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Ein Beispiel für die Ich-Erzählsituation
Streng genommen ist
»Jakob Christoph (Christoffel) von
Grimmelshausens (1622-1676) Roman ▪
Simpicissismus
Teutsch (1669) keine Autobiografie, besitzt aber, darüber ist
man sich einig, zahlreiche autobiografische Züge. Die erzählte Lebensgeschichte der Titelfigur ist angereichert mit
frei erfundenen Passagen und der Ausgestaltung zahlreicher
literarischer Motive. Außerdem sind zahlreiche Märchen, Mythen und
Schwänke in die Romanhandlung eingegangen. Was ihn aber darüber in
besonderem Maße auszeichnet ist die überaus realistische Darstellung
der Lebensverhältnisse im frühen 17. Jahrhundert und der Gräuel des
▪
Dreißigjährigen Krieges (1618-1648).
Das erste Kapitel Simplex1 erzählet sein bäurisch Herkommen, Was er vor Sitten hab an sich genommen.
Es eröffnet sich zu dieser unserer Zeit (von welcher man glaubet, daß es die letzte sei)
unter geringen Leuten eine
Sucht, in deren
die Patienten, wann sie daran krank liegen und so viel
zusammengeraspelt2 und erschachert haben, daß sie neben ein paar
Kellern im Beutel
ein närrisches Kleid auf die neue Mode mit
tausenderlei seidenen Bändern antragen können oder sonst etwan durch
Glücksfall mannhaft und bekannt worden,
gleich rittermäßige Herren
und adlige Personen von uraltem Geschlecht sein wollen; da sich doch
oft befindet und
auf fleißiges Nachforschen nichts anders
herauskommt, als daß ihre Voreltern Schornsteinfeger,
Taglöhner, Karchelzieher3 und Lastträger, ihre Vettern Eseltreiber,
Taschenspieler, Gaukler4 und
Seiltänzer, ihre Brüder Büttel5 und
Schergen6, ihre Schwestern Nähterin,
Wäscherin, Besenbinderinnen oder
wohl gar Huren, ihre Mütter
Kupplerinnen7 oder gar
Hexen, und in
Summa8 ihr ganzes Geschlecht von allen
32 Anichen9 her also besudelt
und befleckt gewesen, als des Zuckerbastels Zunft10 zu
Prag immer sein
mögen; ja sie, diese neue Nobilisten11, seind oft selbest
so schwarz,
als wann sie in Guinea geboren12 und erzogen wären worden.
Solchen närrischen Leuten nun mag ich mich nicht gleichstellen,
obzwar, die Wahrheit zu bekennen, nicht ohn ist, daß ich mir oft
eingebildet, ich müßte
ohnfehlbar anch von einem großen Herrn oder
wenigst einem gemeinen Edelmann meinen Ursprung haben, weil ich von
Natur geneigt, das Junkernhandwerk13 zu treiben, wann ich nur den
Verlag und den Werkzeug darzu hätte. Zwar ungescherzt,
mein
Herkommen und Auferziehung läßt sich noch wohl mit eines Fürsten
vergleichen, wann man nur den großen Unterscheid nicht ansehen
wollte. Was? Mein Knän14 (dann also nennet man die
Bätter15 im
Spessert16)
hatte einen eignen Palast, sowohl als ein andrer, ja so artlich,
dergleichen ein jeder König, er mag auch
mächtiger als der große
Alexander17 selbst sein, mit eignen Händen zu bauen nicht vermag,
sondern solches in Ewigkeit wohl unterwegen lassen wird; er war mit
Laimen18 gemalet, und anstatt des unfruchtbarn Schiefers, kalten
Bleies und roten Kupfers mit Stroh bedeckt, darauf das edel
Getraid19
wächst, und damit er, mein Knän, mit seinem hochgeachteten, und
von
Adam selbst herstammenden Adel und Reichtum recht
prangen20 möchte,
ließ er die Maur um sein Schloß nicht mit Maursteinen, die man am
Weg findet oder an unfruchtbaren Orten aus der Erde gräbet, viel
weniger mit liederlichen gebackenen Steinen, die in geringer Zeit
verfertigt und gebrennt werden können, wie andere große Herren zu
tun Pflegen, aufführen, sondern er nahm Eichenholz darzu, welcher
nützliche edle Baum, als worauf Bratwürste und fette
Schunken21
wachsen, bis zu seinem vollständigen Alter über 100 Jahre erfodert.
