In Kafkas Parabeln
verweisen raum-zeitliche Angaben in der Regel nicht über den Text
hinaus, schon gar nicht so, dass sie außertextlich konkretisiert werden
könnten. Raumangaben sind im Rahmen des Textes nur topografisch und
ansonsten, wie die Zeitangaben auch, symbolisch bzw.
allegorisch zu
verstehen.
Die Handlung spielt sich
hauptsächlich in drei bzw. vier verschiedenen Räumen ab, die jeweils eine spezifische
Bedeutung haben:
Auf dem Weg nach Hause kommen der Ich-Erzähler und seine
Schwester auf der Landstraße an einem vor dem Dorf gelegenen Hof
vorbei, dessen Zugang von einem Hoftor versperrt ist. Gegen dieses
Hoftor schlägt - vielleicht oder vielleicht auch nicht - die
Schwester im Vorübergehen und löst damit die nachfolgende
Entwicklung aus. Der Hof selbst wird nur mit diesem Hoftor
beschrieben und auch später als die bewaffneten Reiter hinein- und
innerhalb kürzester Zeit wieder in Richtung auf das Dort
hinaussprengen, nicht weiter beschrieben. Lediglich die Tatsache,
dass die Dorfbewohner völlig verängstigt auf den Hof zeigen, als sie
den Ich-Erzähler und seine Schwester an den Schlag an das Hoftor
erinnern und ihnen ankündigen, dass die Hofbesitzer die beiden
verklagen, macht die soziale Funktion dieses Hofs deutlich. Er
verdeutlicht die soziale Abhängigkeit des Dorfes, wenn nicht sogar
die Hörigkeit seiner Bewohner "von einer Instanz, die in räumlicher
Nachbarschaft zum Dorf liegt" (Küpper
1984, S.24) Wer von dort kommt, hier sind es Reiter, ist mit
Pferd und Lanzen ausgestattet und verfügt damit über Mittel,
hoheitliche Macht und Gewalt auszuüben oder setzt wie der Richter
und sein Gehilfe Assmann qua Amt die Interessen der "Hofbesitzer"
durch. Der Hof wird damit zu einem Symbol einer nicht zu
hinterfragenden Macht.
Als sie das fremde Dorf
noch auf der Straße erreichen, scheinen sie sich allerdings plötzlich "in
der Fremde aufzuhalten oder verirrt zu haben. Metaphorisch gesprochen
befinden sie sich in einem Gebiet der Angst, denn die Dorfbewohner sind alle
»gebückt
vor Schrecken«" (Dieterle
2010, S.276) und verhalten sich auf der
Dorfstraße auch sonst entsprechend. Dieses Gebiet der Angst, das die
Atmosphäre, die von dem Raum ausgeht, grundlegend verändert, steht in einem
•
Kontrastverhältnis
zu dem Raum vor dem Erreichen des Orts und verleiht ihm eine besondere
•
Stimmung, macht
aber zugleich darauf aufmerksam, dass dieser und die anderen Räume als
•
Symbolraum
in einer albtraumartigen Schilderung darstellen.
Kurz nach seiner Ankunft im
Dort - der Ich-Erzähler hat seine Schwester vorsorglich vor dem Eintreffen
der Reiter weggeschickt - wird der Ich-Erzähler einem Richter und seinem
Gehilfen Aßmann vorgeführt, die in einer
Bauernstube die Untersuchung gegen ihn eröffnen. Die Bauernstube
steht in eindeutigem Kontrast zur Landstraße und der Dorfstraße, auf der
sich das Geschehen in der Öffentlichkeit abspielt. Die Bauernstube ist
hingegen ein geschlossener dunkler Raum mit großen Steinfliesen, einer ganz
kahlen Wand, einem eisernen Ring und, so kommt es dem Erzähler vor, "in
der Mitte etwas, das halb Pritsche, halb Operationstisch war".
Das Inventar der Bauernstube und die Atmosphäre, die von ihr ausgeht, werden
in der Perspektive des Ich-Erzählers auf diese Weise eher zu einer "Gefängniszelle"
als zu einer kärglich eingerichteten Bauernstube.
(•
Perspektivraum)
Die Bauernstube, der ohnehin jede Behaglichkeit abgeht, wird damit
zum Ort der Anklage, des Verhörs und der angedrohten Strafe, der sich der
Ich-Erzähler, wie er andeutungsweise realisiert, wohl nicht mehr entziehen
kann.
In diesem Raum werden alle Erwartungen und Schemata, mit denen das
Erzähler-Ich auf die sich nach und nach immer bedrückender werdende
Situation reagiert hat, ad Absurdum geführt. Statt in eigener Verantwortung
einem Ziel zuzustreben, wie es die Eingangssituation auf dem Nachhauseweg
signalisiert, steht der Ich-Erzähler nun vor einer ausweglosen Situation,
die er in keiner Weise mehr selbst steuern kann. Die Bauernstube wird damit
zum Symbol dieses Kontrollverlusts.
Insgesamt gesehen folgt die
Raumgestaltung einer "Traumlogik des Unbewussten" (Sudau
2021, S.102) die das "zufällige und doch schicksalhaft wirkende
Herausfallen des Menschen aus seiner gesicherten Ordnung" (ebd.),
wie sie der eingangs geschilderte Handlungsraum darstellt, hin zu einem Raum
der nur noch der verzerrten Wahrnehmung und inneren Verfasstheit des
Erzähler-Ichs zu entsprechen scheint, der aus ihm und seinen Elementen die
Sicherheit der Vernichtung der eigenen Existenz abliest.
So versinnbildlicht die
Raumgestaltung in der für Kafka immer wieder typischen "Topographie des
Verborgenen", mit der er "das Imaginäre auch im Alltag präsent" hält, in
dieser Parabel einen "Prozeß des Eintretens in eine geheimnisvolle
Raumordnung als Akt der unerlaubten Überschreitung, der am Ende bestraft
wird." (Alt
2005, S.503)
Kein Wunder, dass diese
kurze Erzählung neben ihren Anklängen zu anderen Parabeln wie z. B.
•
In der Strafkolonie oder
auch ▪
Vor dem Gesetz
wie eine Art "Kurzfassung" (Sudau
2021, S.99) seines Roman-Fragments • "Der
Prozess" erscheinen kann.
Ähnlich wie darin wird in
der Parabel Kafkas "aus nichtigem oder gar keinem Anlass (...) eine
Anklage erhoben, die in eine unheilvolle Verstrickung und unentrinnbar in
eine Strafe mündet." (ebd.)
Und ähnlich wie im Roman entsteht auch in der Parabel "ein unheimlicher
Sog", der dem Geschehen nicht allein Traum-, sondern Albtraumcharakter
verleiht: Der banale Weg nach Hause wendet sich zwingend, folgerichtig und
unabwendbar in eine Verurteilung." (Dieterle
2010, S.276)
In Kafkas spezifischen poetologischen
Verfahren, das man auch als • "traumanaloges Dichten"
(Hiebel (2008,
S.457) bezeichnet hat, "(vermischen sich) im Traum (...) also
Inneres und Äußeres, werden die verschiedensten
metaphorischen und
metonymischen Ersetzungen vorgenommen, werden die temporalen und kausalen
Beziehungen umgestellt und purzeln die Einzelheiten - freilich nach einer
bestimmten Gesetzmäßigkeit, einer Traum-Logik - »rhizom«-artig
durcheinander."