungen
stehen oftmals in keinem absolut gesehenen Gegensatz zueinander,
sondern können sich auf vielfältige Weise durchdringen, Elemente
kombinieren und so eine Vielzahl möglicher Zeitkonzeptionen
generieren.
Zeitkonzeptionen im Drama sind auch immer Kind ihrer Zeit, d.
h. in ihnen zeigen sich stets allgemeine historische,
insbesondere sozialgeschichtliche Faktoren, und vor allem die
historisch bedingten Weltbilder, die die zeitgenössischen
Wahrnehmungen und Auffassungen von Zeit prägen.
Auf
der ▪
mittelalterlichen Simultanbühne z. B., auf der geistliche
Spiele (»Mysterienspiele)
(»Osterspiele,
»Passionsspiele,
Heiligen-,
Mirakel- und Legendenspiele sowie Moralitäten als
dramatisierte
Allegorien) zur anfangs nur wenige Stunden, später einen Tag
und danach sogar sieben (Passionsspiel von Bozen 1514) oder im
Extremfall sogar 25 Tage (Mysterienzyklus von Valenciennes 1547)
dauernden Aufführung gelangten (vgl.
Mohr/Stenzel 2012, S.209, 211) Dem Ziel der geistlichen
Spiele zur Erbauung (aedificatio) der Zuschauer "durch
Verkündigung und Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens"
beizutragen und sie durch die Rezeption des mimetischen Spiels
zur Identifikation (compassio) zu bewegen (vgl.
ebd., S.213), entsprach auch eine
"theologisch-heilsgeschichtliche Zeitkonzeption, in der das
Nacheinander von Gegenwart und Zukunft" (Pfister
1977, S.375) dem eschatologischen Daseinsbezug irdischen
Daseins untergeordnet war. Die Zeiterfahrung, welche die
geistlichen Spiele als "lebendige Andachtsbilder" und
"Frömmigkeitsübung" ihren Zuschauern ermöglichten, war also
immer "der Blick auf die Ewigkeit". (Brauneck
2012, S.125f. )
Kategorien zur Analyse und Beschreibung von Zeitkonzeptionen
Zur Analyse der Zeitkonzeption von Dramen können drei
Merkmaloppositionen herangezogen werden. die aber nicht
den Anspruch erheben, allen historisch vorkommenden und
möglichen Zeitkonzeptionen gerecht werden zu können. (vgl.
Pfister
1977, S.374-378).
Merkmaloppositionen von Zeitkonzeptionen im Drama |
objektiv vs.
subjektiv |
progressiv vs.
statisch |
linear vs. zyklisch |
objektiv
subjektiv
-
an subjektiver Zeiterfahrung orientiert
-
chronologisch nur gering konkretisierte
Szenenfolge (offene Zeitstrukturen)
-
den Figuren entweder selbst bewusst oder erst in
der Reflexion des Zuschauers wirksam
|
progressiv
-
situationsveränderndes Handeln, das ein
chronologisches Fortschreiten der Handlung nach
sich zieht (vor-modernes Drama)
-
zwischenszenische Aussparung handlungsarmer
Zustände
-
Situation am Ende des Dramas unterscheidet sich
wesentlich von der zu Beginn
statisch
-
Zeit als reine Dauer eines anhaltenden
statischen Zustandes, der sich nicht verändert
-
duratives (lange anhaltendes, und iteratives
(sich immer wieder wiederholendes) Geschehen
-
grundsätzliche Situation am Ende des Dramas
unterscheidet sich nicht wesentlich von der zu
Beginn
-
aber: Änderung der Einsicht des Rezipienten
hinsichtlich der dargestellten Situation
|
oftmals sich gegenseitig überlagernd, dabei
Ausbildung von Dominanzen
linear
- zustandsveränderndes Handeln folgt in einem
fortschreitenden zeitlichen Vor- und
Nacheinander
zyklisch
- anhaltende und immer wieder erscheinende
Wiederkehr von Gleichem oder Ähnlichen
- basiert meistens auf natürlichen
Lebenszyklen wie Tages-, Monats- und
Jahreszeitenzyklen oder der Generationenfolge
- oft im modernen Drama zu finden
|
Ungeachtet der Vielzahl der
möglichen Merkmalskombinationen und historischen Ausprägungen
von Zeitkonzeptionen ist eine Zeitkonzeption, die objektiv,
progressiv und linear ist, ohne dass dies immer markiert wird,
eher die Normalform, da sie mit den von den Menschen gewöhnlich
erworbenen ▪
Wahrnehmungs- und kognitiven Schemata im Zusammenhang
mit der Zeit korrelieren.
Subjektive, statische und zyklische Zeitkonzeptionen können
daher eher als Abweichung von diesem Normalfall angesehen werden
(vgl. Pfister
1977, S.378).
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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