Tempo auf zwei Ebenen
Wer von einem temporeichen Theaterstück spricht oder sprechen
hört, muss wissen, was damit gemeint ist. Vielleicht zielt die
Aussage auf die Art und Weise der plurimedialen Inszenierung des
Stückes, meint damit tendenziell eher abwechslungsreich, nicht
langatmig oder sogar mitreißend. Doch diese Wahrnehmungsqualität
ist jedenfalls so nicht gemeint, wenn man vom Tempo als
Kriterium der Analyse der ▪
Zeitgestaltung in dramatischen Texten spricht.
Hier geht es, wenn man die multimedialen
Inszenierungspraktiken außen vor lässt, darum, mit welchen
Mitteln der ▪ dramatische Text als
Textsubstrat im ▪ Haupt- und Nebentext
unterschiedliche Geschwindigkeiten bei Bewegungsabläufen (Mimik,
Gestik, Bewegungen und Choreographie von Figurengruppierungen)
oder bei der Abfolge der dargestellten Ereignisse (ausgedrückt
in der Frequenz der Replikenwechsel und/oder der stattfindenden
Zustandsveränderungen) markieren und damit das Tempo des Dramas
gestalten kann.
Dabei muss man sich aber stets auch vergegenwärtigen, dass
der Eindruck und die Erfahrung von Tempo stets auch eine
wahrnehmungspsychologische Komponente auf Seiten des Rezipienten
hat, der seine eigenen Maßstäbe besitzt. So bleibt die
Geschwindigkeitserfahrung immer an das jeweilige Subjekt
gebunden.
Auf der Ebene des dramatischen Textsubstrats heißt dies auch,
das das Tempo niemals eine mathematisches Verhältnis darstellen
kann, das sich in irgendeiner Art und Weise quantifizieren
ließe. Stattdessen geht es immer um den Vergleich von bestimmter
"Größen" miteinander. (vgl.
Pfister
1977, S.379f.)
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So kann man
auf der das relationale Tempo im Bereich der
Oberflächenstruktur des dramatischen Textes dadurch zu
bestimmen versuchen, dass man in einem bestimmten
Textabschnitt untersucht, die Geschwindigkeit der
dargestellten Bewegungsabläufe, die Häufigkeit des Repliken-
oder Schauplatzwechsels mit dem anderer Textabschnitte in
einem Drama vergleicht.
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Auf dem
Niveau der Tiefenstruktur nimmt man dagegen die
Häufigkeit der situationsverändernden Sprechhandlungen, die
die Handlung vorantreiben, zum Maßstab.
Wie ein
bestimmter Textabschnitt unter dem Blickwinkel seines Tempos
wirkt, hängt dabei vor allem davon ab, wie die Größen beider
Strukturniveaus miteinander in Beziehung gebracht werden könne.
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Oft
kontrastieren sie miteinander, wenn z. B. in der Szene eine
überaus hohe aktionale Geschäftigkeit herrscht, ohne dass
sich daraus eine Situationsveränderung im Hinblick auf den
weiteren Fortgang der dramatischen Ereignisse ergibt.
Umgekehrt funktioniert diese "Diskrepanz zweier
auseinanderlaufender Tempi" (Pfister
1977, S.380) natürlich auch.
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Der Eindruck
eines hohen Tempos entsteht, wenn "jede der knappen, rasch
aufeinanderfolgenden Repliken eine situationsverändernde
Sprechhandlung darstellt" und "jeder rasche Positions-,
Gruppierungs- und Konfigurationswechsel die Geschichte
voran. und damit final-päzipitierend auf ihre Ende
"zutreibt. (ebd.)
In diesem Sinne sind, salopp gesagt, viele klassische Dramen
mit ihrer raum-zeitlichen Geschlossenheit (Einheit der Zeit
und Einheit des Orts) eher temporeich, Dramen mit einer
offeneren Zeitstruktur damit verglichen also "langsamer".
Tempovariationen rhythmisieren den Text und erzeugen Spannung
Die Vorstellung, dass das Tempo in einem Drama wie von einem
Tempomat geregelt immer gleich bliebe, ist natürlich abwegig.
Wie in realen Kommunikationssituationen verändern sich die
Redeanteile der Figuren, aus einem ruhig und sachlich
verlaufenden Gespräch, kann plötzlich ein handfester Streit
werden, lange Repliken der Figuren werden dann z. B. zu
Stichomythien, aus länger anhaltenden statisch wirkenden
Konfigurationen kann auch innerhalb einer Szene hektischer
Trubel werden, Szenen, in den zunächst aktional "viel los" ist,
können am Ende in eine Situation führen, in der Reflexionen
dominieren.
Zuguterletzt können Tempovariationen mit Beschleunigungen und
Verzögerungen der dramatischen Geschwindigkeit auch dazu
dienen, Spannung zu erzeugen. (vgl.
Pfister
1977, S.381).
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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