Das Ich in der Erzählung als Erzähler und Handlungsfigur
Die Ich-Erzählsituation
(Ich-Erzählperspektive, Ich-Erzählhaltung) in Form einer Ich-Erzählung
setzt voraus, dass die verwendete Erste Person der Grammatik den
Erzähler selbst und eine mit ihm identische Handlungsfigur
bezeichnet: "Der Erzähler steht quasi mit auf der Bühne." (Bode
2005, S.148)
Der Ich-Erzähler muss aber nicht unbedingt Hauptfigur sein. (vgl.
Vogt
1990, S.66) Ein fiktiver, aber leibhaftiger Erzähler erzählt ("berichtet")
über seine vorgebliche Vergangenheit. (▪
FAQ
6) Damit tritt das Ich in der Ich-Erzählung, so
Bode
(2005, S.153) "doppelt auf: als Erzähler seiner
Geschichte 'jetzt' und als Figur seiner Geschichte 'damals'".
Aus der Tatsache, dass Ich-Erzähler die erzählte
Geschichte aus der Retrospektive
erzählt, ergibt sich auch eine
zweipolige Ich-ich-Struktur.
Diese zweipolige Ich-ich-Struktur ist das grundlegende Strukturelement
der Ich-Erzählung.
Das bedeutet, das erzählende Ich tritt nicht nur als das auf, das
sich an Vergangenes von einem späteren Zeitpunkt aus erinnert,
sondern auch als Ich, das mittendrin im erzählten Geschehen handelt.
Beide Ichs kann man daher als
unterschiedliche
Ich-Instanzen voneinander unterscheiden.
Diese in-persona-Identität von
erzählendem und erlebendem Ich (Stanzel) kann dabei unterschiedlich
gestaltet sein und dementsprechend unterschiedliche Wirkungen haben.
Aus ihrer grundsätzlichen Spannung entstehen oft Gegensätze,
Kontraste bis hin zu parodierenden Wirkungen, wenn das erzählende Ich
in der Rückschau auf sein Treiben als erlebendes Ich sieht und
dieses in irgendeiner Weise kommentiert.

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Die erzählerischen Konsequenzen der Aufspaltung des Ichs
Die Aufspaltung des Ichs bringt die beiden Pole in ein
Spannungsverhältnis zueinander. Dieses ergibt sich prinzipiell dadurch,
dass eine zeitliche Distanz zwischen dem erzählenden und dem erlebenden
Ich liegt.
Dabei geht es dabei weniger um das grundsätzliche Problem, dass sich
daraus - wie im richtigen Leben auch - Erinnerungslücken ergeben können.
Ob es solche in der Erzählung gibt oder nicht, liegt ja in der Hand des
Autors, der das erzählende Ich mit Gedächtnislücken ausstatten kann oder
eben nicht. Das erzählende Ich hat also auch die Freiheit, "Dialoge, die
sich vor Jahrzehnten in etwa so zugetragen haben, wortwörtlich
wiederzugeben - eine Fälschung, strenggenommen" (Bode
2005, S.153).
Für die Ich-Erzählung wichtiger ist hingegen, dass das
erzählende
Ich immer mehr weiß als das
erlebende Ich,
" denn es weiß immer, was dann geschah wie es ausging (solange es
sagen kann: Das ist nun vorbei und abgeschlosssen)." (ebd.
S.153f.) Dieses Mehrwissen, über das das erzählende Ich verfügt,
bringt den Erzähler damit in das "Dilemma", entweder sein Wissen, über
das, was geschehen ist, (zügig) offenzulegen oder eben nicht. Tut er es,
dann geht natürlich der "Echtheitsausdruck seiner Erzählung des
Vergangenen" (ebd.
S.154) verloren. Tut er es nicht, "dann stellt (er) sich
systematisch und konsequent dümmer als er eigentlich ist" (ebd.)
Dieses Dilemma führt daher auch zu "zwei recht verschiedenen Typen
von Ich-Erzählung": In der einen liegt der Schwerpunkt beim erzählenden
Ich, in der 'Gegenwart', beim Akt des Erzählens und der Arbeit des
Erinnerns und Entäußerns; in der anderen beim erlebenden Ich, in der
'Vergangenheit', beim Erzählten und Erinnerten." (ebd.)
Stanzel (1964/1979, S. 37) spricht in diesem Zusammenhang von "zwei
Variationsrichtungen [...], von denen die eine zum Typus des auktorialen
Romans, die andere zum Typus des personalen Romans hinweist." (Stanzel
1964/1979, S.37)
-
Bei der zu
personalem
Erzählen tendierenden Variante der Ich-Erzählsituation rückt das ▪ erlebende Ich ganz in die Mitte der Darstellung
und zugleich tritt damit "das Interesse am Geschehen selbst, am spannenden
Ablauf der Handlung und an der Fülle und Echtheit der Charakterportraits in
den Vordergrund".