Wo ist ein Monarch, der ihm dergleichen nachtut? Wo ist ein
Potentat, der ein Gleiches ins Werk zu richten begehret? Seine
Zimmer, Säl und Gemächer hatte er inwendig vom Rauch ganz
erschwärzen lassen, nur darum, dieweil dies
die beständigste Farbe
von der Welt ist, und dergleichen Gemäld bis zu seiner Perfektion
mehr Zeit brauchet, als ein kunstlicher Maler zu seinen
trefflichsten Kunststücken erheischet. Die Tapezereien22 waren das
zärteste Geweb auf dem ganzen Erdboden, dann diejenige machte uns
solche, die sich vor alters vermaß, mit der Minerva23 selbst um die
Wette zu spinnen. Seine Fenster waren keiner andern Ursach halber
dem Sant Nitglas24 gewidmet, als darum, dieweil er wußte, daß ein
solches, vom Hanf oder Flachssamen an zu rechnen, bis es zu seiner
vollkommenen Verfertigung gelanget, weit mehrere Zeit und Arbeit
kostet, als das beste und durchsichtigste Glas von Muran25; dann sein
Stand machte ihm ein Belieben zu glauben, daß alles dasjenige, was
durch viel Mühe zuwege gebracht würde, auch eben darumb höchst
schätzbar und desto köstlicher sei; was aber köstlich sei, das sei
auch dem Adel am anständigsten und stimme mit demselben am
allerbesten überein. Anstatt der
Pagen, Lakaien und Stallknechte
hatte er Schaf, Böcke und Säu, jedes fein ordentlich in seine
natürliche Liberei26 gekleidet, welche mir auch oft auf der Weid
aufgewartet, bis ich, ihres Dienstes ermüdet, sie von mir gejaget
und heimgetrieben. Die Rüst- oder Harnischkammer27 war mit Pflügen,
Kärsten, Äxten, Hauen, Schauflen, Mist- und Heugabeln genungsam und
auf das beste und zierlichste versehen,
mit welchen Waffen er sich
täglich übete. Dann hacken und Reuten28 war seine
disciplina militaris29,
wie bei den alten Römern zu Friedenszeiten;
Ochsen anspannen war
sein hauptmannschaftliches Kommando, Mist ausführen sein
Fortifikationwesen30, und
Ackern sein Feldzug,
Holzhacken war sein
tägliches exercitium corporis31, wie auch das
Stallausmisten seine
adlige Kurzweile und Türniernspiel32. Hiermit bestritte er die ganze
Weltkugel, soweit er reichen konnte, und jagte ihr damit alle Ernden
eine reiche Beute ab. Dieses alles setze ich hindan und
überhebe
mich dessen ganz nicht, damit niemand Ursache habe,
mich mit andern
meinesgleichen neuen Nobilisten auszulachen; dann
ich schätze mich
nicht besser, als mein Knän war, welcher diese seine Wohnung an
einem sehr lustigen Ort, nämlich im Spessert (allwo die Wölfe
einander Gute Nacht geben) liegen hatte. Daß ich aber nichts
Ausführliches von meines Knäns Geschlecht, Stamm und Namen vor
diesmal doziert, beschiehet um geliebter Kürze willen; vornehmlich
weil es ohne das allhier um keine adelige Stiftung zu tun ist, da
ich soll auf schwören;
genug ist es, wann man weiß, daß ich im
Spessert geboren bin. Gleichwie nun aber
meines Knäns Hauswesen in allen Stücken sehr
adelig vermerkt wird, also kann ein jeder Verständiger auch leichtlich schließen, daß meine Auferziehung derselben gemäß und
ähnlich gewesen, und wer solches darvorhält, findet sich auch nicht
betrogen; dann in meinem zehenjährigen Alter
hatte ich schon die principia33 in
obgemeldten
meines Knäns adeligen Exerzitien34 begriffen,