Damit eröffnet sich aber auch die Möglichkeit, die "Innenwelt, Bewusstseinsabläufe, Gedanken,
Stimmungen der Ich-Figur im Augenblick seines Erlebnisses" (ebd.,
S. 37f.) darzustellen.
Insgesamt ist freilich festzuhalten, dass
diese Variationsrichtung der Ich-Erzählung im Allgemeinen "nur in kürzeren Stücken"
eines Erzähltextes konsequent gestaltet wird. (ebd.)
-
Die zu
auktorialem Erzählen tendierende Variante zeichnet sich hingegen durch das "Hervorkehren des Problems der geistigen
Bewältigung der Geschichte, der Reflexion, der essayistischen Abhandlung
darüber" aus, wie es allgemein für alles auktoriale Erzählen
typisch ist. (ebd.)
Auf die "Beziehung" zwischen den Ichs kommt es an
Entscheidend für die Gestaltung und Wirkung dieser Erzählsituation
ist die Beziehung, die zwischen beiden Polen des aufgespaltenen Ichs
besteht.
-
So kann sich das
erzählende Ich wie ein quasi allwissender (auktorialer)
Ich-Erzähler stets in den Vordergrund stellen und alles so
darstellen und kommentieren, wie ihm das aus seiner
Erzählergegenwart erscheint. In diesem Fall beansprucht das
erzählende Ich stets die Rolle einer Figur, die über das
vergangene, aber auch gegenwärtige Geschehen reflektiert
(Reflektorrolle) und dadurch eine prinzipiell kritische Stellung
einnimmt.
-
Das erzählende
Ich (sich erinnernde Ich) kann aber auch das erlebende Ich
(erinnerte Ich) so zu Wort kommen lassen, wie dieses das
Geschehen zu diesem vergangenen Zeitpunkt erlebt oder
kommentiert hat. Und schließlich kann die Beziehung zwischen
beiden Erzähler-Ichs auch tendenziell so ausfallen, dass sich
ihre beiden Sichtweisen und Standpunkte annähern.
Der Ich-Erzähler kennt nur die Innensicht der eigenen Figur
Das Blickfeld des Ich-Erzählers ist auf die
Innensicht
der eigenen Figur beschränkt, d. h. er kann nicht nur von seinen
eigenen Gedanken, Gefühlen usw. erzählen und nicht wie der auktoriale
Erzähler in der ▪ auktorialen Erzählsituation das Innere sämtlicher Figuren hineinsehen. Von den
anderen Figuren kann er also nur in
Außensicht
erzählen.
Wer "Ich" sagt, ist nicht immer ein Ich-Erzähler
In den meisten Fällen, in denen sich der Erzähler als ein "Ich" zu
Wort meldet, ist wohl davon auszugehen, dass es sich auch um eine
Ich-Erzählung handelt, von der gesprochen wird, "wenn die Erste Person
der Grammatik den Erzähler und eine mit ihm identische Handlungsfigur
[...] bezeichnet. (Vogt
2014, S.68)
Es
gibt allerdings auch immer wieder Fälle, wie z. B. in »Thomas
Manns (1875-1955) Roman »Der
Zauberberg
(1924) oder in »Miguel
de Cervantes' (1547-1616) »Don
Quijote, bei denen sich ein Erzähler mit Ich oder Wir
zu Wort meldet, um aber dann doch die Geschichte eines anderen in Form
einer Er/Sie-Erzählung darzubieten. (vgl.
ebd.)
Weitere Merkmale der Ich-Erzählung sind:
-
Der Ich-Erzähler steht - oder stand einstmals - in der von ihm
erzählten Welt (Ggs. Distanz beim auktorialen Erzähler, der
einem anderen (ontologischen) Seinsbereich angehört).
-
Im Vergleich zu anderen Erzählsituationen
(▪ auktorial,
▪ personal,
▪ neutral)
findet eine Verschiebung wichtiger Erzählstrukturen statt (point
of view,
Zeitgestaltung).
-
Starke Eingrenzung des Blickfeldes auf Außensicht bei anderen
Figuren (FAQ), gleichzeitig Möglichkeit zur sehr intensiven
Innensicht des Ich-Erzählers (Annäherung an den
point
of view der
personalen
Erzählperspektive bzw. an den Wirklichkeitsbericht)
-
Anlehnung an nichtfiktionale Gebrauchsformen der Literatur wie die
Autobiographie,
Memoiren,
Tagebuch
oder
Brief
Erzählsituationen können
sich auch innerhalb eines Textes ändern
Ein literarischer Text
muss keineswegs das Erzählte nur aus einer Erzählsituation
darbieten, auch wenn viele Texte das tun. In der modernen Literatur
werden die Erzählperspektiven aber auch häufig innerhalb ein und
desselben Textes geändert. Daher lassen sich bestimmte
Erzählperspektiven oft unbedingt zur Charakterisierung eines gesamten
Werkes oder auch nur eines größeren Abschnitts heranziehen, "sondern
lediglich zur Klassifizierung kleinerer Erzähleinheiten" (Vogt
1990, S. 52)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
18.10.2022
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