aber der Studien halber konnte ich neben dem berühmten Amphistidi35
hin passieren, von welchem Suidas36 meldet, daß er nicht über fünf
zählen konnte; dann
mein Knän hatte vielleicht einen viel zu hohen
Geist und folgete dahero dem gewöhnlichen Gebrauch jetziger Zeit, in
welcher
viel vornehme Leute mit Studieren oder, wie sie es nennen,
mit Schulpossen sich nicht viel zu bekümmern pflegen, weil sie ihre
Leute haben, der Plackscheißerei37 abzuwarten. Sonst war ich ein
trefflicher Musikus auf der
Sackpfeife38, mit deren ich schöne
Jalemigesänge39 machen konnte, auch darinnen dem vortrefflichen
Orpheus40 nichts nachgab, also, daß wie dieser auf der
Harpfe41, so ich
auf der Sackpfeife exzellierte42. Aber die
Theologiam43 anbelangend,
lasse ich mich nicht bereden, daß einer meines Alters damals in der
ganzen Christenwelt gewesen sei, der mir darinne hätte gleichen
mögen; dann
ich kannte weder Gott noch Menschen, weder Himmel noch
Hölle, weder Engel noch Teufel und
wußte weder Gutes noch Böses zu
unterscheiden. Dahero unschwer zu gedenken, daß ich vermittelst
solcher Theologiae,
wie unsere erste Eltern im Paradies gelebet, die
in ihrer Unschuld von Krankheit, Tod und Sterben, weniger von der
Auferstehung, nichts gewußt. O edels Leben! (du mögst wohl
Eselsleben sagen) in welchem man sich auch nichts umb die
Medizin
bekümmert. Eben auf diesen Schlag kann man meine vortreffliche
Erfahrenheit in dem studio legum44 und allen anderen Künsten und
Wissenschaften, soviel in der Welt sein, auch verstehen. Ja
ich war
so perfekt und vollkommen in der Unwissenheit, daß mir
unmüglich
war, zu wissen, daß ich so gar nichts wußte. Ich sage noch einmal: O edeles Leben, das ich damals führete! Aber mein Knän wollte mich
solche Glückseligkeit nicht länger genießen lassen, sondern schätzte
billig sein, daß ich meiner adeligen Geburt gemäß auch adelig tun
und leben sollte; derowegen
fieng er an, mich zu höhern Dingen
anzuziehen und mir schwerere Lectiones aufzugeben.45
Nach dem Erstdruck von 1668, samt der ›Continuatio‹
von 1669 in: Grimmelshausens Werke in vier Teilen. Band 1, Berlin,
Leipzig, Wien, Stuttgart o.J. [1921], S. 8-12. (Quelle:
http://www.zeno.org/nid/20004911814, gemeinfrei)
Worterklärungen
1
Simplex: Titelfigur = Simplicius (Simplicissimus)
2 zusammengeraspelt: zerkleinert
3
Karchelzieher: Lastträger mit Handwagen
4 Gaukler:
Schausteller, Taschenspieler, Zauberkünstler
5 Büttel:
Gerichtsdiener
6
Schergen: oft ein "Henkersknecht", Büttel, käuflicher Verräter oder
generell eine Person, die einem Schurken dienstbar ist und seine Befehle
ausführt, bezeichnet
7
Kupplerinnnen: Frauen, die Kuppelei als
die die vorsätzliche Vermittlung und Beförderung der Unzucht
betreiben; da sich Kuppelei speziell auf Anbefohlene (Kinder, Mündel
u. ä.) bezieht, umfasst der Begriff auch die Heiratsvermittlung
Minderjähriger; wird für Kuppelei bezahlt, dann gehört sie zur
»Prostitution.
8
in Summa: lat. hier i. S. v. alles zusammen
genommen
9
32 Anichen: statt der gewöhnlichen Ahnen, 32 ausdrücklich
verzeichnete Ahnen
10
Zuckerbastels Zunft in Prag:
Diebe- und Räubergenossenschaft (Räuberzunft), auch Zuckerbastei
genannt, in Prag, dessen Chef ein Mann ist, der »Zuckerbastel«
genannt wurde.
11
neue Nobilisten: Angehörige des
Bürgertums, die aus verschiedenen Gründen, geadelt (nobilitiert)
werden, und damit im Gegensatz zum Erbadel den sogenannten Amtsadel
bilden
12
so schwarz,
als wann sie in Guinea geboren: die Entdeckungsreisen
insbesondere der Portugiesen entlang der westafrikanischen Küste
brachte die europäische Kultur in Kontakt mit den dortigen Stämmen
und Kulturen; daher sind deportierte Schwarze in Portugal schon im
15. Jahrhundert keine Seltenheit mehr; in Mitteleuropa hat man aber
schwarzhäutige Menschen bis weit zum Ende des 18. Jahrhunderts kaum
zu Gesicht bekommen (vgl.
Bitterli 1970,
Bitterli 1976, S.180-203)
13
Junkernhandwerk: mit Junker sind hier
wohl allgemein die Söhne des Adels gemeint
14
Knän: Vater
15
Bätter: Väter
16
Spessert: »Spessart
= Mittelgebirge zwischen »Vogelsberg,
»Rhön
und »Odenwald in Bayern und Hessen
17
große Alexander:
»Alexander
der Große (356-323 v. Chr.), der
ein Weltreich beherrschte
18
Laimen: Lehm
19
Getraid: Getreide, Korn, Weizen
20
prangen: h. i. S. von Eindruck machen
21
Schunken: Schinken
22
Tapezereien: Tapeten
23
Minerva: römische Göttin, die insbesondere
von den Sabinern, Etruskern und Latinern verehrt wurde; sie wurde
bei den Römern vor allem als Beschützerin der Handwerker und des
Gewerbes angesehen.
24
Sant Nitglas: im Christentum: Heiliger
St. Nikolaus; gemeint ist: »Nikolaus
von Myra (um 270 bis ca. 365 n. Chr.)
25
Glas von Muran: Muranoglas ist Glas
aus Murano, einer kleinen Insel in der Lagune von Venedig, wo die
Kunst der Glasherstellung besonders ausgeprägt war;
26
Liberei: h: Dienstkleidung, Bedientenkleidung
mit Abzeichen; franz. livrée
27
Harnischkammer: Kammer zur
Aufbewahrung des Harnischs, der gesamten kriegerischen Ausrüstung
eines (adeligen) Mannes
28
Reuten: reiten
29
disciplina militaris: lat. h:
militärische Ausbildung bzw. Disziplin, Beruf
30
Fortifikationwesen:
Befestigungskunst, Kriegsbaukunst
31
exercitium corporis: lat.
tägliche Übung zur Körperertüchtigung
32
Türniernspiel: Turnierspiel
33
principia: lat. Prinzipien, Grundsätze
34
Exerzitien: Übungen
35
Amphistidi: Amphistides wegen seiner
Dummheit berühmt und als Figur in der Komödie benutz
36
Suidas: soll seine eigene Frau nicht berührt
haben, weil er fürchtete sie werde ihn bei seiner Mutter dafür
anklagen; außerdem habe er nicht gewusst, wer von seinen beiden
Eltern in geboren hatte
37
Plackscheißerei: von Black, nd.
Tinte, Schreiberei, Pedantismus
38
Sackpfeife:
»Dudelsack,
Holzblasinstrument aus einem Luftschlauch und einer daran
befestigten Pfeife bestehend, das in dieser Zeit besonders gerne in
bäuerlichen Kreisen gespielt wurde
39
Jalemigesänge: Klagelied
40
Orpheus: »Oprheus
Sänger und Dichter in der gr. Mythologie
41
Harpfe: »Harfe,
Lyra
42
exzellierte: sich hervortun
43
Theologiam: lat. h: in theologischen
Dingen, Glaubensfragen
44
studio legum: lat. Studium / Kenntnis
der Gesetze
45
lectiones: Lektionen, Aufgaben
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
26.05.2022
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